Wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten fließt zehn Tage lang kein Gas mehr über die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland.
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Wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten fließt zehn Tage lang kein Gas mehr über die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland.

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"Alles ist möglich": Sorge vor russischem Gasstopp

Mit bangem Blick schaut die Regierung auf die am Montag begonnenen Wartungsarbeiten der Pipeline Nord Stream 1. Ob Russland den Gashahn danach wieder aufdrehen wird, ist nicht sicher. "Wir wissen es einfach nicht", sagt Wirtschaftsminister Habeck.

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Der Beginn der Wartungsarbeiten an der Nord-Stream-1-Pipeline erhöht die Nervosität über die weitere Gasversorgung in Deutschland. Wie geplant begann am Montag die jährliche Wartung der Pipeline durch die Ostsee, bei der der Gasfluss üblicherweise für zehn Tage unterbrochen wird.

Ob Russland die Abschaltung aus politischen Motiven nach dem Ende der Wartungsarbeiten am 21. Juli verlängern wird, ist unklar. "Wir wissen es einfach nicht", sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Montag in Prag. "Alles ist möglich."

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Nord Stream 1 liefert jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas

Durch die Nord-Stream-1-Pipeline strömt jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas von Russland nach Deutschland durch die Ostsee. Zum Beginn der Wartungsarbeiten fielen die Buchungen für den Gasfluss am Montagfrüh wie erwartet auf Null, der Gasfluss würde gedrosselt, teilte der Betreiber mit.

Russisches Gas wird aber auch durch die Ukraine nach Westen geleitet. Der russische Energiekonzern Gazprom teilte mit, dass über den Grenzpunkt Sudzha am Montag 39,4 Millionen Kubikmeter Gas nach Westen gepumpt werden, nach 41,9 Millionen am Sonntag. Durch die durch Polen laufende Jamal-Pipeline leitet Gazprom schon länger kein russisches Gas mehr. Deutschland bekomme aber auch jetzt weiterhin Gas, betonte Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller.

Habeck unterzeichnet Erdgas-Abkommen

Es sei reine Spekulation, was am 21. Juli passieren werde, betonte Wirtschaftsminister Habeck. Russisches Gas könnte nach dem Ende der Wartungsarbeiten im vollen Umfang wieder durch die Pipeline fließen, die Menge könne aber auch bei null bleiben.

Deutschland und Tschechien planen daher ein gemeinsames Erdgas-Solidaritätsabkommen. Habeck und der tschechische Industrie- und Handelsminister Jozef Sikela unterzeichneten am Montag in Prag eine entsprechende Absichtserklärung. "Wir helfen uns gegenseitig mit der Gasversorgung und werden das auch aus Deutschland für Tschechien tun", sagte Habeck über die Kooperation innerhalb Europas. Tschechien ist fast komplett von russischen Gasimporten abhängig.

Notfallpläne für mögliche Gasknappheit

Gazprom hatte seine Lieferungen durch die Nord-Stream-1-Pipeline bereits seit geraumer Zeit auf 40 Prozent des Volumens reduziert. Deutschland und andere EU-Staaten kaufen deshalb auch auf den Weltmärkten Gas ein, um die Speicher für Herbst und Winter zu füllen. Die Bundesregierung hat ein Bündel an Notmaßnahmen beschlossen, mit denen auf eine mögliche Gasknappheit in den kommenden Monaten reagiert werden soll.

Die Bundesnetzagentur arbeitet zudem an Notfallplänen, nach welcher Priorität Gas verteilt werden soll, wenn es knapp werden sollte. In Deutschland gilt derzeit die zweite Stufe eines dreistufigen Gas-Notfallplans. Die Gasspeicher in Deutschland sind derzeit zu etwas mehr als 63 Prozent gefüllt.

Netzagentur-Chef Müller sieht gegenwärtig keine Möglichkeit, den Wunsch der Industrie nach Planbarkeit zu erfüllen. "Ich verstehe diesen Wunsch, der häufig an uns herangetragen wird", sagte er dem Sender Phoenix. Man wisse allerdings schlicht nicht, in welcher Situation und unter welchen Umständen es zu einer Gasnotlage komme. "Die Situation ist so unkalkulierbar, dass jedes Versprechen unter dem Vorbehalt steht, es nicht einlösen zu können. Und Zusagen zu machen, die nicht gedeckt sind, wäre eine noch schlechtere Entscheidung."

Deutschland bekommt Gas aus anderen Ländern, betont Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur.
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Deutschland bekommt Gas aus anderen Ländern, betont Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur.

Moskau nutzt Gas "als politische Waffe"

Während Russland für die Gas-Drosselung der vergangenen Wochen technische Gründe angab, hält Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dies für vorgeschoben und wirft der russischen Regierung vor, Gas als politische Waffe einzusetzen.

Um Russland keinen Vorwand zu liefern, hatte sich die Bundesregierung aber bei der kanadischen Regierung dafür eingesetzt, dass eine dort gewartete Siemens-Turbine der Nord-Stream-1-Pipeline zurückgeschickt und wieder eingesetzt werden darf. Kanada gab dazu am Wochenende die offizielle Genehmigung. Siemens sagte zu, die über Deutschland gelieferte Turbine so schnell wie möglich zu installieren. Die russische Regierung hatte am Freitag erklärt, dass mit der Turbine wieder mehr Gas geliefert werden könnte.

Erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft

Ökonomen erwarten durch hohe Gaspreise und mögliche Lieferengpässe enorme Belastungen für die Volkswirtschaft. Bliebe das Gas aus, würde zwar nicht sofort der Gas-Notstand herrschen, doch eine weitere Befüllung der Gasspeicher für den Winter wäre schwierig, und spätestens 2023 müsste das Gas dann rationiert werden, erläuterte VP-Bank-Chefvolkswirt Thomas Gitzel.

"Die deutsche und die europäische Wirtschaft würden in eine tiefe Rezession abrutschen." Der Schaden für die Wirtschaft könnte sich in der zweiten Hälfte dieses Jahres auf 193 Milliarden Euro belaufen, wie aus Daten der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) vom letzten Monat hervorgeht. "Das abrupte Ende der russischen Gasimporte hätte auch erhebliche Auswirkungen auf die Beschäftigten in Deutschland. Rund 5,6 Millionen Arbeitsplätze wären von den Folgen betroffen", sagte vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.

Auch Verbraucher sollten sparen

Auch der deutsche Verbraucher müsse sich einschränken, betonte Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle im Interview mit BR24. "Das kann damit anfangen, dass man die eigene Heizung überprüfen lässt, ob sie denn optimal eingestellt ist, ob sie energieeffizient arbeitet", schlug er vor.

Auch am eigenen Heizverhalten könne einiges verändert werden: Nicht jeder Raum müsse zwangsläufig maximal beheizt werden. In einigen Räumen könne man etwa die Temperatur nach unten schrauben. Holtemöller betonte jedoch auch: Die privaten Haushalte wären zunächst vor Einschränkungen geschützt, als erstes werde die Stellschraube bei den Unternehmen angesetzt.

Auch der deutsche Verbraucher müsse sich einschränken, betont Prof. Oliver Holtemöller.
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Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle

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