Gralsritter am Wasserloch
Bildrechte: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Amfortas unter der Fuchtel von Titurel

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Bayreuther "Parsifal"-Auftakt: Blutdurst am Wasserloch

US-Regisseur Jay Scheib zeigt Wagners Bühnenweihfestspiel als ganz großes Hollywoodkino - ohne den Ehrgeiz, das Musikdrama zu interpretieren. Dafür gab es viel Beifall, aber auch Buh-Rufe. Musikalisch überzeugte die Premiere in jeder Hinsicht.

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Die 330 "Augmented-Reality"-Brillen fielen im Bayreuther Festspielhaus nicht weiter auf: Nur die Besucher in den letzten Zuschauerreihen und in den Logen durften sich mit dieser Technik "aufrüsten", alle anderen bekamen eine "traditionelle" Inszenierung zu sehen. US-Regisseur Jay Scheib sah sich seine Produktion aus der 19. Reihe ebenfalls ohne AR-Brille an und schaute zum Auftakt sehr neugierig zur regionalen und überregionalen Polit-Prominenz, die ihm vermutlich nicht durchweg bekannt sein dürfte. Zur ersten Pause hallte zwar ein sehr vernehmbares "Buh" durch den Saal, ansonsten gab es jedoch zunächst wenig Reaktionen: Unter Wagner-Traditionalisten ist es verpönt, nach dem ersten Aufzug des "Parsifal" Beifall zu klatschen oder gar zu protestieren - für sie ist das Bühnenweihfestspiel ein geradezu "sakrales" Ritual.

Sinnentleerte Welt wie im Spätmittelalter

Unübersehbar zitierte Jay Scheib Bildwelten der amerikanischen Popkultur: Das erinnerte mal an den berühmten schwarzen Quader aus "2001 - Odyssee im Weltraum", mal an das Gegenlicht in "Unheimliche Begegnungen der Dritten Art" und gegen Ende des ersten Aufzugs stand Kundry, die verhängnisvolle Negativ-Heldin, sogar vor einem "Lichtdom", wie er im pathetischen Expressionismus der 1920er und 30er-Jahre Mode war und der gern mit Leni Riefenstahls Filmen assoziiert wird. Optisch macht das alles was her, wenn von "Regietheater" im engeren Sinne auch keine Rede sein kann: Was Jay Scheib an dem heiklen Stoff interessiert, außer ihn großformatig zu bebildern, blieb zunächst offen. Beim internationalen Publikum könnte das jedoch als unaufgeregte Wagner-Huldigung zünden.

Die Gralsritter versammeln sich an einer Art Wasserloch mit magischem "Leuchtturm", der seine Blitze in den Nebel wirft, und haben offenbar stapelweise Reliquien gesammelt, die ein typisches Kennzeichen des 15. Jahrhunderts sind, also des Spätmittelalters, als der christliche Glaube kurz vor der Reformation in einer tiefen Orientierungskrise steckte und sich diejenigen, die es sich leisten konnten, auf Quantität statt Qualität setzten, also die Menge ihrer Andenken mit deren Erlösungspotential verwechselten. Eine sinnentleerte Welt, wie sie auch die Gralsritter auszeichnet. Dabei schlürfen sie gierig das Blut, das ihnen kredenzt wird - obwohl das Wasser doch so nah ist. Streckenweise ist das mehr Pop-Art als Wagner, was durchaus plausibel sein könnte, denn der Komponist hatte mit dem Christentum deutlich weniger am Hut, als der "Parsifal" oberflächlich nahelegt.

Diejenigen, die sich neue intellektuelle Erkenntnisse erhofft haben mögen, werden von dieser Art "XXL-Ritual-Show" mit Hightech-Faktor vermutlich enttäuscht sein. Wagner-Fans mit Unterhaltungsbedürfnis dürften zufrieden sein - gilt der weihevolle "Parsifal" doch nicht gerade als sonderlich aufregendes Drama, zumal die Liebe hier unter dem Generalverdacht der Sünde steht und die angepriesene Erlösung so fragwürdig ist, dass sich die wenigsten darunter etwas vorstellen können. Kein Wunder, dass Wagner-Fan Friedrich Nietzsche darüber den Verstand verlor und sich von seinem Idol abkehrte.

Meisterhafter Einstand von Heras-Casado

Musikalisch erwies sich der Bayreuth-Auftakt als rundum überzeugend: Bass Georg Zeppenfeld, der den Gurnemanz traumhaft textsicher und artikuliert sang, hatte dem BR bereits im Vorfeld gesagt, dass ihm die Partie hervorragend liege. Er behielt recht. Dass er schauspielerisch eher statisch "rüberkam", dürfte an der sehr reduzierten Personenregie gelegen haben. Ebenso festspielwürdig: Derek Welton als Amfortas und der kurzfristig eingesprungene Andreas Schager in der Titelrolle. Elīna Garanča, die drei von sieben Vorstellungen als Kundry übernommen hat, mied jeden Anflug von Hysterie und bewies höchstes Format in dieser ungemein schwierigen Rolle, die eigentlich nur "Wahnsinns-Szenen" kennt.

Katharina Wagner hatte sich nach der Generalprobe begeistert vom spanischen Dirigenten Pablo Heras-Casado gezeigt, und die Premiere bestätigte ihren positiven Eindruck. Dabei hängt die Latte hoch, ist "Parsifal" doch das einzige Musikdrama, das Richard Wagner speziell für sein Festspielhaus komponierte. Ihm war dabei der mystische Mischklang wichtig, und den traf Heras-Casado über zwei Stunden hinweg als Bayreuth-Neuling meisterhaft. Auch das Tempo stimmte, es war keineswegs so "schleppend" und zeremoniell, wie es gelegentlich anderswo zu hören ist und wie es Wagner selbst verabscheute. Allerdings hätte Heras-Casado im dritten Aufzug etwas mehr aufs "Gaspedal" drücken können.

Enttäuschung über AR-Brillen

Nach der Premiere gab es einhelligen Beifall für den hervorragend geprobten Festspielchor und die Solisten. Auch Heras-Casado wurde gefeiert. Für das Regieteam, das sich anders als die Mitwirkenden nur ein einziges Mal vor dem Vorhang zeigte, hagelte es einige vernehmliche Proteste, die Mehrheit im Publikum schien jedoch angetan oder mindestens zufrieden. Diejenigen, die AR-Brillen genutzt hatten, äußerten sich überwiegend enttäuscht: Einerseits sei die Reizüberflutung über vier Stunden für die Augen enorm anstrengend, andererseits habe es über dekorative Effekte hinaus keinerlei Erkenntnisgewinn gegeben. Da die Betroffenen sämtlich in den letzten Reihen saßen, gab es sogar welche, die statt AR-Brille lieber ein herkömmliches Opernglas zur Hand nahmen.

Insgesamt ein mäßig umstrittener Festspielauftakt und das Fazit, dass die szenische Qualität des vorletzten "Parsifal" in der Regie von Stefan Herheim (2008) bei Weitem nicht erreicht wurde, die optisch etwas konfuse Version von 2016 in der Regie von Uwe Laufenberg allerdings zumindest, was die opulenten Bilder angeht, übertroffen wurde. Insofern muss Jay Scheib bei allen Einwänden nicht verzweifeln.

Richard-Wagner-Festspielhaus auf dem Grünen Hügel in Bayreuth
Bildrechte: picture alliance / Zoonar | mije-shots
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Richard-Wagner-Festspielhaus

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