Der ukrainische Armeechef in Kampfuniform am 28. Juli 2023 in Kiew
Bildrechte: Picture Alliance

Walerij Saluschnyj

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Ausweg schwierig": Ukrainischer Armeechef fürchtet "Stillstand"

Aus "subjektiven und objektiven Gründen" drohe ein "Stellungskrieg", fürchtet Walerij Saluschnyj in einem aufsehenerregenden Fachbeitrag. Historisch gesehen sei es schwierig, die Lage zu ändern. Das verlängere den Krieg - zum Vorteil Russlands.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Stecken Russland und die Ukraine in einer militärischen "Sackgasse"? Seit langem verweisen Beobachter darauf, dass das Geschehen zunehmend an den Ersten Weltkrieg erinnert, als die Fronten nach wenigen Wochen "einfroren" und sich die Großmächte in einen blutigen Stellungskrieg verwickelt sahen. Auch jetzt droht nach Meinung des ukrainischen Armeechefs Walerij Saluschnyj Stillstand. In einem Fachbeitrag, der vom britischen "Economist" veröffentlicht wurde, schreibt er wörtlich: "Aus vielen subjektiven und objektiven Gründen bewegt sich der Krieg zum gegenwärtigen Zeitpunkt allmählich zum Stellungskrieg, aus dem es in der historischen Rückschau immer schwer war, wieder herauszukommen, und zwar sowohl für die Streitkräfte, als auch für den gesamten Staat."

"Es wird keinen tiefgreifenden Durchbruch geben"

Gleichzeitig habe sich "in den meisten Fällen" herausgestellt, dass eine Verlängerung des Krieges in der Regel für eine der Konfliktparteien von Vorteil sei: "In unserem konkreten Fall ist das die Russische Föderation, weil es ihr die Gelegenheit gibt, ihre militärischen Fähigkeiten wiederherzustellen und auszubauen." Saluschnyj nennt mehrere Maßnahmen, mit denen er aus der "Sackgasse" herauskommen will: Die russische Luftüberlegenheit soll bekämpft werden, die Ukraine benötige modernes Material zur Minenräumung, müssen mehr Artillerieduelle gewinnen und ihre elektronische Kriegsführung perfektionieren. Außerdem brauche sie "Reserven". Um wieder mehr Beweglichkeit an der Front zu erreichen, seien "neue und ungewöhnliche Ansätze" nötig.

Im Interview mit dem "Economist" sagte der Armeechef: "Russland hat mindestens 150.000 Gefallene zu beklagen. In jedem anderen Land hätten solche Verluste den Krieg beendet." Allerdings sei ein Menschenleben in Russland nicht viel wert, und der russische Präsident Wladimir Putin orientiere sich am Ersten und Zweiten Weltkrieg, als sein Land zig Millionen Menschen verloren habe: "Wie im Ersten Weltkrieg haben wir einen Stand der technischen Entwicklung erreicht, der uns staunen lässt. Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefgreifenden und beeindruckenden Durchbruch geben."

"Wir müssen 'Schießpulver' finden"

Saluschnyj gestand, dass er bei der Planung seiner jüngsten Offensive damit gerechnet habe, dass seine Leute täglich etwa dreißig Kilometer vorstoßen würden. Dann hätten vier Monate gereicht, um die Krim zu befreien: "Zuerst dachte ich, dass mit unseren Kommandanten etwas nicht stimmte, also habe ich einige von ihnen ausgetauscht. Dann dachte ich, unsere Soldaten wären vielleicht nicht gut genug, also habe ich die Soldaten in einigen Brigaden ersetzt." Letztlich benötige die Ukraine eine völlig neue Technologie, um zu gewinnen. Saluschnyj nannte als historisches Beispiel die Erfindung des Schießpulvers durch die Chinesen: "Wir müssen nach so einer Lösung suchen, wir müssen dieses 'Schießpulver' unserer Zeit finden, zügig lernen, damit umzugehen und es für einen schnellen Sieg einsetzen. Denn früher oder später werden wir feststellen, dass wir einfach nicht genug Leute haben, um weiter zu kämpfen." Der Armeechef hofft also auf einen "Gamechanger", ein Instrument, das das Kräfteverhältnis schlagartig neu definiert.

