Kreuz vor Wolkenhimmel, Symbolbild für Missbrauch in der Kirche
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Was lange tabu war, ist jetzt sichtbar: massenhafter sexueller Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche.

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Schweigen und Vertuschen: Die Todsünden der katholischen Kirche

Priester als Täter, Kinder als Opfer. Was lange tabu war, ist jetzt sichtbar: massenhafter sexueller Missbrauch im Umfeld der Katholischen Kirche. Doch immer noch vertuscht und relativiert die Kirche. Und der Staat? Auch er schaut oft weg. Warum?

Über dieses Thema berichtet: DokThema am .

Die Katholische Kirche zählt über 600.000 Bischöfe, Priester, Diakone und Ordensbrüder. Einige unter ihnen vergewaltigen Kinder. Andere leisten Beihilfe, indem sie schweigen. Und das seit Jahrhunderten. Und weltweit. Erst seit wenig mehr als 20 Jahren regt sich breiter Protest gegen den massenhaften sexuellen Missbrauch im Schutz einer Kirche, die sich heilig nennt. Immer neue Fälle, horrende Zahlen, schleppende Aufklärung und noch zögerlichere Entschädigungszahlungen haben die Institution Kirche in eine tiefe Krise gestürzt. Hunderttausende kehren ihr den Rücken.

"Es erinnert an mafiöse Strukturen, so funktionieren kriminelle Organisationen in ihrem Inneren", erklärt Matthias Katsch in DokThema. Er ist eines der vielen Opfer und einer der wenigen, die bisher Gesicht zeigen. Die Kirchenoffiziellen bringen den Opfern oft weniger Verständnis entgegen als den Tätern – und es wird immer noch vertuscht. Und relativiert. "2.000 Jahre Kirchengeschichte sind nicht nur 2.000 Jahre des Missbrauchs, sind auch 2.000 Jahre von großen Aufbrüchen und großen Gestalten", betont Kardinal Reinhard Marx, der von sich selbst sagt, dass ihn diese Vorwürfe in seinem "Glauben niedergedrückt" und sein "Verhältnis zur Kirche verändert" haben.

Kirche als Machtfaktor

Für die kirchliche Ordnung ist so ein sexueller Missbrauch etwas anderes als für die weltliche, ist sich die Theologin Doris Reisinger – eine ehemalige Nonne – sicher: "Wenn man in dieser institutionellen Logik geprägt ist über Jahrzehnte des eigenen Lebens, sieht man womöglich wirklich nur das, was das kirchliche Strafrecht sieht, nämlich ein sexuelles Vergehen eines Klerikers gegen seine Zölibatspflicht an einem Kind oder an einem verletzlichen Erwachsenen. […] Das kirchliche Strafrecht kennt auch keine Opfer, wenn es um sexuellen Missbrauch geht." Wo kein Opfer, da eben auch kein Täter - sondern ein Sünder. "Und dann wird ihm vergeben. So einfach ist das", so die Theologin.

Doch wie kann es sein, dass alle Enthüllungen und Skandale den engen Beziehungen des Vatikans zu Regierungen scheinbar bis heute nicht geschadet haben? Die Katholische Kirche ist seit Jahrhunderten ein Machtfaktor mit Einfluss auf Politik und Gesellschaften rund um den Erdball. Auch in Deutschland. "Etwas, was wir vergessen, ist, dass die Kirche auch und nicht zuletzt eine politische Organisation ist, die politischen Einfluss ausübt in ihren eigenen Interessen. Und das hat sie in Deutschland sehr lange, sehr ungestört, sehr intensiv getan. Bis heute", sagt Theologin Doris Reisinger.

Im Video: Der zweite Teil der Dokumentation

Heiligenfigur in einer Kirche
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Schweigen und Vertuschen - Die Todsünden der katholischen Kirche

Große politische Zurückhaltung

Im politischen Berlin scheint in Sachen sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche seit Jahrzehnten eine große Koalition der Nicht-Wissen-Woller zu bestehen. Zumindest erlebt Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission sexueller Kindesmissbrauch, bei seinen Gesprächen bei den Politikern "die ganz große Zurückhaltung". Aussagen wie, man wolle diese Baustelle nicht aufmachen und der Staat habe sich da nicht einzumischen, höre er von den Allermeisten.

Auch Vorstöße in Berlin, es möge eine Wahrheitskommission – wie sie bereits in anderen Bereichen in der Gesellschaft gibt – auch für die katholische Kirche geben, sind bislang nicht umgesetzt worden. "Die Beißhemmungen sind, aus welchem Grund auch immer, auch heute noch und auch bei Parteien, die nicht ein C vor dem Namen haben, deutlich sichtbar", sagt Hans Zollner, vom Safeguarding-Institut Rom.

Kein Sonderrecht für die Kirche

Die Grünen-Abgeordnete Gabriele Triebel hat die Bayerische Regierung im Juni 2020 gefragt, wie viele Verfahren gegen Missbrauchstäter mit Priesterkragen eingeleitet wurden. Das Ergebnis damals: "Wir haben das Ergebnis bekommen, dass 204 Fälle beschrieben sind, dass davon 144 zur Untersuchung kamen und das dann letztendlich nur ein einziger zu einer Verurteilung geführt hat. Und das Zeichen nach außen, dass damit gesendet wird, ist natürlich fatal."

Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) hat 2022 bei den Staatsanwaltschaften weitere umfangreiche Informationen erhoben und im August desselben Jahres neue Zahlen vorgelegt: Mindestens 30 Verurteilungen habe es wegen Missbrauchsfällen im Umfeld beider großen Kirchen seit 2012 gegeben. "Es gibt kein Sonderrecht für die Kirche, da ist unser Gesetz sehr klar. Deswegen ist es schon wichtig zu betonen, dass den Strafverfolgungsbehörden der komplette Instrumentenkasten auch bezüglich dieser Straftaten zur Verfügung steht", sagt Benjamin Strasser, Justiz-Staatssekretär im Bund, auf Anfrage. Warum und ob dieser nicht genutzt würde, müsse man im Einzelfall genauer anschauen.

Rückzieher beim Gutachten

Ursprünglich war 2010 ein Gutachten von der Deutschen Bischofskonferenz als eine Transparenzoffensive beim Kriminologischen Forschungsinstitut in Hannover in Auftrag gegeben worden. Die Wissenschaftler sollen Zugang zu Akten in den sogenannten Giftschränken, zu Opfern und zu Tätern, erhalten. In allen Bistümern und völlig unzensiert. Ein revolutionärer Plan, den die Bischöfe gemeinsam mit Professor Christian Pfeiffer, dem damaligen Institutsleiter und früheren Justizminister Niedersachsens entwickelt haben.

Doch dann machen die Bischöfe völlig unvermittelt einen Rückzieher. Die einzelnen Bistümer sollten im Gutachten plötzlich nicht mehr identifiziert werden können. "Und das konnte ja nur gelingen, wenn sie selber den gesamten Datensatz Missbrauchstaten in Deutschland herstellen - durch Mitarbeiter der Kirche. Ein völlig absurder Vorgang eigentlich, dass die Täterseite den Datensatz herstellt, den die Wissenschaftler auswerten können", erinnert sich Christian Pfeiffer.

Kirchlicher Alleingang trotz staatlicher Verantwortung

Fakt ist: Bisher ist die Aufarbeitung systematischer Vergewaltigung von Kindern der Kirche weitgehend selbst überlassen. Katholische Bischöfe entscheiden, welche Akten zur Verfügung stehen. Sie bestimmen und bezahlen die Gutachter, die diese vorausgewählten Akten auswerten. Sie bestimmen, wer in den nur scheinbar "unabhängigen Aufarbeitungskommissionen" aufklären darf - und wer nicht. Opfer-Anwalt Andreas Schulz erinnert dies stark an die Inquisition.

Dabei gibt es laut Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission sexueller Kindesmissbrauch, eine klare staatliche Verantwortung für das, was bei den Kirchen passiert. "Wir als Staat haben hier Strukturen ermöglicht, die wir ganz gründlich überdenken müssen und wofür wir auch Lösungen finden müssen, die eben nicht der Kirche überlassen werden, sondern die wir als Staat, als Gemeinwesen, das eine bestimmte Gesetzesstruktur hat, wir sind dafür verantwortlich, dass da gute Aufarbeitungsbedingungen geschaffen werden."

Liegen die Wurzeln in der Nazi-Zeit?

Doch woher rührt denn nun diese staatliche "Beißhemmung", wie es Opfer und Aktivist Matthias Katsch ausdrückt? Die Zurückhaltung der westdeutschen Nachkriegspolitik geht auf den Umgang mit der katholischen Kirche in der Nazizeit zurück – diese These stützt Professor Hans Günter Hockerts, emeritierter Historiker an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, nach Jahren der Forschung.

Es ist eine wenig bekannte Schmutzkampagne der Nazis gegen die Kirche in den 1930er-Jahren, die katholischen Priestern systematischen Missbrauch und dessen Vertuschung anlastete. "Es ging darum, einen Keil des Misstrauens zwischen den Gläubigen und der Kirchenleitung zu treiben. Und es ging darum, die Gegenwehr der Kirche gegen ihre Verdrängung aus dem öffentlichen gesellschaftlichen Raum zu brechen", betont Historiker Hockerts.

Missbrauch aus historischem Gedächtnis gelöscht

Dafür finden sogenannte "Sittlichkeitsprozesse" gegen katholische Priester statt. Verhandelt werden tatsächliche Missbrauchsfälle – in großer Zahl gehen die Kirchenmänner dafür ins Zuchthaus. Ein willkommenes Fressen für die Nazi-Propaganda. Die deutschen Bischöfe reagieren zwar empört auf die Propaganda, aber durchaus geschockt und selbstkritisch auf das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs, der in den Prozessen offenbar wird.

Doch diese Phase der Reflektion ist nicht von Dauer: Schon bei den Nachfolgern der Bischöfe, die direkte Zeitzeugen waren, verebbt jegliche Lernkurve. "Das heißt, im historischen Gedächtnis blieb die antikirchliche Agitation haften, aber der Kern des Missbrauchsgeschehens verschwand aus dem Gedächtnis. Und daraus entsteht dann das Bild der Kirche als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung", sagt Historiker Hans Günter Hockerts, der dieses Phänomen als "geteilte Erinnerung" bezeichnet.

Hängt dieses Bild bis heute auch im staatlichen Gedächtnis fest und hemmt so den Umgang mit den Missbrauchsfällen? Der Sozialpsychologe Heiner Keupp zieht dazu ein klares Fazit: "Das ist nicht nur ein Kirchenversagen, das ist ein Staatsversagen."

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