Uniformierter in Kampfuniform unter einem Schutzgitter
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Russischer Soldat sucht mit Fernglas den Himmel ab

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"Krise in Armee und Staat": Meuterei unter russischen Soldaten?

Gerade Putins eifrigste Kriegsfanatiker sind außer sich: Sie berichten von einer Rebellion in der 205. Brigade, die mit allen Mitteln unterdrückt wird. Grund für den Aufruhr: Soldaten wurden ohne Artillerie-Unterstützung auf Dnjepr-Inseln geschickt.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Es ist etwas faul im Staate Dänemark", urteilt der im Exil arbeitende Politologe und frühere Kreml-Mitarbeiter Abbas Galljamow angesichts der Flut von Meldungen in russischen Militärblogs, wonach die Behörden mit einer Meuterei in der 205. Brigade an der Dnjepr-Front ringen. Die Lage ist immerhin so ernst, dass sich sogar Wladimir Solowjow einmischte, einer der wichtigsten russischen TV-Propagandisten. Er sendete in seinem Programm ein staatstragendes Video, das von einem angeblichen Soldaten mit dem Kampfnamen "Taschkent" aufgenommen wurde, der sich verbittet, dass Blogger die Arbeit an der Front "stören": "Niemand braucht eure Aufregung, die ihr in den Kommentaren verbreitet. Ihr benehmt euch schlimmer als der Feind. Ihr schadet mehr, als ihr nützt. Wenn ihr irgendwie helfen wollt, kommt in den Graben." Die Kritiker würden die Lage "völlig verzerrt" darstellen, ihnen gehe es nur um die Beschimpfung der Brigadekommandeure.

"Warum ein Unterstand auf einer Lichtung?"

Anlass für den Schlagabtausch, der auch beim amerikanischen "Institute for the Study of War" Thema ist: In mehreren Blogs hatten sich Soldaten beschwert, sie seien ohne ausreichend Munition und Nahrung auf Inseln im Dnjepr-Delta geschickt worden. Wenn sie die Koordinaten feindlicher Ziele durchgegeben hätten, sei keinerlei Reaktion der eigenen Artillerie erfolgt. Stattdessen seien sie von feindlichen Geschützen dezimiert worden. Ihr eigener Kompaniechef Asmanow und ein Feldwebel habe sie in Sicherheit bringen wollen, dafür sei Asmonow als "nervenkrank" in die Psychiatrie eingewiesen worden. Den Ärzten sei "von oben" vermittelt worden, welche Diagnose gewünscht war. Statt die Brigadeleitung zur Verantwortung zu ziehen, die "Angst" gehabt habe, die wirkliche Lage nach oben weiter zu melden, sei es dem Verteidigungsministerium ausschließlich um Vertuschung gegangen. Das alles brachte die Ultrapatrioten zur Weißglut.

Blogger Roman Saponkow zerlegte das Propaganda-Video nach Strich und Faden: "Wir sehen darin geschniegelte Jungs, die in einem Unterstand stehend einen Film drehen. Er ist aus Holz gezimmert, ohne Abdeckung und nicht ausgekleidet. Naja, es gibt eine Art Baldachin wie einen Grillrost. Von einem Hubschrauber aus wird ein solcher Unterstand aus einer Entfernung von einem Kilometer demoliert, es ist sogar unnötig, höher zu fliegen. Und er wurde im freien Gelände eingerichtet, nicht zwischen Baumbestand, unter Büschen. Mitten auf der Wiese. Warum ein Unterstand mitten auf einer Lichtung? Um es dem Feind zu erleichtern, ihn zu sehen?"

"Dann bekomme ich einfach Angst"

Das alles erinnere nicht an die Front, sondern an die "Fenster von Moskau". Das "Lustigste" allerdings sei, dass der Kameramann vor dem Graben stehe: "Weil er am wenigsten Angst hatte? Oder war es nötig, das ganze Gefolge aus dem Unterstand zu entfernen, damit klar wurde, wie 'ernst' alles war?" Zerknirscht fasst Saponkow seine Kritik zusammen: "Im Allgemeinen macht das alles den Eindruck, damit werde nur die Armee diskreditiert. Aber wenn auch nur eine kleine, unbedeutende Wahrscheinlichkeit besteht, dass da was dran ist, bekomme ich einfach Angst."

Eines der größten Militärportale, Rybar mit 1,2 Millionen Abonnenten, hüllt sich seit Tagen in Schweigen, hatte jedoch am 25. August gemeldet: "Fairerweise muss man sagen, dass solche Probleme in Richtung Cherson nicht auf Kommandeure beschränkt sind, von denen einige in den letzten sechs Monaten mehrmals ersetzt wurden. Die Schwierigkeiten liegen oft tiefer." Gründe für den Unmut könnten Munitionsmangel oder die vielen Personalrotationen sein, wohl auch "unrealistische Fristen" zur Erfüllung militärischer Ziele: '"Natürlich kann man den Bloggern die Schuld geben, aber die Tatsache, dass die Meldungen regelmäßig in den Medien auftauchen, deutet darauf hin, dass man es am Dnjepr vorzieht, objektive Probleme mit Begeisterung zu überstrahlen oder sie unter den Teppich zu kehren. Wohin das führt, lässt sich am Beispiel emotionaler Appelle von Soldaten ersehen, oder auch am Dreck, der aus dem Haus fällt."

