Jugendliche mit Kuscheltier birgt das Gesicht in den Händen
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"Wir wollen wachrütteln": Diskussion zu Missbrauch an Schulen

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"Wir wollen wachrütteln": Experten zu Missbrauch an Schulen

Wachrütteln und Bewusstsein schaffen – das war das Ziel der Podiumsdiskussion zum Thema Missbrauch an Schulen in Dillingen. Anlass war der Fall eines Lauinger Lehrers, der Sex mit einer Schülerin hatte. Die Diskussion geht aber weit darüber hinaus.

Über dieses Thema berichtet: Regionalnachrichten aus Schwaben am .

"Ich kann als Therapeut Missbrauch nicht ungeschehen machen. Unsere Arbeit ist es, die Menschen weiterleben zu lassen", beschreibt der Ulmer Professor Jörg Fegert seine Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiater. Mit fünf anderen Experten diskutierte er an der Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen über das Thema Missbrauch an Schulen. Mit auf dem Podium: eine Betroffene.

Erst hat ein Lehrer Maikes Vertrauen gewonnen, dann missbraucht

Weiterleben kann Maike nach ihren Erfahrungen – allerdings hat sie dafür Deutschland nach dem Abitur verlassen. Zu sehr hat sie die Erinnerung an ihre Schulzeit und an einen bestimmten Lehrer verfolgt. Sie schildert ihre Erlebnisse: "Ich ging gern zur Schule, war eine sehr gute Schülerin. Besonders gern spielte ich in der Schulband, den Leiter fand ich megasympathisch." So fing alles an bei Maike. Heute ist sie Anfang 30. Damals war sie 15, Schülerin an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen.

Der Lehrer sei charismatisch gewesen, habe ihr CDs geschenkt, sie nach Hause gefahren, mit ihr alleine geprobt. Sie ausgefragt zu ihrer Familie, ihren Hobbys, ihren Vorlieben. Sie vertraute sich ihm an, auch zu ihren Problemen in der Familie. Dann folgten Annäherungsversuche. Zunächst körperlicher Art. Als die scheiterten, kamen erst doppeldeutige, dann eindeutig sexistische SMS. Zwei dieser Textnachrichten werden bei der Veranstaltung an die Wand geworfen. Die rund 70 Zuhörer im Saal lesen sie schweigend. Die Zeilen sind eindeutig – die Beschreibung sexueller Handlungen des erwachsenen Mannes, des Lehrers, mit der Schülerin, dem 15 Jahre alten Mädchen.

In Maikes Fall versagte die Schulleitung

Maike vertraut sich Freundinnen an, und sie gehen zur Schulleitung. "Deshalb bin ich hier", sagt die junge Frau, "weil bei der Schulleitung dann alles falsch gelaufen ist." Sie hätte sich mehr Unterstützung gewünscht, sagt sie heute. Damals war ihr Lehrer bei dem Gespräch anwesend, so dass sie sich nicht traute, die Wahrheit zu sagen. Danach macht er ihr Druck. Der tägliche Schulbesuch wird für sie "zur Hölle". Bei einem Gespräch mit der Schulaufsicht war er ebenfalls dabei - mit seinem Anwalt. Sie hatte keinen rechtlichen Beistand.

Im Nachhinein reflektiert sie, der Lehrer sei für sie eine Bezugsperson gewesen. Sie habe damals nicht gewusst, dass es sich um sexualisierte Gewalt handelte. Noch heute spricht sie von der "Verwirrung im Kopf", die sie damals hatte und die sie lange begleitet hat. Letztendlich war diese Erfahrung für sie so schlimm, dass sie nach dem Abitur ins Ausland ging, wo sie bis heute lebt. Für die Podiumsdiskussion ist sie von London nach Dillingen gereist. Sie fordert, dass solche Taten nie aus der Akte der Täter verschwinden – bisher gibt es dafür Tilgungsfristen. Nach in der Regel zehn Jahren hätten die Täter wieder eine "reine Weste" und könnten ohne ihre Vorgeschichte unbelastet weiterarbeiten, so die junge Frau.

