Der russische Präsident an einem langen Tisch mit Generälen
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Putin mit seinen Kommandeuren

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"Putin hat Angst vor der Armee": Weiterer General festgenommen

Ausgerechnet der russische General, der die ukrainische Sommeroffensive des vergangenen Jahres aufgehalten hat, wurde wegen Korruption festgenommen. Militärblogger sind außer sich, Politologen mutmaßen, Putin werde nachts von "Geistern" heimgesucht.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Diese Festnahme ist bedeutender als alle vorherigen", so der russische Exil-Politologe Wladimir Pastuchow [externer Link] über die Verhaftung von General Iwan Popow, dem Ex-Kommandeur der 58. russischen Armee, die im vergangenen Sommer die ukrainische Offensive aufhielt und dafür einen hohen Blutzoll zahlte. Popow wird "Betrug" vorgeworfen, er soll angeblich 2.000 Tonnen Metallarmierungen, die zur Befestigung der Front gedacht waren, für private Zwecke verwertet haben. Popow war bei den Soldaten sehr beliebt, auch deshalb, weil er nicht mit herber Kritik am russischen Verteidigungsministerium sparte.

"Prigoschin erscheint Putin nachts"

"Diese Verhaftung bestärkt mich in der Überzeugung, dass das wirkliche Weltbild [im Kreml] ganz anders ist als das öffentlich behauptete", so Pastuchow: "Putin hat zunehmend Angst vor der eigenen Armee, ihren Generälen, ihrem Rückgrat, den Kampftruppen. Der Geist von [dem verstorbenen Söldnerführer und Rebellen] Prigoschin erscheint ihm nachts, und das offenbar aus gutem Grund. Aus heutiger Sicht wird es immer offenkundiger, dass das Ergebnis [des Aufstands vom 23. Juni 2023] schon damals hätte völlig anders ausfallen können, wenn der Anführer nicht der St. Petersburger Kriminelle Prigoschin gewesen wäre, der in der Armee unbeliebt war, weil er sie öffentlich gedemütigt hatte."

Unterdessen wurde bekannt, dass auch der stellvertretende russische Generalstabschef Wadim Schamarin wegen Bestechlichkeit "in besonders großem Umfang" inhaftiert wurde. Zuvor waren bereits der Personalchef des Militärs, Juri Kusnesow, und der stellvertretende Verteidigungsminister Timur Iwanow in mehrmonatige Untersuchungshaft geschickt worden.

"In einem Wolfsrudel muss man heulen"

General Popow hatte mit Prigoschins heftigen Attacken auf den damaligen Verteidigungsminister Sergej Schoigu kokettiert und galt als Sympathisant der "Wagner"-Söldner. Auch Popow hatte sich entsetzt gezeigt über mangelnden Munitionsnachschub und vermeintliche Organisationsprobleme der russischen Armeeführung.

Die greise Mutter von Popow schimpfte in einer Wolgograder Zeitung [externer Link], ihr Sohn sei festgenommen worden, weil er "nicht still und feige" geblieben sei, sondern die "Wahrheit" öffentlich ausgesprochen habe. Eine Flut von Leserkommentaren war die Folge: In Russland möge leider niemand die "Wahrheit", hieß es da, sie mache nur "Probleme". Popow sei wohl hereingelegt worden: "In einem Wolfsrudel muss man wie ein Wolf heulen, nicht bellen. Sonst wirst du gefressen. Es scheint, dass er zunächst wie alle anderen in einen Betrug verwickelt war und ihn dann sein Gewissen quälte und er sich dem System widersetzte. Das Ergebnis ist offensichtlich."

"Ich werde nicht fluchen"

Wladimir Rogow, früher Chef der russischen Weltraumbehörde und jetzt einer von Putins Propagandisten in den besetzten Gebieten, sprach ungewöhnlich offen von einem "schrecklichen Fehler". Die Russen seien "schockiert", die Ukrainer könnten triumphieren. Wenn Popow, Kampfname "Spartak", wirklich korrupt sei, so Rogow, hätte er wohl kaum den Unwillen seiner Vorgesetzten auf sich gezogen: "An der Front gilt er als Champion!"

