Passanten vor niedergelegten Blumen
Bildrechte: Ali Cura/Picture Alliance

Trauer um Prigoschin in Moskau

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Ans Kreuz genagelt": Wirbel um Gedicht auf Prigoschins Grab

Die Angehörigen des verstorbenen Kriegsunternehmers wählten das Gedicht "Stillleben" von Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky als Grabdekoration. Darin fragt sich Maria, ob ihr Sohn Jesus tot oder lebendig ist. Die Symbolik ist vielfältig.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

So ziemlich alles ist ungewöhnlich und symbolträchtig an Jewgeni Prigoschins Beerdigung, bis hin zu den Wachmannschaften, die den St. Petersburger Porochow-Friedhof angeblich mit Anti-Drohnenkanonen abriegelten. Militärische Ehren bekam der Söldnerführer keine, die Nachricht von seiner eiligen Bestattung im engsten Familienkreis - es sollen zwanzig bis dreißig Leute anwesend gewesen sein - wurde erst nach Schließung des Friedhofsgeländes um 17.00 Uhr Ortszeit verbreitet. Putins Sprecher Dmitri Peskow hatte bereits zuvor mitgeteilt, dass der Präsident nicht an Prigoschins Beisetzung teilnehmen werde. Der kremlnahe Politologe Sergej Markow schrieb: "Die russischen Behörden zeigten sich in keiner Weise. Prigoschin? Wer ist das?"

"Wie kann ich nach Hause gehen?"

Auf Fotos in Telegramm-Kanälen war zu sehen, dass die Angehörigen des Oligarchen einen Bilderrahmen mit der letzten Strophe von Joseph Brodskys Gedicht "Stillleben" zwischen die Blumen aufs Grab gestellt hatten. Darin fragt die verzweifelte Gottesmutter Maria Jesus, ob dieser "ihr Sohn oder ihr Gott", ob er "tot oder lebendig" sei. Jesus antwortet, "Sohn oder Gott" mache "keinen Unterschied", er gehöre ihr. Es findet sich auch die Zeile: "Sie haben dich ans Kreuz genagelt, wie kann ich nach Hause gehen?"

Seinem Gedicht stellte Brodsky ein Motto aus dem Werk "Die Erde und der Tod" des italienischen Lyrikers Cesare Pavese (1908 - 1950) voran: "Der Tod wird kommen, und er wird deine Augen haben - dieser Tod, der uns tagaus, tagein begleitet, schlaflos, hohl wie langst verjährte Reue..." Verfasst hat Brodsky sein Werk im Juni 1971, ein Jahr vor seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion, aus traurigem persönlichen Anlass: Er wurde in ein St. Petersburger Krankenhaus eingeliefert, die Ärzte vermuteten bei ihm einen bösartigen Tumor.

"Kein Unterschied zwischen Lebenden und Toten"

Die in der Bibel so nicht erwähnte Golgatha-Szene, mit der Brodsky sein Gedicht enden lässt, nämlich mit einem direkten Dialog zwischen Maria und Jesus, wird von russischen Literaturkollegen auch als Gleichnis auf die Leiden Russlands und die gepeinigte Bevölkerung gelesen: "Die Vorstellung, dass eine schlechte Zeit ihre Spuren in den Gesichtern der Landsleute hinterlässt, wurde von russischen Schriftstellern immer wieder geäußert." Beispiele dafür seien Alexander Solschenizyn, Andrej Bitow, Andrej Belyj und Wenedikt Jerofejew.

In russischen Medien wird Brodskys "Stillleben" bereits eifrig interpretiert, wahlweise als Selbstbefragung eines dem Tode Geweihten oder als Trost eines Kranken, der sein Ende als Wiedergeburt erlebt: "Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Toten und Lebenden." Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" ereiferten sich: "Was, jetzt ziehen sie auch noch Brodsky mit rein? Was für ein Abschaum!" Originell war die Meinungsäußerung: "Diejenigen, die nicht das gesamte Werk Brodskys gelesen haben, sollten nicht in Positionen berufen werden, in denen das Schicksal der Menschen von ihnen abhängt. Richter, Sicherheitsbeamte und Staatsanwälte müssten eine Auswahl von 25 seiner Gedichte auswendig können."

"Wir werden alle zur Hölle fahren"

Nationalistische Literaturfreunde verwiesen darauf, dass Brodsky auch mal eine beklemmende Eloge auf Stalins berühmtesten Marschall Georgi Schukow (1896 - 1974) geschrieben hat, den Eroberer von Berlin. Der Feldherr war nach dem Krieg vom eifersüchtigen Stalin wegen angeblicher "Plünderung" belangt und in den Ural verbannt worden. Dazu hieß es bei Brodsky, in eine fremde Hauptstadt (Berlin) sei Schukow "mutig" eingezogen, in die eigene (Moskau) dagegen "voller Angst" zurückgekehrt. Er habe seine letzten Jahre "taub und in Ungnade" verbringen müssen. Das münzen belesene Beobachter auch auf Prigoschin, der sich selbst über den Tod übrigens immer wieder sarkastisch äußerte: "Wir werden alle zur Hölle fahren, aber dort werden wir die Besten sein."