Opferanwältin: Betroffene bei der Aufarbeitung begleiten

Die Augsburger Opferanwältin Isabel Kratzer-Ceylan kennt viele ähnliche Fälle. Sie empfiehlt deshalb Betroffenen, sich Hilfe zu holen. Bei Beratungsstellen, wie dem Weißen Ring oder Wildwasser in Augsburg, oder eben bei einem Opferanwalt. Zu einer Aussage bei der Polizei sollte man nicht ohne rechtlichen Beistand gehen, so die Anwältin. Ihre Aufgabe sei es, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Belastungen für die Opfer möglichst gering zu halten. Sie fordert deshalb die zuständigen Gerichte und Staatsanwaltschaften auf, für Betroffene einen Zeugenbeistand zu bestellen. Das geschehe noch viel zu selten. Ansonsten könne eine Befragung – bei der Polizei oder vor Gericht – zu einer "sekundären Viktimisierung" führen. Die Opfer könnten also erneut traumatisiert werden, in dem sie suggeriert bekämen, sie seien schuld. Für eine Anzeige sei es unterdessen auch nach Jahren meist nicht zu spät. Die Verjährungsfrist beginne bei Sexualstraftaten erst ab dem 30. Lebensjahr der Betroffenen.

Schulpsychologe warnt vor Generalverdacht gegen Lehrer

Schulpsychologe und Hypnosetherapeut Shahram Behfar stellt klar: "Jedes Mal ist ein Mal zu viel. Das darf nicht bagatellisiert werden." Dennoch warnt er vor einem Generalverdacht gegen Lehrer. "Die Tatsache, das junge Menschen missbraucht werden, ist kein schulisches, sondern ein gesellschaftliches Problem." Die Schule allerdings muss jedes Kind besuchen. Es gibt eine Schulpflicht – deshalb, so Sozialpädagoge Johannes Heibel, der die Veranstaltung gemeinsam mit Gabriele Schmidthals-Pluta vom Verein "Sicheres Leben Gersthofen" initiiert hat, müsse die Schule "ein Ort sein, der absolut sicher sein muss".

Der Staat habe dafür zu sorgen, dass die Kinder dort sicher sind. Die Schule sei ein wichtiger Schutzort. Es sei der Ort, an dem man Hilfe gewähren könne. Gleichzeitig sei es aber auch ein zentraler Ort für Übergriffe und Missbrauch. Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen komme überall vor, wo es Abhängigkeitsverhältnisse gebe.

Schutzkonzepte als Qualitätsmerkmal sehen

Umso wichtiger sind funktionierende Schutzkonzepte. Um die zu entwickeln, fordert Professor Fegert, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Ulm, müssten auch die Schüler mit eingebunden werden. Wo sind Orte, an denen sie sich in der Schule unwohl fühlten? Solche Fragen müsse man stellen. Die Eltern fordert er auf, entsprechende Schutzkonzepte von den Schulen zu fordern. Schulen sollten diese als Qualitätsmerkmal sehen. Rainer Becker, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe und ehemaliger Polizeidirektor, betont: "Wer in dieser vertrauensvollen Position mit Schutzbefohlenen arbeitet und das für seine eigenen sexuellen Bedürfnisse missbraucht, hat im Schuldienst nichts zu suchen."

Am Ende der Diskussion kommt das Publikum zu Wort, unter anderem Artur Geis, der Leiter der Erziehungsberatungsstelle in Günzburg. Im Schnitt hätten er und seine Mitarbeiter etwa bei 50 Fällen pro Jahr mit Missbrauch zu tun, oft im schulischen Umfeld. Er fordert ebenfalls bessere Schutzkonzepte. Für Schüler, aber auch für die guten Lehrer, die sich dafür einsetzten, solche Vorfälle zu vermeiden.

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