Kämpfer auf einem Panzer mit Tarnnetz am 14. Mai 2023
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Unter Druck: Russische Soldaten

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"Armee auflösen": Rechnet Russlands Geheimdienst mit Niederlage?

Immer aggressiver wird die russische Armeeführung von nationalistischen Militärbloggern kritisiert, manche wollen einen radikalen Neuanfang wie unter Trotzki. Experten glauben, dass Putins Agenten dahinter stecken: "Man muss nach Schuldigen suchen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Das "Friendly Fire" auf die russischen Generäle wird allmählich ohrenbetäubend, so massiv, wie sie aus dem eigenen Land unter Beschuss genommen werden. Die Militärblogger lassen kein gutes Haar mehr an der eigenen Armeeführung, werfen ihr völliges Versagen vor: "Tatsächlich handelt der Feind zuerst und zwingt uns seinen Willen fast an der gesamten Front auf. Das nennt man Ergreifen der strategischen Initiative. Denn wir führen keine Verteidigungsoperation durch wie einst in der Schlacht von Kursk [1943], um dann einen mächtigen Gegenangriff voranzutreiben."

Was kurzfristig drohe, könne jeder "Idiot" erraten, urteilt das Portal "Rybar" mit 1,1 Millionen Abonnenten: "Die Ukrainer erfüllen ihre Hauptaufgabe: Sie zwingen die Streitkräfte der Russischen Föderation, ihre Kräfte zu überdehnen und die kampfbereitesten Einheiten aus anderen kritischen Gebieten abzuziehen und sie in bedrohte Frontabschnitte zu verlegen. Leider müssen wir mitspielen."

"Stärker als Sie denken"

Speziell in der umkämpften Stadt Bachmut sei Russland genötigt, die "erfahrensten Einheiten" zu konzentrieren, um die dortigen Flanken zu sichern. Die Lage ist offenbar aus Sicht Moskaus alles andere als ermutigend. Russische Soldaten mussten wichtige Stellungen preisgeben, behaupten Beobachter wie "Wargonzo" (1,3 Millionen Abonnenten): "Es gelang uns nicht, die verlorenen Positionen zurückzugewinnen." Söldnerführer Prigoschin nutzte das abermals für eine höhnische Bemerkung über die Generäle: Zwar spreche das Verteidigungsministerium neuerdings offiziell von "vorteilhafteren Verteidigungslinien", tatsächlich jedoch würden "weite, mit dem Blut unserer Mitstreiter getränkte Gebiete" aufgegeben.

Kein Wunder, dass die Patrioten vor Wut schäumen und nicht davor zurückschrecken, die eigenen Generäle zu schmähen: "Am am meisten demotiviert der Informationsmangel – sowohl hinten als auch vorn", schreibt der Blogger Golowanow: "Menschen mögen es nicht, wenn man sie belügt." Unwissenheit sei schädlicher als Katastrophennachrichten.

Die Ultrapatrioten drohen inzwischen sogar ganz offen der Armeeführung. So forderte der Rechtsextreme Igor Strelkow, der schon länger eine Niederlage prophezeit, in polemischer Absicht: "Es bleibt nur die Auflösung der Armee - genau, wie es Genosse Trotzki 1918 forderte - und dann kommt der Bürgerkrieg." Im populären Blog "Die zwei Majore" heißt es unheilverkündend, die Nationalisten seien "stärker miteinander vernetzt als Sie denken". Sie forderten "echte Veränderungen in unserem gesellschaftlichen Aufbau": "Tatsächlich hat der gesamte Verlauf der Spezialoperation diese soziale Bewegung hervorgebracht." Hauptanliegen der Patrioten sei demnach, "den gewohnten Ablauf der Dinge und geschönte Berichte zu stören". Es gebe eben einen Unterschied zwischen "Ultrapatrioten" und "Hurrapatrioten".

