19.11.2023, Ägypten, Rafah: Ein Tankwagen des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) steht in der Schlange, um vom Grenzübergang Rafah in die palästinensischen Gebiete zu gelangen. Foto: Gehad Hamdy/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Nahostkonflikt - Rafah

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Länder stoppen Gelder: UN-Mitarbeiter an Hamas-Terror beteiligt?

Im Sog eines brisanten Verdachts gerät das UN-Hilfswerk UNRWA ins Kreuzfeuer: Mitarbeiter sollen in den Hamas-Angriff auf Israel verwickelt gewesen sein. Die Folge: ein Aufschrei internationaler Empörung. Auch Deutschland reagiert.

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Aufgrund des Verdachts, dass einige seiner Mitarbeiter am Großangriff der islamistischen Terrororganisation Hamas gegen Israel am 7. Oktober beteiligt gewesen sein könnten, steht das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) massiv in der Kritik. Nach den USA und Kanada setzten auch Großbritannien, Italien, Deutschland und Australien am Samstag ihre Zahlungen an das Hilfswerk aus.

UN-Generalsekretär Guterres verspricht umfassende Prüfung

Bei dem Angriff wurden 1.200 Menschen getötet und weiter 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Die israelische Regierung legte dem UN-Hilfswerk Informationen vor, denen zufolge zwölf der mehreren Tausend UNRWA-Mitarbeiter im Gazastreifen in die Attacke verwickelt gewesen sein sollen.

Laut UNRWA-Chef Philippe Lazzarini wurden die Verträge der Betroffenen aufgekündigt und eine Untersuchung eingeleitet. UN-Generalsekretär António Guterres will das Hilfswerk "unverzüglich und umfassend" überprüfen lassen.

Nach dem 7. Oktober hatte es auch unbestätigte Berichte gegeben, dass Lehrer des UNRWA das Massaker gefeiert hätten. Laut einem ebenfalls unbestätigten israelischen Medienbericht soll zudem eine Geisel bei einem Mitarbeiter der Organisation festgehalten worden sein. Beide Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.

Auswärtiges Amt reagiert "zutiefst besorgt"

"Jeder, der die Grundwerte der Vereinten Nationen verrät, verrät auch diejenigen, denen wir in Gaza, in der gesamten Region und anderswo auf der Welt dienen", sagte UNRWA-Chef Lazzarini. Mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen seien seit Beginn des Krieges auf Hilfe angewiesen.

Das Auswärtige Amt in Berlin äußerte sich "zutiefst besorgt" über den Verdacht. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) forderte im Onlinedienst X (ehemals Twitter) eine "umfassende, gründliche und transparente Untersuchung" der Vorwürfe.

Deutschland: Vorerst keine neuen Gelder für UNRWA im Gazastreifen

Die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) verlangte von der Bundesregierung, ihre Zahlungen einzustellen, bis die Vorwürfe überprüft seien. Die UNRWA habe sich "im Gazastreifen wie ein Komplize" der Hamas verhalten, erklärte DIG-Präsident Volker Beck. Am Samstagabend hieß es dann, dass Deutschland vorerst keine neuen Gelder bewilligen will. "Bis zum Ende der Aufklärung wird Deutschland in Abstimmung mit anderen Geberländern temporär keine neuen Mittel für UNWRA in Gaza bewilligen", teilten das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium mit.

Zugleich betonten die Ministerien, die humanitäre Hilfe für die Palästinenser laufe weiter. Vor wenigen Tagen habe man die Mittel für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und das UN-Kinderhilfswerk Unicef um sieben Millionen Euro aufgestockt. UNWRA sei für die Grundversorgung der palästinensischen Bevölkerung lebenswichtig. Es sei "absolut richtig", dass UNRWA angesichts der Anschuldigungen gegen Mitarbeiter sofort gehandelt und Generalkommissar Lazzarini "umgehend Maßnahmen ergriffen hat".

Die Bundesregierung hatte das UN-Hilfswerk eigenen Angaben zufolge allein im Jahr 2023 mit mehr als 200 Millionen Euro unterstützt.

Im vergangenen Jahr hatte das Hilfswerk nach eigenen Angaben zudem 82 Millionen Euro von der Europäischen Union erhalten. Nach den Hamas-Anschlägen nahm die EU-Kommission ihre Förderungen unter die Lupe, um sicherzustellen, dass Unterstützungen weder direkt noch indirekt Terroraktivitäten zugutekämen. Die Gesamthilfen der EU an Palästinenser belaufen sich auf 1,2 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021 bis 2024.

Auch andere Länder wollen vorerst nicht mehr zahlen

Die USA hatten ihre Finanzhilfen an die UNRWA unmittelbar nach Bekanntwerden der Anschuldigungen wie auch Kanada und Australien gestoppt. Auch Italien und Großbritannien schlossen sich am Samstag dem Schritt an.