Brodsky schmähte die Ukraine

Joseph Brodsky (1940 - 1996), der Literaturnobelpreisträger von 1987, war nach Einschätzung des Lyrik-Fachmanns Hans Christoph Buch ein "großer Dichter, aber kein großer Demokrat". In einem Beitrag für die "Neue Zürcher Zeitung" vom Mai letzten Jahres analysierte Buch, der Dichter habe in "imperialen Kategorien" gedacht und in einem bösartigen, mit Schimpfwörtern angereicherten Spottgedicht die Unabhängigkeit der Ukraine geschmäht: "Populismus und Chauvinismus sind die richtigen Worte dafür!" Allerdings habe der nach seiner Rückkehr nach Russland zunehmend nationalistische Brodsky das Werk zwar öffentlich rezitiert, aus "ästhetischen" Gründen aber nicht in seine Bücher aufgenommen, es sei ihm dann doch zu "vulgär" gewesen. Gleichwohl wurde der Text 2014, nach der Annexion der Krim, vom Putin-Regime aus propagandistischen Gründen zum "Gedicht des Jahres" gewählt.

Erde an "Unfallstelle" wurde abgetragen

Letztlich wird Söldnerchef Prigoschin durch den "Stillleben"-Text zum Märtyrer stilisiert, eine weltliche "Seligsprechung", die seine nationalistischen Anhänger seit seinem Tod energisch vorantreiben, ähnlich wie die Mär, er könne doch noch am leben sein. Sie verbreiten zum Beispiel "letzte" Fotos des Verstorbenen, auf denen er als "Heiland" umringt von afrikanischen Kindern zu sehen ist. Gern wird auch die Anekdote erwähnt, wonach er einen schwer krebskranken russischen Journalisten auf eigene Kosten und Risiko aus dem umkämpften Kabul ausfliegen ließ. Nicht nur Politologe Markow erkannte in den Anhängern des Oligarchen ein erhebliches "Protestpotential".

Überall in Russland wird Prigoschin mit spontan eingerichteten Gedenkstätten geehrt, an denen Blumen und Bilder abgelegt werden. Die Behörden hatten zunächst versucht, sie zu beseitigen, doch Prigoschin-Fans errichteten sie in Windeseile neu. Bezeichnend ist auch, dass die Erde an der Stelle, an der Prigoschins Privatjet aufschlug, von den Sicherheitsbehörden abgetragen und entsorgt wurde, um jede Spur des "Unglücks" zu beseitigen. Das wirkt alles so, als ob zwei Glaubensrichtungen im Wettstreit liegen, in diesem Fall die "Kriegspartei", die Russland weiter für den Sieg im Angriffskrieg mobilisieren will, wie es auch Prigoschin forderte, und die pragmatischer denkende Bürokratie, bis hinauf zum Verteidigungsministerium und dem Kreml, die vor allem um ihre eigene Macht besorgt ist.

"Versuch, eine zerbrochene Vase zu entsorgen"

Ungeachtet der weihevollen Worte aus dem rechtsextremistischen Lager gibt es allerdings auch Spötter: "Bei der Beerdigung wurde der Verstorbene so gelobt, dass die Witwe zweimal an den Sarg herantrat, um zu sehen, wer dort lag", hieß es in einem Leserforum. Der Politologe Dmitri Olschanksy schrieb, es gebe zwei Gründe, wegen denen Prigoschin das Zeug zum posthumen Volkshelden habe. Er habe als Kriegsunternehmer auf eine Auslese der Besten gesetzt und stets profitiert: "Das Zweite und Wichtigste, das ihn für die Zivilbevölkerung zu einem Star machte, waren seine Emotionen. Russland war furchtbar bedürftig nach der persönlichen Beteiligung einer Person mit Geld und Stellung an allgemeinen Problemen."

"Wagner"-Truppen-Bewunderer Roman Aljechin raunte: "Wenn Sie versuchen, eine große zerbrochene Vase zu entsorgen und sie dabei noch weiter zerbrechen, führt das dazu, dass sich noch mehr Splitter in Ihre Beine graben. Sollte das alles kein listiger Plan der Strategen sein, wird es nicht mehr möglich sein, die Gesellschaft wieder zusammen zu kitten, und Versuche, weiter auf die Splitter einzuschlagen, werden zu noch größerem Unbehagen führen."

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!