Bei einem Treffen im russischen Verteidigungsministerium im Dezember 2023
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Noch eine Verhaftung: General Wadim Schamarin (rechts) (Archivbild)

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"Wir werden alle verlieren": Unruhe wegen Putins "Säuberungen"

Entgegen seiner eigenen Aussagen lässt der russische Präsident weitere Generäle festnehmen. Jetzt muss sich sogar der stellvertretende Generalstabschef wegen "Bestechlichkeit" verantworten: "Es ist eher ein Kampf um die Macht als um Russland."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Jetzt sitzt auch der stellvertretende russische Generalstabschef Wadim Schamarin in U-Haft, wegen "Bestechlichkeit in besonders großem Umfang". Gerüchteweise hieß es, der oberste Kommunikationschef der russischen Armee könne sich bei der Vergabe von Funkfrequenzen bereichert haben.

Erinnerungen an Stalin werden wach

Es ist bereits der fünfte Kommandeur, der festgenommen wurde, obwohl Präsident Putin seiner Generalität nach dem Austausch der Führungsspitze des Verteidigungsministeriums noch vor wenigen Tagen versichert hatte, weitere "Säuberungen" seien nicht geplant. Umso aufgeregter sind die Reaktionen, bis hin zu Spekulationen über eine "aufgedeckte Verschwörung" in der Armee.

"Seien wir ehrlich, uns gefällt nicht alles, was passiert, und hier ist der Grund dafür: Russland wird von außen aus fast allen möglichen Richtungen angegriffen, und gleichzeitig haben wir den Eindruck, dass der Kampf mit dem inneren Feind im Vordergrund steht", so einer der meistgelesenen russischen Militärblogger mit 171.000 Followern [externer Link]: "Die Prioritäten scheinen durcheinander geraten zu sein und erinnern eher an einen Kampf um die Macht als an einen Kampf um Russland. Das ist schlimm, in einem solchen Kampf werden wir alle verlieren, auch wenn wir uns daran selbst nicht beteiligen."

Der eine oder andere fühlt sich einmal mehr an Stalin erinnert: "Die russischen Behörden wiederholen die Nachkriegserfahrung Stalins, der vorbeugende Maßnahmen gegen Generäle in die Wege leitete, indem er sie einsperrte und öffentlich bloßstellte. Er ernannte den ehemaligen Chef der Zentralbank der UdSSR zum Chef der Armee. Das führte zur Neutralisierung der politischen Ansprüche der Armee und populärer Generäle, die wähnten, auf einer Ebene mit Stalin zu sprechen."

"Wo es Korruption gibt, gibt es auch Verrat"

Alarmiert zeigte sich auch Semjon Pegow ("Wargonzo"), der mit seinem Telegram-Kanal eine Million Fans propagandistisch auf dem Laufenden hält [externer Link] : "Die spezielle Militäroperation geht irgendwie reibungslos in die spezielle Spionageabwehroperation über. Was gar nicht mal so schlecht ist. Die Beseitigung der Etappenhengste unter den Generälen ist nicht weniger wichtig als die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine. Warum spreche ich von Spionageabwehr? Wo es Korruption und Bestechung gibt, gibt es auch Verrat. Vor allem in Kriegszeiten."

Vor Schamarin waren bereits der General Iwan Popow, Ex-Chef der 58. russischen Armee, der Personalchef und General Juri Kusnezow sowie der stellvertretende Verteidigungsminister Timur Iwanow verhaftet worden. Nahezu zeitgleich mit Schamarin wurde Wladimir Werteletsky wegen "Machtmissbrauch" festgenommen, ein Offizier, der im Ministerium für Auftragsvergaben zuständig war.

Viele weitere Spitzenfunktionäre traten "aus freien Stücken" zurück, darunter auch eine angebliche "Pressesprecherin" von Ex-Verteidigungsminister Sergei Schoigu im Rang einer "Staatsrätin 2. Klasse", die von Bloggern als dessen Geliebte bezeichnet wurde. Grund dafür: Keiner wusste nähere Angaben über die "beruflichen Aktivitäten" der 33-jährigen, sehr attraktiven Frau zu machen. Niemand wollte die frühere TV-Korrespondentin jemals bei einem Pressetermin gesehen haben. Entsprechend vernehmlich war der Spott.

Peskow: "Es geht auf allen Ebenen weiter"

Kreml-Propagandist Sergei Markow erhoffte sich von den fortlaufenden "Säuberungen", die von ihm auch als solche bezeichnet wurden, eine "Steigerung der Kampfmoral" und die Verbesserung der Kommunikationsausrüstung der Armee: "Lasst die Schaufensterdekorationen sein und orientiert euch an den Bedürfnissen der Front." Andere Bewunderer Putins argumentierten doppeldeutig: "Ja, es gibt keine Hexenjagd, aber eine umfassende Untersuchung. Und wie wir sehen, ist diese Überprüfung hart und effektiv."

Kremlsprecher Dmitri Peskow wollte gegenüber der Nachrichtenagentur RIA Novosti nicht von einer "Säuberungswelle" unter den Generälen sprechen: "Schließlich ist der Kampf gegen Korruption eine Arbeit, die Konsequenz verlangt, es ist eine kontinuierliche Arbeit. Das ist tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil der Aktivitäten unserer Strafverfolgungsbehörden. Von einer Welle im Verteidigungsministerium kann hier keine Rede sein, es geht in allen Ressorts weiter, sei es auf Bundes- oder kommunaler Ebene."