Bereits im vergangenen August hatte der Militärexperte Stephen Biddle von der Columbia University in New York in einem Beitrag analysiert, warum Putins Angriffskrieg in der Ukraine trotz neuer Techniken wie Kampfdrohnen und Störsendern "in den Schützengräben" endete: "Die Antwort darauf ist, dass die Waffen in der Ukraine zwar hier und da neu sind, die Ergebnisse, die sie erzielen, jedoch meist nicht. Armeen passen sich neuen Bedrohungen an, und die Gegenmaßnahmen, die beide Seiten in der Ukraine ergriffen haben, haben die Netto-Effekte neuer Technologien drastisch reduziert, was zu einem Krieg geführt hat, der in vielerlei Hinsicht eher an die Vergangenheit als eine imaginäre High-Tech-Zukunft erinnert."

"Keine revolutionären Sprünge in der Waffentechnik"

Biddle nennt einige Beispiele dafür: So hätten beide Seiten jeweils etwa die Hälfte ihrer Panzer verloren, was den Verlustraten im Zweiten Weltkrieg entspreche. Es gebe zwar inzwischen ferngesteuerte Artillerie-Geschosse, die allermeisten Projektile würden jedoch wie eh und je rein ballistisch abgefeuert. Pro 100 Abschüssen seien im Ersten Weltkrieg etwa zwei gegnerische Soldaten ausgeschaltet worden, im Zweiten Weltkrieg etwa drei und aktuell etwa acht Personen. Das bedeute, dass es keine sprunghafte Entwicklung bei der Zielgenauigkeit gebe, sondern eine sehr kontinuierliche über viele Jahre hinweg. Ferngesteuerte Geschosse würden durch GPS-Störsender abgelenkt, die Truppen schützten sich durch bessere Tarnung und stärkere Befestigungen. Insgesamt glaubt Biddle nicht an "revolutionäre" Sprünge in der Waffentechnik, sondern nur an einen "evolutionären Wandel". Das spricht also gegen die Hoffnung auf ein neuartiges "Schießpulver".

Parallelen zum Ersten Weltkrieg

Ein Blick auf den Ersten Weltkrieg zeigt, dass er tatsächlich nicht durch neue Waffen, etwa Panzer, entschieden wurde, sondern die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn wirtschaftlich und militärisch "erschöpfte". Durch das Eingreifen der USA waren die westlichen Allliierten plötzlich weit überlegen, was den Nachschub und das Personal betraf. Dadurch war das deutsche Heer nach seinem "schwarzen Tag" am 8. August 1918 nicht mehr in der Lage, seine Verluste auszugleichen, sondern konnte nur noch den Rückzug antreten, wenngleich es keine große "Entscheidungsschlacht" gab. Was ebenfalls auffällt: Im Ersten Weltkrieg stellte sich schnell heraus, dass die Armeen durch die Erfindung des Maschinengewehrs und moderner Artillerie in der Defensive sehr stark aufgestellt waren, mangels beweglicher Waffen jedoch nicht wirklich erfolgversprechend in die Offensive gehen konnten: Die Kavallerie hatte sich überlebt, die Panzer wurden gerade erst entwickelt.

Aktuell machen der Einsatz von Kampfdrohnen und Minenfelder in der Ukraine das Vorrücken der Infanterie beider Seiten schwer bis unmöglich. Gepanzerte Fahrzeuge werden Ziele von Raketen, sind von befahrbarem Gelände abhängig und verlieren damit an Bedeutung. Abermals dominiert eindeutig die Defensive gegenüber der Offensive, was die eigentlich "antiquierten" Bilder von schlammigen Schützengräben und altmodischen Panzersperren erklärt.

"Phase der Enttäuschung"

Der im Exil lebende russische Politologe Abbas Galljamow schreibt, ein Armeechef wie Saluschnyj sei ja nicht "der Wahrheit verpflichtet": "Vielleicht versucht er nur, die Russen in Erwartung einer entscheidenden Offensive zu desorientieren." In russischen Blogs gibt es natürlich viel Schadenfreude über Saluschnyis Stellungnahme, schließlich habe der General früher mal seine russischen Kollegen verspottet, von denen er "viel gelernt" haben wollte: "Jetzt ist eine Phase der Enttäuschung über die Militärkunst der NATO-Theoretiker angebrochen, da es der drei Millionen Mann starken Gruppe der Ukraine (über die Waffenlieferungen aus 57 Ländern schweige ich) nicht gelungen ist, die Front der 500.000 Mann starken russischen Gruppe zu durchbrechen", meinte TV-Propagandist Alexander Sladkow.