TV-Berichterstatter Alexander Sladkow bezeichnete Popow demonstrativ als "Freund": "Ich werde nicht fluchen oder anklagen, um die Situation nicht zu verschlimmern. Aber eines weiß ich: Iwan stand an der Spitze der Kräfte, die die in ihrer Tragik und Intensität unvorstellbare Gegenoffensive des Feindes abwehrten." Dummen Menschen könne man Lügen verzeihen, intelligenten Leuten wie Popow die Wahrheit. Es gab von anderer Seite auch Hinweise auf Stalins große "Säuberung" unter den Generälen im Juni 1937. Insgesamt wurden damals etwa 35.000 von insgesamt 178.000 militärischen Führungskräften festgenommen, viele von ihnen hingerichtet.

"Popow ist Wortführer der Frontkämpfer"

Die Militärblogger äußerten sich "eindeutig negativ" zur Festnahme des populären Generals, wie sogar Kreml-Propagandist Sergej Markow einräumen musste: "Diese Community spiegelt die Meinung der Frontkämpfer wider. Popow ist ihr inoffizieller Wortführer. Und tatsächlich ihr politischer Vertreter. Deshalb warten alle darauf, welche Position der neue Verteidigungsminister einnehmen wird. Jede Reaktion von Andrej Beloussow, selbst eisernes Schweigen, wird seine Position zu diesem wichtigen Thema demonstrieren. Davon wird abhängen, wie ihn Offiziere und Frontsoldaten einschätzen werden."

So aggressiv wie manche russischen Beobachter auf den Fall reagierten, hätte Wladimir Putin tatsächlich Grund für Albträume. Einer der Blogger fragte die Generäle, was sie eigentlich noch von "Toilettenpapier" unterscheide, wo sich doch jeder russische Politiker an ihnen "abwische": "Ihr habt eine Waffe in der Hand! Warum zum Teufel lasst ihr euch so erniedrigen und findet euch damit ab?"

Einer der nationalistischen Militärblogger schrieb: "Ich weiß nicht, ob Popow wirklich irgendwelche Pläne zur Entwendung von Metallprodukten für Befestigungsanlagen geschmiedet hat, aber ich weiß mit Sicherheit, dass wir ohne seine unmittelbare Führung bei der Organisation der Abwehrlinie kaum in der Lage gewesen wären, den Ukrainern standzuhalten." Der vielgelesene Blogger und TV-Propagandist Alexander Kots warnte vor "Emotionen" und gab zu bedenken, dass Generäle üblicherweise "kämpfen, nicht bauen". Insofern könnten auch Subunternehmer für Unterschlagungen verantwortlich sein.

"Beliebter General, der Fehler macht"

Ähnlich drückte es der wichtigste russische Telegram-Kanal für Militärthemen (1,2 Millionen Fans) aus: "In diesem Zusammenhang muss man den wichtigsten Aspekt im Auge behalten: Iwan Popow war beim Personal beliebt. Ein General, der Fehler macht, und ein beliebter General, der Fehler macht, das sind aus Sicht des Systems zwei völlig unterschiedliche Angelegenheiten." Demnach suchte der Kreml einen Grund, einen potenziell gefährlichen Kritiker endgültig loszuwerden. Popow war im vergangenen Juli entmachtet und nach Syrien versetzt worden, wohl weil seine Rhetorik zu "rebellisch" wirkte.

Es gebe "weitaus geeignetere Kandidaten" für Festnahmen, wetterte das Portal. Es gebe "keinen Hauch von Gerechtigkeit": "Ob die Sünden von irgendjemand anderem Iwan Popow in die Schuhe geschoben werden sollen, ob er wirklich die Schuld trägt, die ihm vorgeworfen wird, ist in diesem Fall nicht so wichtig. Wir sehen, dass viele der Vorfälle, die heute von der militärischen Spionageabwehr verfolgt werden, Episoden betreffen, die sich vor drei oder vier Jahren abgespielt haben und für die jetzt der Befehl 'schnell reagieren' erteilt wurde."

