Kerem Agirtas, ein 20 Tage alter Junge, wurde in Hatay gerettet
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Kerem Agirtas, ein 20 Tage alter Junge, wurde in Hatay gerettet

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Erdbeben-Katastrophe: Großes Leid und kleine Wunder

Tausende Tote und noch viele Verschüttete, die unter den Trümmern zu hören sind: Nach den Erdbeben in der Türkei und Syrien geben die Helfer die Suche nach Überlebenden nicht auf. Meldungen über spektakuläre Rettungen machen Hoffnung.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Es gibt sie, die Geschichten von Rettungen nach vielen Stunden unter Trümmern nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien. Eine davon ist die von Serap Ela. Die mit einem Schlafanzug bekleidete Fünfjährige wird von Helfern in Hatay aus den Trümmern gezogen, wie Videos von vor Ort zeigen. Auch einen erst 20 Tage alten Jungen und ein vier Monate altes Mädchen finden Retter in der südtürkischen Stadt zwischen eingestürzten Hauswänden. Aufnahmen zeigen, wie Helfer die Babys beruhigen und in Decken wickeln.

In Kahramanmaras wurde ein einjähriges Kind mit seiner schwangeren Mutter nach 56 Stunden aus den Trümmern gerettet. Das Gesicht des Mädchens war weiß vor Staub. Hoffnung macht zudem die Rettung einer 75-Jährigen - 60 Stunden nach dem Beben befreiten Einsatzkräfte sie aus einem eingestürzten Haus in Hatay.

Die Bergungsarbeiten sind ein Rennen gegen die Zeit: Die kritische Überlebensgrenze für Verschüttete liegt normalerweise bei 72 Stunden.

  • Zum Artikel: "Spenden: Hilfe für die Menschen in der Türkei und in Syrien"

Verschüttete sind nicht zu sehen - aber zu hören

In vielen Fällen kommt jede Hilfe zu spät: Bei der Suche nach Verschütteten werden in den Erdbeben-Gebieten immer mehr Leichen aus den Resten eingestürzter Gebäude geborgen. Mehr als 11.700 Todesopfer sind in der Türkei und Syrien inzwischen zu beklagen. Hunderte, wenn nicht Tausende weitere werden unter den Trümmern vermutet.

Etliche Menschen in der Katastrophenregion warten seit Tagen auf Hilfe. Viele wissen genau, wo ihre Angehörigen, Freunde oder Nachbarn in den Trümmern vergraben sind, können teilweise sogar mit ihnen telefonieren oder ihre Stimmen hören.

Auf Twitter wird millionenfach der Hashtag #SESVAR verwendet (gemeint ist: "Wir hören Stimmen"). Menschen teilen Standorte und flehen um Hilfe. Doch ohne das nötige technische Gerät hilft das alles nichts. Allerdings sei der Zugang zu Twitter in der Türkei inzwischen stark eingeschränkt, teilte der Netz-Beobachter Netblocks mit. Viele Nutzer klagten, dass Twitter auch über Tunneldienste (VPN) nicht mehr zu erreichen sei. Die Türkei habe "eine lange Geschichte der Einschränkungen von sozialen Medien bei landesweiten Notfällen und Sicherheitsvorfällen", hieß es.

"Pompompom": Erdbeben wie ein Presslufthammer

In der Küstenstadt Iskenderun rufen Helfer immer wieder in einen Trümmerhaufen, der einst ein Mehrfamilienhaus war: "Hört jemand meine Stimme?" Wenige Meter weiter haben freiwillige Helfer eine Kette gebildet. Hier haben sie auch mehr als 60 Stunden nach dem ersten starken Beben noch Überlebende gehört. "Es hat nicht gewankt, sondern Pompompom gemacht", sagt Müzeyyen Türker, und imitiert einen Presslufthammer. Sie spricht nicht von den Aufräumarbeiten, sondern vom Erdbeben.

Soldaten teilten in einem Zeltcamp im Zentrum der Stadt Decken aus. Mindestens 20 Menschen recken die Hände, die Menge wird ungeduldig: "Ich habe Kinder", ruft eine Frau. Auf den Straßen, die zu den zerstörten Gebieten führen, sieht man derweil Helfer auf den Rastplätzen, häufig mit voll beladenen Autos. Einer sagt, er habe sich aus Ankara auf den Weg gemacht. Er packt Windeln in seinen Transporter, der bereits bis unters Dach voll gepackt ist. Auf den Straßen sind etliche Lkw unterwegs, oft mit Schildern, auf denen steht: "In Solidarität mit den Erdbebengebieten".

Vorwürfe an Präsident Erdogan

Betroffene klagen unterdessen über fehlende oder nur schleppende Hilfe bei der Bergung Verschütteter. Der türkische Oppositionsführer warf Präsident Recep Tayyip Erdogan persönlich Versagen vor. "Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdogan", sagte Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP. Erdogan habe es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten.

