Der russische Präsident an einem langen Tisch mit Teilnehmern
Bildrechte: Gavriil Grigorov/Picture Alliance

Wladimir Putin bei einer Sitzung des Sicherheitsrats

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Vierzig Probleme, eine Antwort": Erodiert Putins Autorität?

Nach einem beängstigenden Pogrom in Dagestan sieht sich der Kreml im eigenen Land als "hilflos" verspottet. Putin macht für alle Probleme die USA verantwortlich, muss sich jedoch hausgemachte Ursachen und "erodierte Autorität" vorhalten lassen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Wie alle Propagandisten hatte Wladimir Putin eine sehr einfache Antwort parat: Die antisemitischen Ausschreitungen in der russischen Teilregion Dagestan, denen die örtlichen Behörden mehr oder weniger hilflos gegenüberstanden, seien "durch die Hände von Agenten westlicher Geheimdienste inspiriert", behauptete er bei einem eilig anberaumten Treffen des Sicherheitsrats. Und damit auch niemand zweifelte, wo die "Wurzel des Übels" liege, wo die "Spinne" daheim sei, die angeblich "die ganze Welt mit ihrem Netz umgarnt", gab Putin den russischen TV-Zuschauern Nachhilfe, die an die Machenschaften des sowjetischen Geheimdiensts KGB erinnerte: Hinter allem steckten die "herrschenden Eliten der Vereinigten Staaten und deren Satelliten".

"Nostalgie oder Salzgurken-Feste"

Putin mühe sich mit solchen Parolen darum, seine Politik zu "synchronisieren", heißt es in einem der wichtigsten Politik-Portale mit 320.000 Abonnenten: "Putin versucht, die Verantwortung für Probleme auf das Ausland zu schieben. Das ist für die meisten Bürger verständlich und erwartbar." Wenn es jedoch überhaupt ausländische Kräfte gebe, die in Dagestan mitgemischt hätten, dann seien es "Akteure in der Nähe der Grenze" gewesen, also islamisch geprägte Staaten in der Kaukasus-Region. Da kämen nicht eigens genannte Länder wie Aserbaidschan und die Türkei in Frage, aber auch Zentralasien. So oder so müsse Putin um die "Einheit" Russlands fürchten. Deren Bewahrung sei die "dringlichste Aufgabe" des Kremls.

Im alten Russland sei der Zar das identitätsstiftende Symbol gewesen, in der Sowjetunion der Kommunismus. Jetzt fehle es am Zusammenhalt: "Das Hauptproblem der Russischen Föderation besteht darin, dass sie Schwierigkeiten hat, sich selbst zu erklären. Und die fehlende Selbstrechtfertigung wird in der Regel entweder durch sowjetische Nostalgie oder 'Salzgurken-Feste' [wie in der pittoresken Stadt Susdal] ersetzt. Aber darauf lässt sich keine vernünftige nationale Politik aufbauen."

"Geschichten aus der Krypta"

Nicht von ungefähr wird Putin anlässlich des Pogroms in Dagestan in russischen Leserkommentaren als "schwächelnder, außer Kontrolle geratener Anführer" verspottet. Er verbreite nur noch "Geschichten aus der Krypta": "Natürlich ist es wie immer einfacher, anderen die Schuld zu geben, als der Wahrheit ins Auge zu sehen." Putin habe Wind gesät und Sturm geerntet. "Ein paar gute Wasserwerfer hätte die Lage schnell beruhigt, aber sie befanden sich alle in Moskau", schrieb einer der Beobachter hämisch. Und auch ein Witz wurde aus gegebenem Anlass geboten: "Der Parteisekretär fragte Rabinowitsch, warum er nicht beim letzten Treffen dabei gewesen sei. Antwort: 'Wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte war!'"

Russland wanke "dem Abgrund entgegen", und zwar "offenen Auges, alles verstehend, alles hinnehmend", raunt Blogger und Politikwissenschaftler Andrej Nikulin (10.000 Fans): "Es scheint, als wäre es unser Karma." Grund für diesen Pessimismus: Der Kreml sei sich über die zerstörerische Kraft der ethnischen und religiösen Konflikte völlig im Klaren, könne aber letztlich nichts dagegen unternehmen: "Die muslimische Diaspora ist riesig und wächst weiter. Und allein aufgrund ihrer Bedeutung und Sichtbarkeit sorgt sie für Aufmerksamkeit und Spannung. Jeder Versuch, die interethnischen und interreligiösen Beziehungen in Ordnung zu bringen, wird früher oder später in Schwierigkeiten geraten." Dieses düstere Bild vom taumelnden Giganten, der gegen die Zeitläufte machtlos ist, obwohl er die Lage erfasst, erinnert fast an die Zustandsbeschreibung von Europa vor dem Ersten Weltkrieg.

