OP-Schwester bereitet sich auf die nächste Operation vor.
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Ca. 30 Prozent der Medizinprodukte drohen bald vom Markt zu verschwinden. Denn die EU fordert eine Zertifizierung bereits etablierter Produkte.

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Neue EU-Regelung: Ein Risiko für die Gesundheitsversorgung?

Die EU fordert eine aufwändige und teure Neuzulassung bereits etablierter Medizinprodukte. Darum könnten bald rund 30 Prozent der Produkte auf dem Markt fehlen, schätzt der Branchenverband BVMed. Die EU bessert zwar nach – doch das Problem bleibt.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Orthopäde Johannes Beckmann und sein Team bereiten sich im Klinikum Barmherzige Brüder in München auf die gleich anstehende Operation vor. Mehr als 5.000 Patienten hat Beckmann schon mit neuen Knieprothesen versorgt, heute folgt ein weiterer. Der Patient ist ein Unfallopfer, das sich vor vielen Jahren am Bein mehrere komplizierte Knochenbrüche zugezogen hat, die schlecht verheilt sind.

Eigentlich wollte man bei diesem Patienten das Bein schon vor vielen Jahren amputieren. Stattdessen bekommt er heute nochmal eine Chance: Der Orthopäde wird eine Prothese einsetzen, die es dem Patienten ermöglichen soll, sein Knie wieder beugen zu können. "Da gibt’s genau ein Produkt, das ich noch auftreiben konnte," erzählt Beckmann dem BR-Politikmagazin Kontrovers.

Gibt es bewährte Medizinprodukte künftig nicht mehr?

Die Prothese, die der Patient heute erhält ist eine Spezialanfertigung. "Aber ob wir die künftig noch bekommen, ist fraglich. Und dann können wir so einen Eingriff künftig nicht mehr machen," befürchtet der Orthopäde. Es droht ein Materialmangel im medizinischen Bereich - bei Spezialanfertigungen, aber auch bei Standard-Eingriffen, wie etwa Erneuerungen künstlicher Gelenke, weil einzelne Teile fehlen.

Beckmann erklärt das anhand eines Hüftgelenk-Modells: Fehlt nur ein Bauteil, wird die ganze Operation und damit die Aussicht auf den erhofften Operationserfolg erschwert: "Ich muss die gesamte Prothese austauschen, mit allem, was daran hängt. Die Operation dauert dreimal so lang. Der Knochenverlust, der Blutverlust ist dreimal so hoch. Das Risiko für einen Patienten ist dreimal so hoch, wenn nicht mehr." Für ihn als Mediziner sei dieses drohende Szenario schwierig zu vertreten.

Skandal um Silikonimplantate ist Grund für neues EU-Zulassungsverfahren

In Deutschland gab es bislang über 400.000 verschiedene Medizinprodukte, die regulär im medizinischen Gebrauch waren. Dazu gehören etwa Prothesen, OP-Besteck, Spritzen und Katheter. Viele davon sind bereits seit Jahrzehnten im Einsatz – mit Erfolg. Doch seit 2021 müssen sie wegen einer EU-Verordnung in einem Zulassungsverfahren neu zertifiziert werden. Für viele Hersteller ist das Verfahren zu langwierig und zu teuer.

Die Folge: Ganze Produktgruppen drohen vom Markt zu verschwinden. Zwischen 13 bis 24 Monaten dauert die Neu-Zertifizierung und kostet laut dem Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) zwischen 300.000 und 500.000 Euro pro Zertifikat. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen ist die Zulassung so teuer, dass laut Expertenschätzungen, auf die sich der BVMed bezieht, rund 30 Prozent der Produkte vom Markt verschwinden könnten -ersatzlos.

Grund für die neu eingeführten Zulassungsverfahren ist ein Skandal, der bereits 13 Jahre zurückliegt: Zehntausende Frauen mussten sich schadhafte Silikonimplantate, die zu dem Zeitpunkt eigentlich eine EU-Zertifizierung hatten, wieder entfernen lassen. Die EU hat reagiert und daraufhin neue Regularien für Medizinprodukte erlassen, die seit 2021 gelten - auch für Produkte, die bereits auf dem Markt und in Anwendung sind.

Einschränkungen bereits seit Einführung der Neu-Zertifizierung spürbar

Doch wie würden sich die Schätzungen des BVMed in der Praxis auswirken? Kinderkardiologe Sven Dittrich von der Universitätsklinik Erlangen befürchtet: "Eigentlich laufen wir auf eine Versorgungslücke hinaus." Das Katheter-Labor hier ist stark spezialisiert und hilft jährlich etwa 800 Kindern mit Herzproblemen. Doch gerade bei Nischenprodukten für Kinder kommt es immer wieder zu Engpässen.

"Wenn man eine optimale Behandlung haben möchte, dann müssen wir diese Schränke hier proppevoll haben, weil wir auf alle Eventualitäten reagieren müssen," sagt Dittrich. "Und das ist jetzt in den vergangenen zwei Jahren nicht mehr immer so. Also manchmal müssen wir schon im Vorfeld bei den Nachbarkliniken anrufen und fragen 'Hast du noch diese Größe?'"

EU-Gesundheitskommission verteidigt Neu-Verordnung

Der Sprecher der EU-Gesundheitskommissarin, Stefan de Keersmaecker, verteidigt im Kontrovers-Interview die neue Zulassungsverordnung der EU-Kommission: "Wir haben sichere Regeln gebraucht, die alten Regeln waren nicht streng genug, um die Probleme, die wir hatten, zu verhindern."

Dass Hersteller den grundsätzlichen Aufwand und die zusätzlichen Kosten der Neu-Zertifizierung in einem solchen Ausmaß scheuen würden, scheint die Verantwortlichen der neuen Medizinprodukte-Verordnung bei der EU-Kommission überrascht zu haben. EU-Parlamentarier Peter Liese (CDU) ist gesundheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion und hat einen Teil der neuen Zulassungs-Regeln federführend mitverhandelt – mit dem Ziel, mehr Sicherheit und Kontrollen einzuführen.

Doch mit dem Ergebnis der Kommission ist er unzufrieden, wie er gegenüber dem Politikmagazin Kontrovers einräumt: "Dass es so schlimm wird, das muss ich auch zugeben, habe ich nicht geahnt." Darum plädiert er dafür, das beschlossene komplizierte Verfahren zu vereinfachen.

In der Kommission sieht man das jedoch anders. Man habe nachgebessert und betont, dass jüngst die Fristen für die Zulassungen verlängert wurden. De Keersmaecker räumt ein: "Die Einführung der Regeln braucht mehr Zeit als wir ursprünglich dachten. Deshalb geben wir jetzt auch mehr Zeit. Und wir arbeiten daran hier die Bürokratie abzubauen." Das Gesetz wolle man in der EU-Kommission laut de Keersmaecker in einigen Jahren auswerten. Doch bis dahin besteht das Kernproblem weiter: Bewährte Medizinprodukte, insbesondere Spezialanfertigungen, könnten künftig häufiger knapp werden.

Drohen gravierende Probleme bei Patientenversorgung?

In der Erlangener Kinderkardiologie will sich Kinderkardiologe Dittrich nicht einmal ausmalen, welche Folgen es haben könnte, wenn die EU-Kommission in Brüssel das Zertifizierungsverfahren nicht erneut nachbessert und erleichtert. "Im schlimmsten Fall heißt das wieder operieren am offenen Herzen statt mithilfe von Kathetern," befürchtet er im Interview mit Kontrovers.

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