Erdogan räumte bei einem Besuch in den Erdbebengebieten ein, dass es am ersten Tag Probleme bei der Rettung gegeben habe. Aber ab dem zweiten Tag habe man die Situation bewältigen können, sagte er in Kahramanmaras.

Video: ARD-Brennpunkt zur Lage in den Erdbeben-Gebieten

Bergungsarbeiten in Hatay, Türkei
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Bergungsarbeiten in Hatay, Türkei

Diskussionen über möglichen Pfusch am Bau

Vielerorts wird unter anderem Pfusch am Bau als ein Grund für die vielen eingestürzten Häuser diskutiert. An der türkischen Börse steigen besonders die Aktien von Zementunternehmen, Tausende Häuser müssen ersetzt werden.

Jesco Weickert von der Welthungerhilfe hat das Erdbeben im türkischen Gaziantep erlebt. Ihm und seinem Team stecke die Erfahrung noch in den Knochen. Auch wenn Gaziantep nicht so stark wie andere Regionen betroffen sei, sei an Alltag derzeit kaum zu denken. Viele der Kollegen seien schockiert, schliefen in Autos und trauten sich nicht mehr in ihre Häuser. Der Strom falle immer wieder aus und Gas gebe es nicht.

"Der Schaden an der Infrastruktur ist auch hier massiv. Ich weiß nicht, wie lang es dauern wird, bis man das alles wieder instand setzt", so Weickert. Die Leute seien fertig, wollten aber doch alle helfen, wo es nötig sei.

Eines der schlimmsten Beben der vergangenen Jahrzehnte

Die Regierung bezeichnete die Beben als eine der schlimmsten Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte und kündigte an, alle verfügbaren Mittel zu mobilisieren. Mehr als 9.000 Menschen wurden allein in der Türkei getötet, es gibt offiziell mehr als 49.000 Verletzte in dem Land. 2.662 Tote wurden zuletzt aus Syrien gemeldet.

Auch die beiden Deutschen Bernd Horch und Peter Laake haben das Beben in Gaziantep miterlebt. "Es hat erst mal gedauert, bis ich verstanden habe, was gerade passiert", erzählt Horch. "Man denkt, man träumt. Das war schlimm. Und irgendwann realisiert man: Das war ein richtig dickes Ding." Die beiden Kollegen haben das Erdbeben unbeschadet überstanden und sich nun in einem Hotel in der Stadt Kayseri in Sicherheit gebracht, etwa 250 Kilometer vom Epizentrum des ersten Bebens entfernt.

  • Zum Artikel: "Nach Erdbeben: Viele Bayern bangen um Angehörige"

Besonders prekäre Lage in Syrien

In Syrien ist das Katastrophengebiet in von Damaskus kontrollierte Gebiete und Territorien unter der Kontrolle von Rebellen geteilt. Auf Betreiben von Damaskus und Moskau ist seit Jahren nur noch der Grenzübergang Bab al-Hawa für Hilfslieferungen nach Syrien geöffnet. Seit Montag mehren sich die Forderungen an Ankara und Damaskus, grenzüberschreitende Hilfe zu ermöglichen.

Die Lage in Syrien sei nach dem verheerenden Erdbeben am Montagmorgen besonders prekär, so die Hilfsorganisation Malteser International. Die Menschen litten seit fast zwölf Jahren unter dem Bürgerkrieg in ihrem Land. Die Infrastruktur sei marode, viele Menschen hungerten und hätten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.

"Keine Wörter mehr in unserer Sprache"

Der bayerische Kabarettist und Gründer des Vereins Orienthelfer, Christian Springer, hält sich derzeit im Erdbebengebiet innerhalb Syriens auf und versucht dort, den Betroffenen zu helfen. Im Interview mit BR24 sagte er, man müsse dem ins Auge sehen, dass man nicht mehr alle Lebenden unter den Trümmern finden werde und dass man nicht allen Verletzten in den Krankenhäusern werde helfen können. Noch immer verbrächten Menschen bei Minusgraden, Schneefall und Regen draußen die Nacht, die Straßen seien teilweise auch kaputt.

"Für das, was jetzt stattfindet, haben wir keine Wörter mehr in unserer Sprache", sagte Springer. Was die Menschen im Erdbebengebiet jetzt am dringendsten bräuchten, seien Zelte, Planen, Matratzen, Schlafsäcke und Decken, so Springer. "Wir haben in Beirut zwischen 3.000 und 4.000 Decken übrig. Die werden wir aus dem Libanon in das syrische Erdbebengebiet schicken können." 

Christian Springer, Gründer von "Orienthelfer"
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Christian Springer, Gründer von "Orienthelfer"

Mit Informationen von dpa, KNA

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