Kriegskorrespondent Alexander Kots mutmaßte, Schamarin habe mal wieder versucht, bei der Vergabe von Funkfrequenzen Geld abzuzweigen, wie auch schon einige andere Offiziere: "Es würde mich nicht wundern, wenn das alte System noch in der einen oder anderen Form am Leben wäre." Schamarins unmittelbarer Vorgänger war 2020 ebenfalls wegen angeblicher Bestechlichkeit verhaftet worden, die "Ermittlungen" dauern bis heute an.

"Wir werden es bald erfahren"

Die Unruhe unter den Militärs wächst nach den spektakulären Festnahmen von Tag zu Tag. "Wir denken auch schon darüber nach, wer als Nächstes dran ist und platzieren Wetteinsätze", heißt es bei einem der Kommentatoren. In der Regierungszentrale habe sich offenbar eine "revolutionäre Lage" ergeben, wird mit Verweis auf Lenin ironisch bemerkt. Kremlfans erhofften sich, dass die Frontsoldaten durch die Säuberungswelle "eine Portion Aufmunterung" erhielten. Starblogger Roman Aljechin verwies auf die desolate Lage bei der militärischen Kommunikation. Schamarin habe mit seiner "Trägheit" Innovationen sabotiert: "Das ist nicht der letzte General, an dem die Front interessiert ist."

Politologe Andrej Nikulin glaubt, dass sich jetzt kein General mehr sicher fühlen kann, weil Putin kampferprobte Offiziere ebenso festnehmen lässt wie uniformierte Bürokraten: "Es scheint, dass nach den Wahlen wirklich eine neue Etappe begonnen hat. Heißt das, dass der Anführer besonderes Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten hat oder handelt es sich um einen Schwächeanfall, um die Besorgnis, dass es in den Köpfen der Militärs gärt, weshalb sie demonstrativ ausgemerzt werden müssen? Wir werden es bald erfahren."

"Kann sein, dass sich was zusammenbraut"

Die einen verglichen Putin bereits mit dem byzantinischen Kaiser Justinian, der seinen Feldherrn Belisar (um 500 - 565) wegen "Verschwörung" in den Hausarrest schickte, nachdem der erfolgreiche General vorübergehend weniger Kriegsglück hatte. Andere spekulierten über Putschgerüchte, speziell, nachdem der populäre General Iwan Popow festgesetzt worden war [externer Link]: "Wenn das der Fall ist, kann es durchaus sein, dass sich im Land etwas Ernstes zusammenbraut, und zwar unter Beteiligung des Militärs. Und das ist, wie man so sagt, eine ganz andere Geschichte, die uns alle direkt betreffen kann."

"Es gibt eine Bedrohung und sie ist sehr real"

Es gehöre zu den "aktuellen" Aufgaben des Kremls, zu verhindern, dass "Menschen, die den Schmelztiegel an der Front mitgemacht" hätten, ihre Waffen gegen die eigene Führung richteten. Das schrieb jedenfalls der Nationalist Igor Skurlatow (370.000 Fans) mit verblüffender Offenheit [externer Link] : "Diesen Menschen muss dabei geholfen werden, zur Besinnung zu kommen und eine anständige und friedliche Stellung in der Gesellschaft einzunehmen, ihnen Rechtsbeistand zu leisten usw. Die dringende Aufgabe besteht darin, diese Menschen buchstäblich daran zu hindern, ihre Waffen gegen die eigenen Behörden zu richten! Es gibt eine solche Bedrohung und sie ist sehr real. Es bleibt viel Arbeit zur sozialen Integration." Warnend verwies Skurlatow auf die russischen Afghanistan-Kämpfer, von denen sich einige der Trunksucht ergeben hätten, andere seien kriminell geworden.

Der rechtsextreme Aktivist und "Schriftsteller" Sachar Prilepin ätzte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis dem verstorbenen Söldnerführer und Rebellen Jewgeni Prigoschin im russischen Verteidigungsministerium ein Denkmal gewidmet werde. Prigoschin hatte die Generäle wegen angeblicher Unfähigkeit wüst beschimpft und kam bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz ums Leben: "Wir denken jetzt natürlich unweigerlich an die sogenannten Militärblogger im sicheren Hinterland, die im Dienste der Generäle standen und zwei Jahre lang die wirklichen Militärkorrespondenten in Staub und Dreck getreten haben, wenn sie versuchten, Mängel aufzudecken."

"Außerkampfbedingte Verluste russischer Generäle"

Bei den "Zwei Majoren" (700.000 Fans) war mit Bitternis zu lesen: "Die korrupten Beamten haben den Oberbefehlshaber im Jahr 2022 tatsächlich im Stich gelassen und waren nicht in der Lage, ihre Schuld durch ihre Arbeit während der Spezialoperation zu büßen. Verhaftungen werden nicht zu sofortigen Ergebnissen führen. Die neuen Beamten müssen hart und beharrlich an der Feinabstimmung der Mechanismen arbeiten."

Der russische Exil-Politologe Wladimir Pastuchow argumentierte, Putin stärke derzeit die Geheimdienste massiv gegenüber der Armee [externer Link]: "Wenn sich dieser Trend fortsetzt, werden die außerkampfbedingten Verluste russischer Generäle durch Angriffe des Inlandsgeheimdiensts FSB bald die Kampfverluste durch Angriffe der ukrainischen Streitkräfte übersteigen. Der logische nächste Schritt wäre, mit der Suche nach verkappten Agenten der Streitkräfte der Ukraine im FSB zu beginnen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen."

Durch die derzeitige "unermessliche" Stärkung würden die Geheimdienste allerdings selbst zur Bedrohung für Putin, sodass der Präsident über kurz oder lang nicht darum herumkomme, auch sie zu "säubern": "So beginnt normalerweise die Perestroika."

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