"Ungeheuerlicher Mangel an Bildung"

Der russische Politologe Alexander Baunow, der als "ausländischer Agent" gebrandmarkt ist und für das Moskauer Carnegie Center arbeitete, brachte Putins Ausflüchte auf den Punkt, der Präsident habe auf "vierzig Probleme eine Antwort". Er versuche offenbar, mit dem "gläsernen Pantoffel des eigenen Weltbildes" gegen die "Keule der Volksmassen" anzutreten. Ähnlich sieht es ein Polit-Blogger, der speziell in Dagestan einen "ungeheuerlichen Mangel an Empathie und Bildung" beobachtet haben will. Innerhalb Russlands gebe es zwischen Nationalitäten, Clans und Familien ein "zerstörerisches Misstrauen", wobei die "katastrophale Korruption" die Spannungen verschärfe.

"Das Ergebnis ist eine ungeheure Zunahme klerikaler, mittelalterlicher Sitten und Gebräuche. Von einer Region, die während der Sowjetzeit modern entwickelt war, hat sich Dagestan zu einem kulturellen Tummelplatz des mittelalterlichen Islamismus entwickelt, wobei sich radikale islamistische Bewegungen einen besonders großen Wirkungskreis gesichert haben", so das Fazit, das ganz und gar nicht mit Putins Schuldzuweisung übereinstimmt. Die örtlichen Behörden seien "völlig gelähmt", nicht aus Angst vor den Islamisten, sondern aus Respekt vor deren mutmaßlichen Hintermännern, die bei Putin teilweise im höchsten Ansehen stünden, wie zum Beispiel der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow: "Das heißt, die Rebellion von [Söldnerführer] Prigoschin geht auf diese Weise weiter und zielt darauf ab, dem Staat seine Machtmittel zu entreißen." Das sei dem Kreml auch sicherlich bestens bekannt. Insofern gehe es den Urhebern der Unruhen nicht um Antisemitismus, sondern um eine Destabilisierung der Moskauer Zentrale.

"Erweitert die Vorstellungen, was akzeptabel ist"

Ebenso sieht es der russische Publizist Oleg Kaschin. Putins Gesellschaftsmodell des "Multinationalismus" sei durch die beschämenden Ereignisse in Dagestan "bankrott" gegangen: "Für Putin war es zunächst bequem, sich nicht auf die gebildeten Bürger der Metropolen zu verlassen, sondern auf die Ränder und Minderheiten, die ihm 99 Prozent Zustimmung bescherten. Doch die Stabilität erwies sich als fiktiv: Ein solcher Staat ist nicht in der Lage, auf eine echte internationale Krise zu reagieren." Nach der gescheiterten Rebellion von Prigoschin sei der Kreml zum zweiten Mal innerhalb von einem halben Jahr "hilflos und verwirrt" gewesen.

Der im Ausland lebende Politologe Abbas Galljamow glaubt, dass Putin sich selbst geschwächt habe, weil er den "rückständigen Bevölkerungsgruppen" im eigenen Land das Gefühl vermittelt habe, ihr Antisemitismus sei "staatlich legitimiert" und es gebe somit keinen Grund mehr, ihn zu verbergen. Menschenrechtsaktivist Alexander Werchowski ist der Meinung, der Angriffskrieg gegen die Ukraine habe die aggressive Stimmung erheblich verstärkt, "obwohl sie sich normalerweise nicht gegen Juden und Israel" richte. Das staatliche Gewaltmonopol sei erodiert, seit Putin eine Söldnerarmee toleriert habe und sein Vertrauter Kadyrow in Tschetschenien ungestraft "offene Lynchjustiz" vorantreibe: "Das erweitert die Vorstellungen der Menschen darüber, was noch möglich und akzeptabel ist."