Andere machten sich lustig darüber, dass Saluschnyj neuerdings auf "Super-Technologien" hoffe. Er bereite seine Öffentlichkeit möglicherweise auf "unpopuläre Entscheidungen" vor. Die viel gelesenen Blogger "Die zwei Majore" (463.000 Abonnenten) stellen nüchtern fest, Saluschnyj mache lediglich einen Versuch, noch mehr westliche Militärhilfe zu mobilisieren, vor allem dränge er auf Kampfflugzeuge. Der Chef-Propagandist der auflagenstarken "Moskowski Komsomolez", Dmitri Popow fauchte: "Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine trat in die Fußstapfen Hitlers – er fordert die Erfindung einer Wunderwaffe." Der kremlnahe Politologe Sergej Markow schrieb: "Tatsächlich entschuldigt sich Saluschnyj dafür, dass ihm der Gegenangriff misslungen ist."

"Stellungskriege sind ein zweischneidiges Schwert"

Kremlsprecher Dmitri Peskow sah sich ebenfalls zu einer - wie üblich wenig selbstkritischen - Reaktion veranlasst: "Nein, der Krieg steckt nicht in einer Sackgasse. Russland führt konsequent eine besondere Militäroperation durch. Alle gesetzten Ziele müssen erreicht werden." Kiew müsse einsehen, wie "absurd" es sei, von einem Sieg auf dem Schlachtfeld zu träumen: "Und je früher das Kiewer Regime das für sich selbst erkennt, desto eher werden sich einige Aussichten eröffnen."

Der frühere russische Sicherheitspolitiker und Star-Blogger Alexander Chodakowski (600.000 Fans) vermutete, Saluschnyj plane in der Ukraine eine politische Karriere und wolle als General anscheinend rechtzeitig jede Verantwortung für künftige militärische Probleme von sich abwälzen. Was Russlands Aussichten betrifft, schrieb Chodakowski: "Nun, wir sollten unsere Position unter Berücksichtigung aller möglichen Perspektiven sorgfältig abwägen und überlegen, welche Strategie wir gegenüber der Ukraine wählen sollen: Stellungskriege sind ein zweischneidiges Schwert."

Putin: "Wahrscheinlichkeit von Bettwanzen geringer"

Es gibt auch russische Stimmen, die auf die Erschöpfung im eigenen Land verweisen. Immer wieder wird beklagt, dass Putin letztlich keine nachvollziehbaren "Ziele" seiner "Spezialoperation" angeben könne. Politologe Anatoli Nesmijan argwöhnte, der Kreml werde seine Aggression wegen der "Sackgasse" an der Front notgedrungen nach innen richten und verstärkt "Terroristen" bekämpfen, um seine Daseinsberechtigung zu unterstreichen: "Logischerweise muss er ein neues Ziel finden und seine Strafmaschinerie darauf loslassen, um weiterhin an der Macht zu bleiben. Er hat keine anderen Aufgaben mehr. Allerdings wird seine Fähigkeit, solche Aktivitäten kontrolliert durchzuführen, nach vier Jahren ununterbrochener Gewalt zunehmend zweifelhaft."

Finanziell könnte es für die Masse der Russen "eng" werden, wenn auch nicht unbedingt für das Regime. Schon jetzt sind fast die Hälfte aller Schuldner, nämlich 21 Millionen Betroffene, mit ihren Abzahlungen im Rückstand. Putin hatte kürzlich bei einem Treffen mit Ministerpräsident Mischustin gesagt: "Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass der Sanktionsdruck des Westens zunehmen wird. Ja, sie, unsere sogenannten Partner, haben in den letzten Jahren bereits unzählige Sanktionspakete verabschiedet, sie selbst haben sich praktisch in diesen Sanktionen verheddert, sie haben versucht, uns zu bestrafen, aber am Ende ist das, wie wir sehen, eine völlig offenkundige Sache. Wie aus den Statistiken hervorgeht, bremsen sie ihre eigene Wirtschaft, was die Arbeitsplätze angeht. Jetzt erreichen ihre Fieberträume einfach den Punkt der Absurdität. Sie schlagen vor, die Einfuhr von Schraubenziehern, Nadeln usw. nach Russland zu verbieten. Nun ja, je weniger Müll von dort, desto besser vielleicht: Die Wahrscheinlichkeit, dass Bettwanzen aus großen europäischen Städten zu uns exportiert werden, ist geringer."

