"Tablettenkinder"
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In Bayern wurden noch in den 70er-Jahren Arzneimittelprüfungen an Heimkindern durchgeführt - ohne deren Einverständnis.

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Medikamententests an Heimkindern - Mehr Fälle offengelegt

In Bayern wurden noch in den 70er-Jahren Arzneimittelprüfungen an Heimkindern durchgeführt - ohne deren Einverständnis. Das brachte eine Recherche des BR ans Licht. Jetzt ist klar: Es waren mehr Kinder betroffen als zunächst angenommen.

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Es ist der 25. Januar 1975, Hilpoltstein in Mittelfranken. Hier lebt der zehnjährige Matthias (Name geändert) im "Auhof", einem Heim für Menschen mit Behinderung. An diesem Tag wirkt Matthias wie verändert, seine Pupillen sind geweitet. Der Heimarzt notiert die Beobachtungen der Betreuer des Jungen: "Er lege sich auf den Boden, schreie und zapple herum. Er wirke insgesamt verkrampft und abwehrend. Bisweilen habe er auch ein eigenartiges verkrampftes Lachen."

Was zu dieser Zeit weder Matthias noch seine Eltern wissen. Offenbar ist der Junge Teil einer sogenannten "Arzneimittelprüfung" – einer Versuchsreihe des neuen Medikaments "Nomifensin", das als Antidepressivum auf den Markt kommen soll.

Spätfolgen schwer nachweisbar

Erst Jahre später, 2018, deckte BR Recherche die Medikamententests im "Auhof" auf. Ein Bewohner hatte beim Auszug seine Heimakte erhalten – und fand darin detaillierte Beschreibungen seiner Reaktionen auf das Präparat: Aggressionen, Stimmungsschwankungen. Zugestimmt hatte auch er den Tests nie.

Heute ist Martin Hackl Ende 50, schwer lungenkrank und kann sich kaum bewegen. Inwieweit dies Spätfolgen des Medikaments sind, lässt sich nach über 40 Jahren nicht mehr nachweisen.

Mehr Heimkinder betroffen

An wie vielen Kindern das Mittel getestet wurde, ist da noch unklar. Nach der Berichterstattung beauftragte der Träger der Einrichtung, die Rummelsberger Diakonie als Trägerin, selbst Nachforschungen. Sie ist damit die erste Einrichtung in Bayern, die Medikamententests in ihrer Vergangenheit umfassend aufgearbeitet hat.

Beauftragt wurde die Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner. Sie durchsuchte die Archive und Akten der Einrichtung. Am heutigen Donnerstag erscheint ein Buch über die Geschichte der Behindertenhilfe der Rummelsberger Diakonie, darin auch Wagners Untersuchungen zu den Medikamententests im "Auhof".

"Die Kinder waren dem schutzlos ausgeliefert", erklärt Wagner. "Und dann zu sehen, was da für Nebenwirkungen waren, die der Arzt selbst auch in Zusammenhang mit dem Präparat gesehen hat - das ist schon erschreckend, dass das eben möglich ist."

"Völlig apathisch irgendwo in der Ecke gesessen"

Bei insgesamt neun Jungen fand Sylvia Wagner in den Akten Eintragungen, die auf Arzneimittelprüfungen hinweisen. Alle Betroffenen waren damals zwischen neun und vierzehn Jahren alt und alle hatten das damals noch nicht zugelassene Medikament "Nomifensin" erhalten. Der zuständige Arzt notierte die Reaktionen der Kinder auf das Präparat. Wie bei Michael (Name geändert), der auch das Medikament bekommen hat. Und seitdem nichts mehr isst, wie seine Betreuer dem Heimarzt damals berichten.

"01.02.1975: Sein Verhalten sei völlig anders als sonst. […] Jetzt sei er völlig apathisch irgendwo in der Ecke gesessen und habe sich nicht gerührt. Man habe oft gar nicht gemerkt, dass er da sei." Eintragung in einer Bewohnerakte, aus dem Untersuchungsbericht von Sylvia Wagner

Bei einem anderen Jungen, Florian (Name geändert), wurde nach drei Wochen mit "Nomifensin" festgestellt: "Bei Florian hatte man den Eindruck, ‚dass er nach wie vor unter der Medikation mit Nomifensin keine günstige Entwicklung machte."

Das Medikament wurde allen neun Kindern über mehrere Wochen verabreicht, so beschreibt es Sylvia Wagner in ihrem Bericht. Bei einem der Jungen sogar weit über den Testzeitraum hinaus: über drei Jahre lang. Erst nach dieser Zeit notierte der Arzt, die Verabreichung von "Nomifensin" sei ein "besonderes Problem". Es solle abgesetzt und eine Leberfunktionsprüfung durchgeführt werden.

Hauptverantwortlich: Arzt und Pharmaunternehmen

Sylvia Wagner kommt zu dem Schluss: Die Verantwortung für diese Medikamententests trägt der mittlerweile verstorbene Heimarzt. Aber auch das Pharmaunternehmen Hoechst, welches "Nomifensin" damals herstellte, sei in gleicher Weise verantwortlich. Schließlich habe die Firma dem Arzt das Mittel - noch bevor dieses auf dem Markt war - zukommen lassen.

Offen bleibt, ob zwischen dem Arzt und dem Hersteller Geld floss. Heute gehört Hoechst zu Sanofi – auf Nachfrage des BR heißt es, man habe im Unternehmensarchiv keine Hinweise auf Arzneimittelprüfungen mit dem Mittel finden können.

Entschädigung aus Stiftung?

Ehemalige Heimkinder aus den Jahren 1949 bis 1975, die Unrecht erlebt haben, können sich an die Stiftung "Anerkennung und Hilfe" wenden. Sie wurde von Bund, Ländern und Kirchen gegründet, um diesen Betroffenen Unterstützung zuzusprechen. Auch die Geschädigten aus dem "Auhof" können eine solche Entschädigungszahlung beantragen. Um seine Bewohner dabei zu unterstützen, beauftragte das Heim Mitarbeiter, sich nun mit den Betroffenen um Aufarbeitung zu bemühen.

"Wiedergutmachen kann man das sicher nicht. Die Anerkennung spielt eine wichtige Rolle – und dass wir vermeiden, dass so etwas jemals noch passiert. Das ist das Einzige, was wir heute noch tun können. Aber wirklich Wiedergutmachen geht nicht" so Heimleiter Andreas Ammon.

Im "Auhof" sei man sich nun sicher, dass man alle Opfer der Medikamententests gefunden hat. Zwei sind schon verstorben. Das Mittel "Nomifensin" wurde übrigens nach zehn Jahren, Mitte der 80er-Jahre, wieder vom Markt genommen – wegen schwerer Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen.

Bildrechte: BR / Florian Eckl
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