"Wie Gorbatschow einst sagte: Der Prozess hat begonnen"

Der in London lehrende russische Politologe Wladimir Pastuchow hatte den Eindruck, Putin sei mit dem Ablauf des Pogroms in Dagestan "unzufrieden" gewesen: Der Kreml fördere zwar Antisemitismus, allerdings auf "streng begrenzte Ziele" ausgerichtet, weshalb dafür stets "ausländische Agenten" verantwortlich gemacht würden: "Das war überhaupt nicht das antisemitische Theater, von dem er geträumt hat. Und es geht gar nicht um die Juden. Das antijüdische Pogrom am Flughafen Machatschkala war nur ein Manöver, eine Vorbereitung für ein antirussisches Pogrom im Kaukasus, eine Generalprobe. Der Kreml kann das nicht übersehen. Sie verstehen das, und deshalb wird das Gespräch [mit den örtlich Verantwortlichen] schwierig sein. Aber es scheint, als könnten sie nichts tun. Wie Gorbatschow einst sagte: 'Der Prozess hat begonnen.'"

Blogger Ilja Ananjew erwartet, dass der Kreml im Kaukasus angesichts seiner erodierten Autorität auf Gewalt setzen wird: "Ab heute müssen wir mit umfassenden Razzien der Sicherheitskräfte und Erschütterungen in den muslimischen Gemeinden der russischen Regionen rechnen. Die Nervosität auf dem rutschigen Parcours der Strafverfolgungsbehörden wird sich auf die Leiter der Regionen übertragen, die auf die eine oder andere Weise mit Selbstbezichtigungen arbeiten und nach einer Welle 'vorbeugender' Maßnahmen der Sicherheitsdienste die 'Wirrnis' entwirren werden."

Geheimdienst hält Übung zum Schutz des Kremls ab

Für die "bunte Welt der russischen Religionsgemeinschaften" seien staatliche Autoritäten irrelevant, da helfe dem Kreml nur Durchgreifen. Ananjew verweist darauf, dass ausgerechnet direkt nach dem Pogrom in Dagestan der russische Inlandsgeheimdienst FSB über Allerheiligen eine "jährliche Übung" zum Schutz des Kremls angekündigt hat: "Was ist die Botschaft an das Land – ist die Regierung zuverlässig geschützt oder sind wir an einen 'Punkt' gekommen, an dem man ein Signal geben muss? Wofür? Brauchen sie das gerade?"

Nicht einig sind sich die russischen Kommentatoren darüber, was Putin konkret gegen eine potentielle Bedrohung im eigenen Land unternehmen wird. Die einen erwarten eine noch konsequentere Netz-Zensur, etwa eine Schließung von YouTube und Eingriffe bei Telegram, andere fordern einen Stopp der "Masseneinwanderung aus Zentralasien". Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gehen dabei, wie so oft, Hand in Hand.

"Unterdrückung ist ein Zeichen von Schwäche"

Russische Nationalisten halten Putins skurrile Schuldzuweisung an die USA für ebenso unglaubwürdig wie liberale Beobachter, glauben jedoch, der Präsident sei von seinem unmittelbaren Beraterkreis "getäuscht" worden: "Um zu verhindern, dass die 'Spinnen' aufkreuzen, muss man sich unbesiegbar machen, das heißt, man muss im Land Bedingungen schaffen, die solche Unruhen unmöglich machen und darf nicht davon ausgehen, dass gewaltsame Unterdrückung ein Zeichen von Stärke ist. Nein, das ist genau das Gegenteil, die Folge von Schwäche. Von Stärke spricht man, wenn alle Versuche des Feindes, Unruhe in unsere Reihen zu tragen, schon im Vorfeld unterbunden werden."

Zwar sei Russland nach außen "unbesiegbar", so Blogger Roman Aljechin (100.000 Fans), aber nicht nach innen: "Das heißt, wir sind insgesamt nicht unbesiegbar." Es fehle an echten Patrioten, die Medien seien durch bezahlte, aber treulose "Informations-Söldner" gekapert: "Wir brauchen eine präsidiale Gegenrevolution, also einen sanften Systemwechsel durch den Präsidenten selbst, nämlich das, was er schon mal angedeutet hat: Wir müssen unseren eigenen Weg einschlagen. Dabei müssen wir einen Neuanfang wagen, denn der Präsident selbst wird für uns nicht alles erledigen können. Eine Formation wird nicht aus dem Kommandanten gebildet, sondern aus allen Soldaten der Truppe."

Es sei "beängstigend", dass die Russen aufgehört hätten, selbst zu denken und stets darauf warteten, dass andere für sie Entscheidungen träfen: "Verlieren Sie nicht Ihre Denk- und Entscheidungsfähigkeit – werden Sie kein unvernünftiger Mensch."

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!