Müssen Russen "Gürtel enger schnallen"?

Das war von Putin grimmig und entschlossen gemeint, zumal er vor "Sabotage" aus dem Westen warnte, doch russische Blogger verstanden die Botschaft anders. Offenbar habe der Kreml mit den Grauimporten aus dem Westen zunehmend Schwierigkeiten. Für "viele Bevölkerungsgruppen" sei es "alarmierend", wenn Putin die Einfuhren verringern wolle und von "Müll" spreche, denn bis Russland die Waren aus eigener Produktion ersetzen könne, werde es Jahre benötigen. Die heutigen Russen seien nun mal an westliche Angebote in den Regalen gewöhnt: "Darüber hinaus unterstützt das Land zwar den von der Spitze gewählten neuen Kurs und schnallt bereitwillig den Gürtel enger, gleichzeitig wird jedoch die Forderung nach einer Rückkehr zu den früheren, nicht den schlechtesten Lebensstandards und Gewohnheiten laut, auch wenn diese nicht perfekt waren."

Der Analyst Sergej Bondarenko schreibt im "Insider", einem russischen Exil-Portal, das derzeitige Niveau der Sanktionen hindere Russland nicht daran, seine übermäßigen Rüstungsausgaben durch ebenso übermäßige Öl- und Gaseinnahmen wettzumachen: "Trotz der Sanktionen und der Notwendigkeit, die Wirtschaft wieder aufzubauen, ist es Russland bisher ohne großen Aufwand gelungen, die Haushaltsausgaben zu erhöhen, Geld in die Verteidigungsindustrie zu pumpen und den Krieg in der Ukraine zu finanzieren." Die "überraschende Stabilität" verdanke Russland dem Ölpreis, der durch den Nahostkonflikt womöglich weiter steige: "Die globale Lage begünstigt Russland."

Probleme mit Fremdwährungen

Ganz so rosig sei Putins Lage allerdings doch wieder nicht: Es gebe "Unannehmlichkeiten" mit Fremdwährungen wie dem chinesischen Yuan und der indischen Rupie, die nicht ohne Weiteres eingetauscht werden könnten. Außerdem fehlt es in Russland wegen der vielen Emigranten an Fachkräften, ganz abgesehen von der maroden Infrastruktur, die in keiner Weise konkurrenzfähig ist. Der Absturz des Rubels bewies mehr als deutlich, dass die Marktteilnehmer der Kreml-Propaganda von der angeblich "florierenden" Wirtschaft keinen Glauben schenken. Die russische Währung konnte nur mit Zwangsmaßnahmen stabilisiert werden.

"Putin wird abwarten"

Unabhängig davon, wie es wirtschaftlich weitergeht, hat Russland militärtechnisch dieselben Schwierigkeiten wie die Ukraine - und ein zusätzliches Problem. Putin braucht dringend mehr Soldaten an der Front, kann und will aber wegen der bevorstehenden Präsidentschaftswahl im März kurzfristig keine weitere Mobilisierung anordnen. Das könnte die Stimmung erheblich trüben. Zwischen der Einberufung von Mobilisierten und ihrem Kampfeinsatz vergehen außerdem viele Monate: Die Ausbildung kostet Zeit, Ausrüstung ist ebenfalls sehr knapp. Insofern wundert es nicht, dass sogar die systemtreue "Prawda" von einer "Pattsituation" spricht.

Putin werde "nicht voreilig ungünstige Waffenstillstände" abschließen, vermutet die "Prawda", sondern die US-Wahlen abwarten, von denen er sich eine "Schwächung" der USA erhoffe: "Er wird aushalten und versuchen, die Spezialoperation mit minimalen Verlusten weiterzuführen und die Loyalität ehemaliger Bürger aus der Ukraine [in den von Russland besetzten Gebieten] sicherzustellen. Das ist jetzt äußerst wichtig." Wie auch immer: die Russen scheinen ebenso kriegsmüde wie die Ukrainer zu sein. In einer neuen Umfrage sagten 70 Prozent der Befragten, sie seien damit einverstanden, wenn Putin den Krieg beende, allerdings nur dann, wenn die besetzten Gebiete nicht geräumt werden müssten. Falls Russland sich auf seine Ausgangsposition zurückziehen müsste, sind angeblich nur noch 34 Prozent für einen sofortigen Waffenstillstand.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!