"Wir sind am Arsch"

In der Wortwahl gibt es inzwischen selbst bei Leuten wie dem ehemaligen russischen Wirtschaftsminister Andrej Netschajew (1992/93) keine Geschmacksgrenzen mehr: "Das wir am Arsch sind, ist nicht mal das Schlimmste, sondern dass wir uns darin häuslich eingerichtet haben." Das sollte eine Aufforderung sein, die wirtschaftliche Lage nicht noch schlimmer zu machen, als sie in Wirklichkeit ist. Netschajew empfahl dringend, die Ausgaben für den Krieg zu reduzieren, andernfalls werde selbst Russland im kommenden Jahr auf Auslandskredite angewiesen sein.

Experten vermuten, dass die Wut der Blogger sowohl Präsident Putin persönlich, als auch dem Geheimdienst zugute kommt. In der Anfangsphase des Krieges hatte die Armeeführung nämlich versucht, die frühen militärischen Fehlschläge auf vermeintlich falsche Informationen durch die Geheimdienste zurückzuführen. So hatten die russischen Soldaten angeblich tatsächlich geglaubt, sie würden in der Ukraine von der Mehrheit der Bevölkerung "freudig" erwartet. Putins Agenten standen dadurch unter Rechtfertigungszwang. Jetzt schlagen sie nach Meinung von Leuten wie dem russischen Oppositionspolitiker Maxim Resnik gegen die Armeeführung zurück.

"Geniales, furchtbares, eingängiges Sinnbild"

Er ist überzeugt, dass "viele Leute", auch der umstrittene Söldnerführer Prigoschin, aus dem Kreml mit Hilfe der Geheimdienste instrumentalisiert werden, um die Generäle für die erwartete Niederlage verantwortlich zu machen: "Wer ganz oben in der Putin-Vertikale steht, versteht das absolut vollkommen. Wenn vielleicht auch noch nicht Putin persönlich, so hat natürlich schon längst sein Gefolge die Erkenntnis erreicht, dass eine Niederlage unvermeidlich ist. Man muss jetzt nach Schuldigen suchen, sein eigenes Schicksal nach dem 'Opa', nach Putin, nach diesem Exzentriker im Auge behalten. Prigoschin macht genau das."

Dass die Blogger nur als Sprachrohr dienen, glaubt auch der kremlnahe Politologe Sergej Markow: "Militärkorrespondenten äußern nicht ihre Position, sondern die Position derjenigen, die an der Front kämpfen. Und genau diese Position genießt die enorme Unterstützung der russischen Gesellschaft." Weil das Verteidigungsministerium "aus irgendeinem Grund" nicht kommuniziere, sei die "gesamte Gesellschaft" auf die Blogger angewiesen, um "Verständnis für das Geschehen" zu entwickeln. Das klingt in der Tat sehr danach, dass der Kreml beim Armee-Bashing seine Finger im Spiel hat.

Auch der im Ausland lebende russische Publizist Leonid Schwets glaubt, dass Putin und sein innerster Zirkel über Bande spielen und hinter den lautstarken Militärbloggern stecken: "Warum wird Prigoschin gebraucht? Generell benötigen wir eine Figur, die nachlässigen Beamten und Militärs in die Waden beißt. Putin braucht einen Mann, der sagt, [Verteidigungsminister] Schoigu und [Armeechef] Gerassimow seien Idioten." Für diesen Zweck sei der von Prigoschin so gern zitierte "Vorschlaghammer" übrigens ein "geniales, furchtbares, aber eingängiges" Sinnbild: "Es hat funktioniert, man kann ihn in allen Geschäften kaufen und dann derart hässliche Geschenke machen."

"Druck auf den Kreml-Chef ausüben"

Der ukrainische Analyst Stefan Zachrewski schreibt im Portal "Hvylya", es sei schon auffällig, dass die Militärblogger Tag für Tag auf die Generäle losgehen, aber Geheimdienstchef Nikolai Patruschew mit jedweder Kritik verschonen - obwohl das Versagen der russischen Agenten bei Kriegsausbruch doch augenfällig war. Dass Putin beharrlich von "Spezialoperation" statt von einem Krieg spricht, wird auch als Indiz dafür gesehen, dass er als Ex-Agent den Angriff auf die Ukraine als Angelegenheit des Geheimdiensts betrachtete, die mit Hilfe der Armee "auf die Schnelle" durchgeführt werden sollte.