Verteidigungsminister: "Wir dürfen nicht lügen"

Der Kommentator Roman Aljechin (125.000 Fans) fragte sich [externer Link], wie ein General 2.000 Tonnen Metalle auf eigene Faust unterschlagen könne, da müssten viele beteiligt gewesen sein: "Entweder kommt da noch mehr ans Licht, oder es stellen sich in der Truppe viele Fragen." Darüber hinaus zeigte sich Aljechin, und nicht nur er, entsetzt über "Lügen" von Generälen "in trockenen und gut geheizten Büros". Grund dafür: Abermals waren offiziell "Siegesmeldungen" über die Einnahme von Dörfern verbreitet worden, die sich im Nachhinein als verfrüht herausstellten, und das, wo der neue russische Verteidigungsminister Beloussow bei Amtsantritt gesagt hatte: "Wir können Fehler machen, aber wir dürfen nicht lügen."

An bitteren Bemerkungen zu Popows Festnahme fehlt es nicht: "Sie werden die gescheiten Leute ausmerzen, die Autorität genießen und keine Angst davor haben, ihren Vorgesetzten die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wie Popow. Unsere Regierung braucht keine talentierten und unabhängig denkenden Leute, sondern engstirnige und effiziente Personen. Das einzig Positive daran ist, dass die 'Säuberungen' ein klares Anzeichen für die Beendigung des Krieges und ein Vorbote einer neuen großen Armeereform sind."

"Gerassimows Hass ist groß"

Der Fall habe ein "großes demoralisierendes Potenzial", so ein Militärblogger mit 100.000 Followern [externer Link]. Tatsächlich sinne der russische Generalstabschef Wladimir Gerassimow auf Rache, seit Popow ihn wegen seiner behaupteten Versäumnisse öffentlich beschimpft habe: "Gerassimows Hass auf eigensinnige und vielversprechende Kommandeure ist so groß, dass hochkarätige Prozesse gegen die beginnen, die die gesamte Armee diskreditieren." Auch die Geheimdienste seien derzeit "sehr nervös", weil jeder wisse, dass es dort ebenso viel Korruption gebe wie im Militär, allerdings "viel komplexer und weniger sichtbar, ganz im Sinne der KGB-Tradition der absoluten Verschwiegenheit".

Putin persönlich hatte seinen Spitzenkommandeuren erst vor wenigen Tagen, nach der Ablösung von Verteidigungsminister Schoigu und der Festnahme der oben erwähnten Generäle versprochen, weitere "Säuberungen" seien nicht geplant. Das erwies sich als unzutreffend und dürfte die Nervosität in Militärkreisen erheblich erhöhen. In den Kreisen der Militärblogger werden bereits mehrere weitere "Kandidaten" unter den Generälen genannt, die mit Festnahmen rechnen müssten.

"Anständig oder nicht, ist zweitrangig"

Exil-Politologe Anatoli Nesmijan zieht angesichts von Popows Festnahme eine Parallele [externer Link]: "Im Allgemeinen ähnelt das alles in gewisser Weise der Situation in der Türkei, wo das Militär aufgrund seiner Illoyalität gegenüber der obersten Führung und Verschwörungen ebenfalls regelmäßig aufgescheucht und inhaftiert wurde. Bei uns scheint es sich nicht um eine Verschwörung zu handeln, es gibt nur Widerstand und Unzufriedenheit, aber hochrangige Militärs reagieren darauf in gleicher Weise. Wenn man bedenkt, welche riesigen materiellen Vermögenswerte und Gelder durch die Hände der Kommandeure gehen, ist es ein Kinderspiel, selbst bei einem absolut ehrlichen General ein Verbrechen zu finden. Vor allem, wenn Sie sich das gezielt vornehmen. Ob er anständig ist oder nicht, ist zweitrangig."

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