Foto des Söldnerchefs inmitten von roten Nelken
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Trauer um Jewgeni Prigoschin

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Prigoschins Beerdigung: Kreml fürchtet "negative Folgen"

Noch hat Moskau nicht einmal offiziell bestätigt, dass der Söldnerchef gestorben ist, schon gibt es hektische Debatten über die öffentliche Trauer um ihn: Die landesweiten Demonstrationen könnten "regierungsfeindlich" werden, so Propagandisten.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der Kreml habe drei Möglichkeiten, mit dem Tod von Jewgeni Prigoschin umzugehen, so der gewöhnlich gut informierte Propagandist und "Politologe" Sergej Markow: Putin könne einfach abwarten und nichts tun, dann sei nicht auszuschließen, dass die Beerdigung des Söldnerchefs zu einer "großartigen patriotischen Demonstration" werde, die "auch einen regierungsfeindlichen Charakter" annehmen könne, mit "unerwarteten negativen Ergebnissen". Falls der Kreml die Trauerkundgebungen verbiete, könne das die "Patrioten" der Regierung noch weiter entfremden und auch in Russland die These stärken, dass Putin hinter dem mutmaßlichen Bombenattentat stecke. Drittens sei denkbar, dass der Kreml selbst eine Bestattung mit den "richtigen politischen Parolen" organisiere, aber dafür müsse sich jemand hergeben, der das Ganze verantworte.

"Nur wer nichts tut, macht keine Fehler"

Auf jeden Fall müssten die Kreml-Bürokraten ihre Angst hinter sich lassen, dass jedwede öffentliche Trauerfeier politisch außer Kontrolle geraten könne. Unbedingt müsse Putin den Verstorbenen und dessen Kameraden öffentlich als "Helden" feiern lassen: "Wagners Führer haben schwere Fehler gemacht, aber nur wer nichts tut, macht keine Fehler." In Russland gilt Markow als einer der Gewährsmänner der Brüder Juri und Michail Kowaltschuk, die zu den intimsten Freunden von Putin zählen und zu denen gehören sollen, die dem Präsidenten zum Angriff auf die Ukraine geraten haben. Beide gelten nicht gerade als Fans des russischen Verteidigungsministeriums, sondern sollen den Aufstieg von Prigoschin betrieben haben.

Russische Forensiker meldeten sich bereits mit der Prognose, es werde "mindestens zwei bis drei Wochen" dauern, bis die sterblichen Überreste Prigoschins zur Bestattung freigegeben werden könnten, eventuell auch einen Monat. Damit gewinnt der Kreml erst mal Zeit zur Orientierung.

"Kann es sein, dass wir das wiederholen?"

Es fehlt nicht an Stimmen, die darauf verweisen, dass bereits einmal in der modernen russischen Geschichte die Beseitigung eines Rebellen eine Revolution befeuerte: Der Bolschewist Nikolai Bauman wurde am 31. Oktober 1905 von einem Royalisten ermordet und dadurch zu einem der ersten "Märtyrer" der folgenden Revolution: "Mehr als 300.000 Menschen folgten Baumans Sarg. Moskau habe noch nie eine solche Beisetzung gesehen, sagten Zeitgenossen. Fünfzig Tage nach der Beerdigung von Bauman begann in Moskau ein bewaffneter Aufstand." Die Bestattungsvorbereitungen für Bauman seien der "Kristallisationspunkt" für die Bildung bewaffneter Arbeitertrupps gewesen: "Der Aufstand von 1905 war zum Scheitern verurteilt, sinnlos und blutig. Kann es sein, dass wir das wiederholen?"

"Gott bewahre, dass es Kundgebungscharakter annimmt"

In Leserforen raunen viele Teilnehmer von möglichen Unruhen nach Prigoschins Ableben: "Die Menschen werden sich erst mal beruhigen und ihn anständig begraben. Und dann könnte das Rachebedürfnis wieder aufleben, wenn das Gefühl frisch bleibt. Gott bewahre, dass es Kundgebungscharakter oder Kampagnendimension annimmt, wonach die Menschen erkannt haben, dass Vereinbarungen [mit dem Regime] nicht zum Guten führen." Andere machen sich lustig über die "Bestattung eines Nachnamens auf der Passagierliste" oder stellen sich bereits die Präsentation der Gebeine des "Heiligen Prigoschin" vor. Es wird auch fabuliert: "Was ist, wenn Verwandte sich weigern, DNA abzugeben, oder es keine Verwandten gibt oder sich bei der DNA-Untersuchung herausstellt, dass Verwandte überhaupt keine Verwandten sind?"

Längst hat die Debatte über die Bestattung von Prigoschin eine Eigendynamik entfaltet. Quer durchs Land entstanden Trauerstätten, die in verschiedenen Telegramm-Kanälen dokumentiert werden. Angeblich haben örtliche Behörden, etwa in Rostow am Don, zunächst versucht, die Blumen und Fotos schnellstens zu beseitigen, mussten jedoch feststellen, dass bald wieder neue bereitlagen. Der Kreml sieht sich vor die Herausforderung gestellt, mit dieser emotionalen Welle irgendwie umzugehen. Erschwerend kommt hinzu, dass angeblich einige afrikanische Regierungschefs damit liebäugeln, zu Prigoschins Beisetzung anzureisen, um in Moskau diskret vorzufühlen, wer sie künftig militärisch unterstützen könnte.