Zachrewski glaubt, dass Patruschew und seine Leute im Gleichklang mit den Bloggern auf eine "Militarisierung der Gesellschaft" setzen, einschließlich des landesweit ausgerufenen Kriegsrechts: "Tatsächlich versucht Patruschew, mit Hilfe der Nationalisten Druck auf den Kremlchef auszuüben, indem er russische 'Turbopatrioten' einsetzt, die vollständig von den Tschekisten kontrolliert werden, und die Putin Unentschlossenheit und Unwilligkeit vorwerfen, unbedingt bis zur vollständigen Zerstörung der unabhängigen Ukraine weiter zu kämpfen."

Der russische Geheimdienst könne kein Interesse an Friedensverhandlungen und dem Teilrückzug aus eroberten Gebieten haben, sondern eher daran, allen zu beweisen, dass er im Zweifelsfall "erfolgreicher als Putin" sein könne. Im Übrigen habe auch China kein Interesse an einem vollständigen Zusammenbruch des Regimes. Letztlich setze Patruschew darauf, spätestens nach der russischen Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr seinen Geheimdienst zum alleinigen Machtzentrum auszubauen - und andere Institutionen wie die Armee als Konkurrenten auszuschalten. Vorbild könne der Iran sein, wo die Revolutionsgarden und die Mullahs auch deutlich wichtiger seien als die Armee-Generäle.

"Er muss offenbar keine Angst haben"

Diese Thesen sind nicht völlig abwegig. So widmete die russische Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" (NG) einem wüsten Streit zwischen dem pensionierten Armee-General und jetzigem Parlamentsabgeordneten Viktor Sobolew auf der einen und Söldnerführer Prigoschin auf der anderen Seite kürzlich eine ausführliche Analyse, die zu ähnlichen Resultaten kommt.

Sobolew ist Kommunist alter Schule, regte sich darüber auf, dass "Blogger schreiben, was sie wollen", bezeichnete das als "absolut inakzeptabel" und hält die "Wagner"-Söldner für einen Haufen asozialer Elemente. Jeder Soldat, der von der offiziellen Armee zu Prigoschins Truppe wechsle, müsse mit 15 Jahren Gefängnis bestraft werden, forderte er. Russland brauche keine "Privattruppe", so Sobolew, deshalb müssten alle Söldner dem Verteidigungsministerium unterstellt werden. Dafür wurde der betagte General von Prigoschins Leuten als "Schwuchtel" beschimpft, die wohl unter "antirussischem Durchfall" leide.

So drastische Worte könne sich Prigoschin nur leisten, weil seine Hintermänner "an der Macht" seien, urteilt Iwan Rodin, der Innenpolitik-Chef der NG: "Er muss offenbar keine Angst vor möglichen rechtlichen Konsequenzen haben." Ganz im Gegenteil: Sobolew sei den "Medien förmlich zum Fraß vor geworfen" worden, ungeachtet der Tatsache, dass der Ex-General beste Verbindungen zum jetzigen Armeechef Gerassimow haben soll. So, wie es die oben zitierten Experten sehen, könnte gerade das dazu beigetragen haben, den Konflikt zu verschärfen. Mit Sobolew traf Prigoschin letztlich die ganze Armee, und das scheinen einflussreiche Kreise in Moskau sehr zu genießen.

Der erwähnte Sergej Markow lässt daran keinen Zweifel und will erfahren haben, dass Sobolew von ganz oben "streng verwarnt" worden sei: "Heutzutage zerstört ein öffentlicher Streit mit den Wagner-Söldnern jeglichen guten Ruf, denn die große Mehrheit der russischen Gesellschaft unterstützt sie und fordert ein härteres, härteres und noch härteres Vorgehen."

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