"Tablettenkinder"

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Wie Heimkinder zu Versuchsobjekten wurden

Pharmafirmen haben an Heimkindern Medikamente getestet – ohne Einverständnis, bis in die 1970er Jahre hinein. Die Aufarbeitung dieses Unrechts geht in Bayern schleppend voran. Eine BR-Recherche zeigt: Es gibt Hinweise auf mehr Testreihen.

Im mittelfränkischen Hilpoltstein wurde ein zehnjähriges Heimkind im Jahr 1975 zum medizinischen Versuchsobjekt - ohne sein Einverständnis. Das geht aus Dokumenten hervor, die BR Recherche vorliegen. Demnach musste der Junge damals ein Präparat schlucken, das noch nicht auf dem Markt war. Im Rahmen einer Arzneimittelprüfung. Heute ist Martin Hackl Mitte 50, schwer lungenkrank und kann sich kaum bewegen. Erst vor anderthalb Jahren ist er durch Zufall auf die Dokumente in seiner Heimakte gestoßen. Dem BR sagte er, er fühle sich betrogen und wolle mehr über das Ausmaß des Tests erfahren.

Nebenwirkungen und Todesfälle

Als Kind galt Martin Hackl als "umtriebig" und "schwachsinnig". Damals konnte er laufen und sprechen. Aus den Unterlagen geht auch hervor: Der sechswöchige Test verändert das Wesen des Jungen, irgendwann wehrt er sich dagegen, die Tabletten zu nehmen. Eine Einverständniserklärung liegt seiner Akte nicht bei. Ein Auszug aus den Aufzeichnungen des Heimarztes vom Februar 1975:

"Von Martin wird berichtet, er bekomme laufend Wutanfälle, einen nach dem anderen, er lasse sich nicht anfassen, schreie und höre gar nicht mehr auf damit. Alles was man bisher mit ihm habe machen können sei unmöglich." Heimakte von Martin Hackl

Das Präparat wurde ein Jahr nach dem Test, ab 1976, als Antidepressivum unter dem Namen Alival verkauft. Zehn Jahre später musste es die Pharmafirma Hoechst vom Markt nehmen - wegen Todesfällen und gravierender Nebenwirkungen an Leber, Niere und Lunge. Ob auch Martin Hackl Spätfolgen erlitten hat? Nachweisen lässt sich das jetzt, 40 Jahre nach dem Test, nicht mehr. Der Hersteller gehört heute zu Sanofi. Auf Nachfrage von BR Recherche schreibt die Pressestelle, man habe "keine Hinweise" auf Tests mit Heimkindern.

Heimleitung entschuldigt sich nach BR-Recherche

Und das Heim? Die Rummelsberger Diakonie hat sich bei Martin Hackl für das Experiment inzwischen entschuldigt. Ein Wissenschaftler soll nun im Auftrag des Heims herausfinden, wie viele Kinder in der Einrichtung für Menschen mit Behinderung zu Versuchsobjekten wurden.

"Hauptsache, es kommt raus, dass wir wirklich willig sind, das aufzuarbeiten und dass wir uns eigentlich auch schämen für das, was da passiert ist." Georg Borngässer, Pressesprecher der Rummelsberger Diakonie

Bundesweit 50 Testreihen

Deutschlandweit haben Wissenschaftler etwa 50 Testreihen an Heimkindern in den 1950er bis 1970er Jahren nachgewiesen – darunter auch Tests mit Impfstoffen und mit Psychopharmaka in Bayern. Auch in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt in Kaufbeuren haben Ärzte das Präparat "T57" der Pharma-Firma Merck an Kindern getestet. Das belegen Unterlagen, die BR Recherche im Merck-Archiv einsehen konnte. Das Prüfpräparat wurde im Herbst 1957 an den Leiter der Kinderabteilung geschickt, mit dem Ziel, mehr über die Dosierung bei Kindern herauszufinden. Für einen Bericht über mögliche positive Ergebnisse würde sich Merck "selbstverständlich gerne erkenntlich zeigen".

Tests auch in Kaufbeuren

Auf die BR-Recherchen hin hat das Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren den Düsseldorfer Medizinhistoriker Professor Heiner Fangerau damit beauftragt, den Test im Jahr 1957 zu untersuchen. Er arbeitet auch an einer bundesweiten Studie zum Thema und sagt, die Tests in den Einrichtungen hätten schon damals gegen medizinethische Standards verstoßen. Denn bisher konnte er keinerlei Einverständniserklärung zu den Versuchen finden.

"Mit diesem Blick von heute auf diese Kinder und diese Zeit finde ich es nicht in Ordnung, weil wir zum Beispiel im Moment noch nicht wirklich finden, ob die Kinder und ihre Eltern aufgeklärt worden sind über mögliche Nebenwirkungen." Heiner Fangerau, Medizinhistoriker

Offiziell nur ein Fall in Bayern

Das Bayerische Sozialministerium schreibt auf BR-Nachfrage, es gebe bayernweit nur einen einzigen belegten Fall eines Medikamententests im Heim, nämlich den von Martin Hackl. Und weiter: Medizinische Versuche ohne Einwilligung seien heute und auch damals Unrecht. Welche Dimension dieses Unrecht hatte, ist noch nicht klar. Bei dessen Aufarbeitung steht Bayern noch ganz am Anfang. 

Die Stiftung Anerkennung und Hilfe von Bund, Ländern und Kirchen zahlt noch bis Ende 2019 Geld aus einem Fonds an ehemalige Heimkinder aus Psychiatrien und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Voraussetzung ist, dass sie zwischen 1949 und 1975 dort Leid und Unrecht erlebt haben. Informationen gibt es hier:

http://www.stiftung-anerkennung-und-hilfe.de/DE/Startseite/start.html

Aufgedeckt - der investigative Podcast: Gewalt, Missbrauch, Zwang: Viele Heimkinder mussten das in den Nachkriegsjahrzehnten erleiden. Allmählich kommt ans Licht, dass Heimkinder bis in die 70er-Jahre zudem Opfer von Medizinversuchen wurden. Und erst jetzt, auch durch BR-Recherchen, beginnt in Bayern die Aufklärung. Den Bayern 2-Podcast zum Thema finden Sie hier.