"Regierung ist gegen Prigoschins Verherrlichung"

In Moskau laufen Gerüchte um, dass Putins Vertrauensmann und einer der denkbaren "Kronprinzen" Sergej Kirijenko, der sich häufig in den besetzten Gebieten sehen lässt, vorgeschlagen habe, eine "bedeutungsvolle Beerdigung für Prigoschin, den Helden Russlands" abzuhalten und eine "breite patriotische Trauerbewegung" für die Führungscrew der Wagner-Privatarmee zu unterstützen. Dagegen seien das Verteidigungsministerium, aber auch Putins eigene Verwaltung der Ansicht, eine möglichst bescheidene Beerdigung reiche völlig aus, am Besten im besetzten Donezk, also weitab von Moskau. Eventuell komme auch St. Petersburg in Frage: "Die Regierung und das Verteidigungsministerium sind kategorisch gegen eine Verherrlichung von Prigoschin und sie sind nicht zu Kompromissen bereit."

Sollte Prigoschin "Reich des Lichts" heraufbeschwören?

Russische Politologen verbreiten schon länger die Mär, tatsächlich sei Prigoschin von Putin persönlich gegen die Bürokratie im Militärapparat, vor allem gegen den Generalstab installiert worden. Der Präsident habe seiner eigenen Herrschaft mit der umtriebigen Privatarmee als "Sturmtruppe" quasi eine "Frischzellenkur" verordnen wollen und insgeheim auf Prigoschins Erfolg "gewettet", bevor der sich politisch selbständig gemacht habe. Letztlich habe Putin damit das ganze System destabilisiert: "Was wir heute Prigoschins Aufstand nennen, war in Wirklichkeit ein unverhüllter öffentlicher Zusammenstoß zwischen einem widerstandslosen, sterbenden politischen System und einem außerhalb stehenden, möglicherweise profaschistischen Antisystem, das den ineffektiven Staat wie ein Schwarzes Loch verschlingen sollte, um das Reich des Lichts heraufzubeschwören."

"Genauso haben sie nach Hitler gesucht"

Demnach wäre die "Gefechtslage" in Moskau also komplizierter, als es auf dem ersten Blick aussieht. Offenbar haben zumindest Teile der Propagandisten ein Interesse daran, Mythen um Prigoschin zu produzieren, die alle Möglichkeiten offen lassen. Jedenfalls verbreiten sie die völlig aus der Luft gegriffene Verschwörungstheorie, der Söldnerchef sei gar nicht gestorben, die "Leichen" seien viel zu sehr verbrannt, um jemals verlässliche Fakten zum Ableben von Prigoschin und seinem Führungsstab vorlegen zu können. Der Kreml könnte womöglich sogar daran interessiert sein, diese Fama nach Kräften zu befördern.

"Solange Menschen an Mythen glauben, stellen sie keine unbequemen Fragen", soll ein Kreml-Bürokrat geäußert haben. Bei den Kämpfern der "Wagner"-Truppe stoßen solche Strategien auf viel Beifall, stärken sie doch potentiell die Loyalität innerhalb der Truppe, die viel vom Gehabe eines "Geheimbunds" hat: "Die Russen glauben an Mythen. Und der Mythos, dass Prigoschin lebt und nichts weiter passiert ist, wird wahrscheinlich noch viele Jahre genährt. Genauso haben sie nach Hitler und Bormann gesucht, jetzt werden sie in Afrika nach Prigoschin fahnden."

Aktuell wird debattiert, ob Prigoschin daheim in St. Petersburg bestattet werden soll, wie es die Familie angeblich bevorzugt, oder als "Held" in Moskau. Daneben käme noch einer der Friedhöfe der "Wagner"-Truppe in Frage, womit posthum die Verbundenheit Prigoschins mit seinen Leuten unterstrichen werden könnte.

"Dann wird das Flugzeug zerbersten"

Im Telegramm-Kanal "Grey Zone", der enge Verbindungen zur "Wagner"-Truppe hat, wird inzwischen offen Richtung Kreml gedroht. Dort und anderswo ist ein "prophetisches" Video von Prigoschin zu sehen, in dem er sagt: "Wir haben immer noch eine goldene Reserve, die nach und nach verschleudert wird, weil diese Reserve unsere Männer mit Eiern sind. Sie sind nicht bereit, dem oberen Management den Arsch zu lecken – sie sind bereit, ehrlich zu sein. Wir haben inzwischen den Siedepunkt erreicht. Warum bin ich so ehrlich? Ich habe kein Recht, die Menschen, die in diesem Land weiterhin leben wollen, anzulügen. Dann tötet mich besser." Russland stehe am "Rande einer Katastrophe", so der Oligarch: "Und wenn wir heute nicht die Schrauben richtig stellen, wird das Flugzeug in der Luft zerbersten."

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