Nächtliche Front des Festspielhauses in der Hofstallgase, Gebäude ist von innen beleuchtet. Im freien sind schemenhaft wenige Gestalten zu sehen.
Bildrechte: Picturealliance/ dpa - Franz Neumayr August 2023

Das Festspielhaus in Salzburg - auch dieses Jahr wieder ein Magnet für Fans der darstellenden Künste, mit vielen Opern- und Theaterhighlights.

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Aus den Fugen? Die Salzburger Festspiele lieferten Zeitgemäßes

Es begann bei Gluthitze mit einem Jedermann - nun gehen die Salzburger Festspiele mit heftigem Sturzregen zu Ende. "Die Zeit ist aus den Fugen" lautete das Motto, das sich nicht nur auf die Wetterlage und die Klimakrise bezog. Ein Rückblick.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Sie wird nicht zuhören, die Dorfgemeinschaft, die gerade noch aus ihrer Mitte die Darsteller für das nächste Passionsspiel gewählt hat. Sie wird sich denen verschließen, die da kommen, aus Not: die Flüchtlinge. Und nur diejenigen, die gerade ihre Rollen übernommen haben in der Passion, sie werden Erbarmen zeigen: Maria Magdalena etwa, Petrus und natürlich Christus selbst, den das allerdings auch diesmal das Leben kosten wird.

"The Greek Passion" von Bohuslav Martinůs war der Schluss- und gefühlte Höhepunkt im Opernprogramm der diesjährigen Salzburger Festspiele: 70 Jahre alt, kaum gespielt und nun unter der zupackenden musikalischen Leitung von Maxime Pascal und in der Massen bewegenden Inszenierung von Simon Stone ein Werk der Stunde – insbesondere im Zeitalter einer wachsenden Zahl von Kriegs- und Klimaflüchtlingen.

Die Zeit aus den Fugen - vielfach interpretiert

"Die Zeit ist aus den Fugen": Mit diesem brandaktuellen Hamlet-Zitat hat Intendant Markus Hinterhäuser seine Salzburger Festspiele 2023 überschrieben. Und tatsächlich ließ sich das Motto auf erschreckend viele der Werke auf dem Programm anwenden. So etwa auch auf Verdis "Macbeth". Diesem paranoiden Königsmörder und seiner Killerinstinkt-sicheren Lady verschaffte Regisseur Krzysztof Warlikowski in seiner Salzburger Inszenierung ein tatsächlich aus den Fugen geratenes, tiefenpsychologisches Horrorszenario, in dem Vladislav Sulimsky und Asmik Grigorian stimmlich brillierten.

Dass das Motto "Die Zeit ist aus den Fugen" sich sogar auf einen musikalisch vermeintlich göttlichen Leichtfuß wie Wolfgang Amadeus Mozart anwenden lässt, bewies der Intendant des Wiener Burgtheaters Martin Kusej, indem er mit seiner Inszenierung von "Figaros Hochzeit" konsequent die Nachtseite der Oper beleuchtete und Liebesreigen, -wirrnis und -betrug in einem brutalen Mafia-Milieu ansiedelte. Dabei fand er eindringliche Bilder für jene dunklen Ahnungen, die in Mozarts Musik immer auch mitschwingen.

Zeitanalysen, auch im Sprechtheater

Die Zeit also ist im wahrsten Sinne des Wortes aus den Fugen: Das galt auch im Schauspiel der diesjährigen Salzburger Festspiele, etwa für Ulrich Rasches Version von Gotthold Ephraim Lessings "Nathan der Weise", der mit seinem Ensemble im chorischen Gleichschritt tief in den Text hineinbohrte. Dabei trieb er dem Stück mitsamt dem Toleranzedikt seiner berühmten Ringparabel das blankvers-behäbige Gutmenschentum aus, indem er den Juden Nathan in Fremdtexten auf den offensichtlichen Antisemitismus der ach so aufgeklärten Aufklärung prallen ließ, wie hier etwa in Voltaires Artikel über die "Juden". Rasche lässt den Chor die harten Worten des französischen Aufklärers sprechen: "Sie leben als Fremdkörper in jeder Nation, die sie aufnimmt, und so bedrohen sie den Frieden aller."

Wenn ein Partner einer jahrzehntelangen Ehe nach einem Schlaganfall in die totale Pflegebedürftigkeit abdriftet, wie in Michael Hanekes Film "Liebe". Wenn zwei Mütter um das Sorgerecht streiten, indem sie an einem Kind zerren, wie in Bertolt Brechts "Kaukasischem Kreidekreis". Oder: Wenn eine Mutter vom Abendbrottisch aufsteht und sich vom Balkon stürzt, weil sie den Druck der Care-Arbeit nicht mehr aushält, wie in Mareike Fallwickls feministischem Erfolgsroman "Die Wut, die bleibt", dann ist auch die Keimzelle der Gesellschaft, die Familie: aus den Fugen.

Hanekes Film "Liebe" auf der Bühne

Mit drei Stücken lies die scheidende Schauspieldirektorin der Salzburger Festspiele Bettina Hering in ihrer letzten Saison dieses existentielle Thema familiärer Bindungen umkreisen: Dabei machte Karin Henkel die berührende Geschichte von Michael Hanekes Film "Liebe" zu einer eindrücklichen Performance über Pflegenotstand und Überforderung. Und Helgard Haug vom Kollektiv "Rimini Protokoll" stellte zusammen mit dem Theater Hora und damit zusammen mit SpielerInnen mit kognitiver Beeinträchtigung in ihrer Variation von Brechts Kreidekreis brennende Fragen dieser Menschen an Familie und Gesellschaft.

Zum Artikel: Salzburger Festspiele: Karin Henkel adaptiert Hanekes "Liebe"

Es waren tatsächlich große Fragen, mit denen das diesjährige Salzburger Festspielprogramm sein Publikum konfrontierte, ohne sich Antworten anzumaßen. "Refugees out" steht in Bohuslav Martinůs: "The Greek Passion" am Schluss in riesigen Lettern auf der Bühnenwand und die Flüchtlinge müssen erneut fliehen. Das Gefühl tiefer Beunruhigung bleibt.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!