Das Kinderheim Nicolhaus im unterfränkischen Willmars
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Missbrauch: Evangelischer Diakon leitete Heim trotz Übergriffen

Zwei Männer werfen einem ehemaligen Heimleiter im unterfränkischen Willmars sexuellen Missbrauch vor. Zeitzeugen bestätigen diese Berichte. Eine BR-Recherche zeigt nun, dass der evangelische Diakon bereits vor seiner Zeit in Bayern übergriffig war.

Über dieses Thema berichtet: STATIONEN am .

Eine "Horrorkindheit" habe er im unterfränkischen Willmars erlebt, sagt Hermann Ammon heute. In einem evangelischen Kinderheim wurde er in den 60er Jahren vom Heimleiter, einem evangelischen Diakon, missbraucht, er berichtet von Schlägen und sexualisierter Gewalt. Der Mann, der aus einer Brüdergemeinschaft in Hannover kam, habe die Kinder mit Freude terrorisiert, sagt Ammon, der örtliche Pfarrer habe nichts von den Vorwürfen hören wollen.

Akten bringen frühere Übergriffe ans Licht

Ammon ist der zweite bekannte Betroffene. 2015 hatte die bayerische Landeskirche bereits einen Betroffenen aus Willmars anerkannt. Aufgearbeitet sind die Übergriffe aber bis heute nicht. Eine Recherche des BR bringt nun neue Details ans Licht: Aus einer Akte des Mannes bei der Brüdergemeinschaft in Gifhorn nahe Hannover geht hervor, dass der spätere Heimleiter schon während seiner Ausbildung zum Diakon übergriffig geworden war. Das Waisenhaus im friesischen Varel berichtete etwa schon 1961, dass der Mann, der damals dort Praktikant war, versucht habe, sich Kindern in intimer Weise zu nähern und sie mit auf sein Zimmer zu nehmen. "Das Waisenstift hat sich an die Ausbildungseinrichtungen gewandt und mitgeteilt, dass sie große Sorgen haben", so die Einschätzung des Historikers Steffen Meyer, der den Lebenslauf des Mannes so gut wie möglich rekonstruiert hat.

Trotz allem wurde der Mann evangelischer Diakon und arbeitete zunächst als Stationsleiter in der Altenpflege. Immer wieder drängte er darauf, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Mit Erfolg: 1969 wurde er als Heimleiter in Willmars eingestellt. "Mit den Informationen, die ich in den Akten gefunden habe, hätte man dem bayerischen Werk empfehlen müssen, ihn nicht als Einrichtungsleiter zu nehmen", sagt Historiker Meyer.

Unklare Zuständigkeiten bei der Aufarbeitung

Wie kann es sein, dass der Fall bis heute nicht aufgearbeitet ist? Die bayerische Landeskirche führt auf Anfrage des BR dazu unterschiedliche Zuständigkeiten an: einerseits die Brüdergemeinschaft des Mannes in Niedersachsen, andererseits den Träger des Heims, den Diakonieverein vor Ort in Willmars. Sabine Weingärtner, Präsidentin der Diakonie Bayern, erklärt dazu: "Es war nicht unser Auftrag als Landesverband, Recherchen zu diesem Fall anzustellen." Man habe dem Träger nahegelegt, den Fall aufzuarbeiten und nach weiteren Betroffenen zu suchen. Der Diakonieverein in Willmars hat zwar nachgeforscht, ist aber schnell an seine Grenzen gestoßen. Immerhin: Zeitzeugen aus dem Ort bestätigen die Aussagen der Betroffenen.

Auch nach seiner Zeit in Willmars arbeitete der Mann weiter mit Kindern und Jugendlichen an mehreren Orten, in Oldenburg, Salzgitter und Garmisch-Partenkirchen. In den 1990er Jahren trat der Diakon schließlich aus der Bruderschaft aus, danach verlor sich seine Spur. Der BR hat mehrere Einsatzorte angeschrieben. Ob sich dort Missbrauchsbetroffene gemeldet haben, ist bislang unklar.

Herrmann Ammon lebt bis heute mit den Folgen der Übergriffe. "Die hätten uns doch helfen müssen", sagt er. "Wo war denn da die Kirche?" Es sei deren Pflicht, sich mit den Betroffenen zu unterhalten. "Und nicht umgekehrt." Trotzdem hat er sich nun bei der Ansprechstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs der evangelischen Landeskirche gemeldet.

Ein Mann vor einer Kirche.
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Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der Evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bisher bekannt.

Sie haben selbst sexualisierte Gewalt erlebt oder kennen Betroffene? Hier finden Sie Hilfe.

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