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Digitalexpertin Ingrid Brodnig sieht die Gefahr, dass Hass im Netz tatsächlich Menschen im Alltag einschüchtern kann - vor allem Frauen.

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Das macht Hass im Netz mit der Demokratie

Hass im Netz ist Alltag. Fast jede zweite Person in Deutschland wurde schon einmal online beleidigt. Das hat Einfluss auf die freie Meinungsäußerung im Netz und im Alltag. Mit schwerwiegenden Folgen – auch für den Zustand der Demokratie.

Über dieses Thema berichtet: Notizbuch am .

Wenn die österreichische Autorin Ingrid Brodnig einer reichweitenstarken Sendung ein Fernsehinterview gibt, bekommt sie im Netz anschließend besonders viele Hasskommentare ab. Die können schnell unter die Gürtellinie gehen. "Das Kernproblem ist, dass diese negativen Botschaften zu viele sind und manche Plattformen auch herausragend schlechte Arbeit leisten in den letzten Jahren", so die Digitalexpertin. Gerade auf der Plattform X, die früher Twitter hieß, sei der Ton noch rauer geworden. Denn extremistische Accounts, die früher gesperrt waren, sind dort mittlerweile wieder zugelassen. Ingrid Brodnig sieht die Gefahr, dass Hasskommentare im Netz Menschen im realen Leben tatsächlich einschüchtern können – und verweist auf eine Untersuchung in Norwegen.

Hass im Netz: Frauen ziehen sich schneller zurück

Darin zeigt sich, dass sich Frauen mit höherer Wahrscheinlichkeit als Männer aus Debatten zurückziehen, wenn sie Hasskommentare abbekommen. Ingrid Brodnig sieht darin die Gefahr, dass eine aggressive Stimmung Frauen schneller verstummen lässt.

Für sie ist klar: Die Verrohung der Debatte im Netz habe zugenommen. Das Versprechen des Internets, die Diskussion möglichst vieler Bürger zu ermöglichen und damit die Demokratie lebendig zu machen: es scheint aktuell in weiter Ferne.

Demokratien auf dem Rückzug

Was sagt das über den Zustand der Demokratie aus? Die befindet sich weltweit betrachtet auf dem Rückzug. Der britische Demokratie-Index "Economist Intelligence Unit" hat 2023 einen Tiefstwert erreicht. Zwar sind mit Paraguay und Papua-Neuguinea zwei neue demokratische Staaten dazugekommen. Doch die Qualität der Demokratien nimmt weltweit ab. Nur 30 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Demokratien, der Rest wird von Autokraten regiert. Vor allem in großen Staaten. Politikwissenschaftler Veith Selk von der TU Darmstadt beschreibt den Trend so: "Gerade große Staaten, in Hinblick auf Bevölkerung und wirtschaftliche Bedeutung, haben diese verstärkten Autokratisierungsentwicklungen." Als Beispiel nennt er Indien, Russland oder China.

Politikwissenschaftler Selk: Demokratie könnte sich als "geschichtlich veraltet" erweisen

Veith Selk hat die Lage der Demokratie weltweit untersucht. Sein aktuelles Buch heißt: "Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie." Er sieht seine Aufgabe nicht darin, Lösungen für die Rettung der Demokratie zu formulieren, sondern das Problem zu diagnostizieren. Veith Selk kommt zu folgendem Schluss: "Es kann sein, dass sich Demokratie als etwas erweisen kann, was geschichtlich veraltet, nicht mehr richtig historisch plausibel ist."

Zweifel an demokratischen Wahlen

Als ein Argument für diese These nennt er den wachsenden Zweifel an demokratischen Verfahren – zum Beispiel an den Präsidentschaftswahlen in den USA im Jahr 2020. Die Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten betrachten viele Trump-Anhänger bis heute als illegitim. Veith Selk nennt das die "Politisierung von demokratischen Verfahren", die früher nicht so stark verbreitet war. "Diese Art von Politisierung ist für demokratische Regime hochgradig desintegrativ und gefährlich."

Szenarien für die Weiterentwicklung der Demokratie

Das Ende der Demokratie sei deshalb noch nicht erreicht, sagt Veith Selk. Er kann sich aber unterschiedliche Tendenzen für die künftige Entwicklung der Demokratie vorstellen. Ein Szenario: Eine Gesellschaft mit noch mehr Polarisierung und noch mehr Populismus. "In etwa so wie in Ungarn unter Orban", meint Selk. Das zweite, eher positive Szenario: Eine Demokratie mit mehr Bürgerbeteiligung, die gerade akademische Milieus stark einfordern. Das dritte Szenario für die künftige Entwicklung des politischen Systems bezeichnet Selk als "Expertokratie": "Es gibt gerade auch in gebildeteren Kreisen so eine Tendenz: 'Man muss jetzt den Experten oder den vermeintlichen Experten mehr politische Macht geben. Und diese Expertenherrschaft auch in Institution gießen.'"

Soziale Medien werden bleiben

Welches Szenario auch eintreten mag: Die sozialen Medien werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Eine Gesellschaft ohne sie ist nicht mehr vorstellbar. Das bestätigt auch Digitalexpertin Ingrid Brodnig. Bei all den negativen Entwicklungen, rund um Hass im Netz und Desinformation, hat sie aber auch eine gute Nachricht: "Die Debatte im Netz ist nicht repräsentativ für den Zustand der Gesellschaft, denn Social Media ist ein Zerrspiegel." Man dürfe nicht den Fehler machen, aus der Debatte im Netz automatisch Schlüsse auf den Zustand der Gesellschaft zu ziehen. Brodnigs Fazit: "Deutschland ist zum Glück nicht so gespalten, wie Social Media das oft nahelegt."

Durch den rauen Ton, aber auch durch die selektive Wahrnehmung der Diskussionen im Netz, gerät das oft schnell in Vergessenheit.

"Zwischen Hass und Meinungsfreiheit: Wie gehen wir miteinander um?“ Darüber spricht auch die Münchner Runde am Mittwochabend, 6. März ab 20.15 Uhr im BR Fernsehen und hier live auf BR24. Es diskutieren unter anderem der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU), die Fraktionsvorsitzende der Grünen im bayerischen Landtag, Katharina Schulze, die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch, der Journalist Jan Fleischhauer und der Kabarettist Christian Springer.

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