Der Rote Platz in Moskau
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"Das Land, das ich liebe": Der Krieg ist in Russland immer da

In ihrem Buch "Das Land, das ich liebe" beschreibt die russische Journalistin Jelena Kostjutschenko, wie das Land nach und nach auf den Krieg zugerollt ist. Die Autorin sagt: "Ich wollte verstehen, wie Russland faschistisch werden konnte."

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Der Krieg ist in Russland immer Gegenwart. Jelena Kostjutschenko zeigt eindrucksvoll, wie er alle Bereiche des Lebens durchdringt, er ist immer da, als Spiel, als heroische Erzählung, als Klage und Erinnerung, als vermeintliche Gefahr, künstlerische Darstellung und als Nachricht. Krieg ist das Herzstück des Putin-Regimes, der Glutkern, der je nach Bedarf angefacht wird.

Ich bin zwölf und denke mir: Was, wenn es wieder Krieg gibt? Wenn unser Land angegriffen wird, was dann? Natürlich werde ich es beschützen! Ich könnte Scharfschützin werden! Dann töte ich Faschisten. (Aus "Das Land, das ich liebe" von Jelena Kostjutschenko)

Jelena Kostjutschenko schreibt lebensgesättigt, präzise und dabei herrlich beiläufig, lakonisch. Das hat sie in Russland berühmt gemacht. In kurzen Skizzen und Szenen gelingt es ihr, das dichte Gespinst des Realen zur Erscheinung zu bringen – sie braucht dafür nicht viele Worte, es ist eher eine raffinierte Einfachheit zusammen mit dem Ton der Empathie, die ihre Reportagen auszeichnen. Ihr Buch "Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben" kombiniert Reportagen, die Jelena Kostjutschenko für die unabhängige Nowaja Gazeta geschrieben hat, mit autobiographischen Essays.

"Verstehen, wie Russland faschistisch werden konnte"

Die Artikel und persönlichen Geschichten habe sie nach einem sehr einfachen Prinzip ausgewählt: "Ich wollte verstehen, wie Russland faschistisch werden konnte. Auf welchem Boden der russische Faschismus gedeihen konnte, wo seine Wurzeln sind."

Um das zu verstehen, habe sie sowohl ihr Leben als auch das ihrer Helden durchleuchtet, sagt Kostjutschenko. "Das sind alles Leute weit weg von Moskau, weit weg vom Kreml. Beispielsweise Kinder, die in verwaisten Krankenhäusern leben, Frauen, die als Prostituierte arbeiten müssen, ein schwules Paar, das in der Region Krasnodar ermordet wurde, eine Frau, die nach der Leiche ihres Mannes sucht, der im Krieg im Donbass gefallen ist."

Ganz unterschiedliche Leute also. Denn sie habe verstehen wollen, "was sie für ein Leben führen und wie es dazu kam. Ich wollte dabei auch ehrlich bei mir selbst nachschauen, was mir sehr schwergefallen ist".

Wüste Verhältnisse als Folge einer amoralischen Ungleichheit

Eine ethnologische Studie also des russischen Lebensstils, in dem vor allem Gewaltausbrüche fest verbucht sind. Die Großmutter lacht, wenn sie Jelena auf die Finger haut. Die Kindheit endet abrupt, als ihr jüngerer Adoptivbruder tot aufgefunden wird.

Wanja lag auf der Couch, er war komplett steif, sein Gesicht grünblau. Neben ihm lagen eine Tüte, ein Messer und eine Dose Feuerzeuggas. (Aus "Das Land, das ich liebe" von Jelena Kostjutschenko)

Alkohol, Traumata aus dem Tschetschenienkrieg, zerrüttete Familien, Selbsthass, Stumpfsinn, Rassismus, soziales Elend, Armut – Jelena Kostjutschenko dokumentiert wüste Verhältnisse als Folge einer amoralischen Ungleichheit, die das Machtsystem Putins zementiert und fortschreibt. Sie selbst wird für ihre Liebe zu Frauen von der Polizei regelmäßig verprügelt und verhaftet.

Liebe verlangt nach einem kritischen Blick

Von Albert Camus übernimmt die Journalistin die in "Demut und Verzweiflung zustande gekommene Posenlosigkeit" beim Erzählen – deshalb treffen die Geschichten so ins Herz. Liebe und Verantwortung wären für die beklemmenden Verhältnisse in Russland eine Antwort.

Nur so lässt sich auch der Titel des Buches "Das Land, das ich liebe" verstehen. "Das ist eine Liebe, die viel Schmerz mit sich bringt, aber ich halte trotzdem an ihr fest. Liebe verlangt nach einem kritischen Blick und Mitwirkung. Ich möchte unbedingt zurückkehren und hoffe, dass sich Russland durch meine Anstrengungen und die anderer Russen verändert und wir dem Land eine Zukunft ermöglichen können", sagt Kostjutschenko.

Dieses Buch ist ein Meilenstein – zum Verständnis des Abgrunds, in den sich Russland manövriert hat.

Jelena Kostjutschenko: "Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben" ist im Penguin Verlag erschienen. Aus dem Russischen von Maria Rajer.

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