Sein Land wolle der palästinensischen Bevölkerung humanitäre Hilfe leisten, gleichzeitig aber "die Sicherheit Israels" schützen, erklärte der italienische Außenminister Antonio Tajani. Das britische Außenministerium reagierte "entsetzt" auf die Vorwürfe gegen UNRWA und kündigte an, während der Untersuchung dieser "besorgniserregenden Anschuldigungen" seine Hilfszahlungen auszusetzen.

Das Schweizer Außenministerium erklärte, seine Hilfen für das UN-Hilfswerk für 2024 seien noch nicht bewilligt. In der Angelegenheit werde keine Entscheidung getroffen, "bis wir mehr Informationen zu den ernsten Vorwürfen gegen UNRWA-Mitarbeiter haben".

UNRWA-Chef: Zahlungsstopp bedroht unsere humanitäre Arbeit

Israel gehen die Reaktionen nicht weit genug. Seine Regierung wolle sicherstellen, dass die UNRWA nach dem Ende des Krieges im Gazastreifen keine Rolle mehr in dem Palästinensergebiet spielen werde, erklärte Außenminister Israel Katz auf X.

UNRWA-Leiter Lazzarini appellierte hingegen an die Länder, ihren Standpunkt zu überdenken, da andernfalls die gesamte humanitäre Arbeit in der Region gefährdet sei. "Diese Entscheidungen bedrohen unsere laufende humanitäre Arbeit in der gesamten Region, einschließlich und insbesondere im Gazastreifen", so Lazzarini.

Und der UNRWA-Leiter äußerte Kritik an der Entscheidung: "Es ist schockierend, dass die Mittel für das Hilfswerk als Reaktion auf die Anschuldigungen gegen eine kleine Gruppe von Mitarbeitern ausgesetzt wurden". Das Leben von zwei Millionen Menschen im Gazastreifen hänge von dieser Unterstützung ab, sagte Lazzarini.

Israels Außenminister hat nach den Vorwürfen indes den Rücktritt des UNRWA-Chefs gefordert. "Herr Lazzarini, bitte treten Sie zurück", schrieb Israel Katz auf der Online-Plattform X.

UNRWA 1949 gegründet

Die Vereinten Nationen hatten das UNRWA 1949 gegründet, um palästinensischen Flüchtlingen zu helfen. Mittlerweile haben nach Angaben der Organisation rund 5,9 Millionen Menschen Anspruch auf ihre Dienste. Dazu zählen Palästinenser, die 1948 flüchteten oder vertrieben wurden, sowie ihre Nachkommen. Das UNRWA ist unter anderem in Jordanien, im Libanon und in den Palästinensergebieten tätig.

Die Hamas rief die Vereinten Nationen und andere internationalen Organisationen auf, den "Drohungen und Erpressungen" Israels nicht nachzugeben. Israel geht seit dem 7. Oktober massiv militärisch im Gazastreifen vor, erklärtes Ziel ist die Zerstörung der Hamas.

Kämpfe in Chan Junis

Nach jüngsten Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden seit dem Beginn der israelischen Offensive mehr als 26.250 Menschen in dem Palästinensergebiet getötet.

Die heftigen Kämpfe zwischen Israel und der Hamas gingen am Samstag weiter. Nach Berichten von Augenzeugen konzentrierten sie sich auf Chan Junis, die größte Stadt im Süden des Gazastreifens. Insbesondere ein Flüchtlingslager und das Nasser-Krankenhaus seien dort seit dem Morgen heftigem Panzer-Beschuss ausgesetzt, berichtete die Hamas-Regierung. Reporter von AFP-TV sahen am Samstag tausende Zivilisten, die zu Fuß aus der Stadt flohen.

Chan Junis ist Heimatort von Hamas-Anführer Jahja Sinwar, der als Drahtzieher des Großangriffs auf Israel gilt. Laut israelischer Armee halten sich dort viele hochrangige Hamas-Mitglieder versteckt.

Weiterer Geisel-Deal?

Trotz der aktuellen militärischen Lage könnte ein Geisel-Deal zwischen den Konfliktparteien näher rücken. Die "New York Times" berichtete unter Berufung auf US-Regierungskreise, US-Unterhändler hätten einen Entwurf auf Grundlage von Vorschlägen Israels und der islamistischen Terrororganisation Hamas ausgearbeitet, der an diesem Sonntag in Paris besprochen werden solle. Der Deal sehe demnach vor, dass die Hamas mehr als 100 Geiseln freilässt und Israel dafür sein militärisches Vorgehen im Gazastreifen für etwa zwei Monate einstellt.

Mit Informationen von AFP und dpa.

Möglicherweise waren Mitarbeiter des palästinensischen UN-Hilfswerks in den Terrorangriff der Hamas verwickelt.
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Möglicherweise waren Mitarbeiter des palästinensischen UN-Hilfswerks in den Terrorangriff der Hamas verwickelt.

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