"Auto rollt nur noch durch eigene Trägheit"

Außer "Rundschreiben" werde im Verteidigungsministerium überhaupt nichts ernst genommen, wütet der Blogger "Visionär" in seinem Kanal: "Das Verteidigungsministerium hat beschlossen, die Öffentlichkeit und die Medien einfach als unwichtig zu ignorieren und sicherzustellen, dass keine Signale von unten, von der Front, den Kreml erreichen, und wenn doch, dann sollen sie keine Folgen haben." Wie von ungefähr hieß es von Putins Regierungssprecher Dmitri Peskow, der Präsident "interessiere sich für alles", für ihn gebe es "keine Kleinigkeiten". Er rede nicht nur mit Generälen, sondern auch direkt mit einfachen Soldaten und unteren Befehlshabern: "Er macht sich ernsthafte Sorgen um unser Militär und bleibt am Puls der Zeit."

Solche Propaganda-Floskeln dürften zumindest den "Visionär" nicht beruhigen. Er schrieb: "Auf jeden Fall ist das Beispiel der 205. Brigade nicht nur ein Weckruf für eine Krise in Armee und Staat. Wenn es so weitergeht wie bisher, stecken wir bereits in einer Situation nach einem Zusammenbruch: Das ursächliche Versagen ist bereits passiert, das Auto hatte schon eine Panne und rollt nur noch durch die eigene Trägheit, allerdings weiß es noch nicht jeder. Doch schon bald wird sich dieser Führungszusammenbruch mit allen katastrophalen Folgen unweigerlich bemerkbar machen. Woran sie sich jedoch offenbar bereits gewöhnt haben."

"Sonst wird es ein Problem geben!"

Auch der zu den Russen übergelaufene ukrainische Propagandist Juri Pololjak ist ähnlich aufgebracht über den "Wahnsinn vor Cherson". Die Armeeführung halte sich an die "schlimmsten Traditionen" des Landes und bestrafe grundsätzlich die Falschen: "Das Problem ist definitiv nicht gelöst." In der Masse der Soldaten sei ein "Brodeln" festzustellen. Im 21. Jahrhundert ließen sich solche Dinge nicht mehr vertuschen: "Nun ja, das Ergebnis ist, dass wir unsere Soldaten auch weiterhin völlig sinnlos und mit fast keinem Ergebnis hierher schicken werden. Es wird viele andere indirekte negative Ergebnisse geben, die den Verlauf des Feldzugs beeinflussen werden. Deshalb beschwöre ich Gott – regeln Sie die Situation ganz normal und nicht so, wie es geschieht. Sonst wird es ein Problem geben!!!!" [vier Ausrufezeichen im Original]

Der Kanal "Die zwei Majore" mit knapp 430.000 Abonnenten räumt ein, dass es "einfacher" sei, einen Telegramm-Blog zu betreiben, "ohne Probleme an der Front zu erwähnen". 90 Prozent der Schwierigkeiten blieben sowieso unausgesprochen: "Es ist seit jeher sinnlos, in der russischen Armee nach einem Schuldigen zu suchen, weshalb kaum noch Hoffnung auf eine Lösung der Probleme besteht. Aus irgendeinem Grund wird Kritik als persönlicher Angriff auf diesen oder jenen Beamten wahrgenommen. Das ist ein grundlegendes Missverständnis unserer Sichtweise." Gleichwohl gehe man den "steinigen Weg", der nicht als "Hype" bezeichnet werden solle.

"Deckmantel des Wortes 'alternativlos'"

Dafür gab es Beifall unter den Nationalisten, davon nicht wenige mit Verbindungen zur "Wagner"-Privatarmee: "Ich stimme voll und ganz mit meinen Kollegen überein, möchte jedoch hinzufügen, dass all diese negativen Faktoren zu einer Erhöhung der Verluste unsererseits führen. Und Schweigen ist ein Verbrechen gegen unsere Soldaten." TV-Propagandist Alexander Sladkow sprach sich angesichts des Skandals selbst Mut zu: "Wir werden trotzdem gewinnen. Es besteht kein Zweifel an der Weiterentwicklung der Intelligenz und der Fähigkeiten unserer Kommandeure. Nun, ich beschwere mich über diejenigen, die einen Soldaten unter dem Deckmantel des Wortes 'alternativlos' opfern, wenn es andere, kreativere und professionellere Handlungsmöglichkeiten gibt."

Wie die regierungsnahen Kriegsfanatiker mit Kritik im Allgemeinen und von der Front im Besonderen umgehen, bewies "Politologe" Sergej Markow: "Die Leute fragen mich, warum wir diejenigen Blogs nicht verbieten, die schmutzige Kommentare beisteuern? An hektischen Tagen mit besonders viel Dreck aus der Ukraine, wie diesen, verbieten wir mehrere Dutzend Kanäle täglich. In einem Jahr kommen da mehr als tausend zusammen. Aber sie krabbeln und klettern wie Kakerlaken, wie Bettwanzen."

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