Vor eine Steinstufe steht ein Flyer, der auf die Podiumsdiskussion in der Akademie für Lehrerfortbildung zum Thema sexueller Missbrauch hinweist.
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Nach Fall an Gymnasium: Diskussion um sexuellen Missbrauch

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Sexueller Missbrauch an Schulen – Experten sprechen in Dillingen

Ein Lehrer aus Lauingen hat Sex mit einer Schülerin. Diese macht das nach dem Abi öffentlich. Strafrechtlich wird der Mann zwar nicht verurteilt, doch der Fall sorgt für Diskussionen: Wo beginnt Missbrauch? Experten informieren in Dillingen.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Schwaben am .

Der Fall hat für Schlagzeilen gesorgt: Ein Lehrer eines Lauinger Gymasiums hat Sex mit einer Schülerin. Sie war 17, er 47 Jahre alt. Folgen hat das erst etwa drei Jahre später: Aus Angst spricht die Schülerin erst nach ihrem Abitur darüber.

Ermittlungen folgen, der Fall kommt an die Öffentlichkeit. Letztendlich verliert der Lehrer seine Stelle. Kurzzeitig unterrichtet er noch an einem privaten Gymnasium. Auch da muss er dann gehen. Heute Abend um 19 Uhr tauschen sich Experten im Rahmen einer Podiumsdiskussion in der Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen über das Thema aus, und zwar weit über den Fall hinaus.

Wo beginnt Missbrauch und wo kommt er vor?

Was ist überhaupt Missbrauch und wo beginnt er? Welche Rolle spielt das schulische Umfeld, welche das häusliche und familiäre? Wie gehen Täter vor? Warum melden sich Opfer oft spät? Warum wird ihnen häufig nicht geglaubt? Und: Was wird bereits präventiv getan, was wäre noch möglich und nötig? Um diese Fragen soll es bei der Veranstaltung gehen.

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Isabel Kratzer-Ceyran beschäftigt sich als Oper-Anwältin seit langem mit dem Thema sexueller Missbrauch. Auch sie nimmt an der Diskussion teil.

Opfer melden sich oft spät - und das hat seine Gründe

Auf dem Podium wird unter anderem Opferanwältin und Traumaberaterin Isabel Kratzer-Ceylan aus Augsburg sitzen. Sie macht immer wieder die Erfahrung: Wenn sich Opfer melden, dann oft erst spät. Auch im Lauinger Fall war es so: Erst nach dem Abitur traute sich die junge Frau, sich an die Schulleitung zu wenden. Danach wurde auch Kritik in der Öffentlichkeit laut: Warum sich die Frau erst jetzt melde? Warum man die Vergangenheit nicht ruhen lassen könne? Er sei doch ein guter Lehrer - so war es in mancher Diskussion zu hören.

Dass sich Menschen, denen so etwas insbesondere in jungen Jahren passiert, erst später melden, sei allerdings ganz normal, sagt die Augsburger Opferanwältin Isabel Kratzer-Ceylan. Junge Menschen hätten oft ein Problem, sich abzugrenzen. Oft beginne es so, dass sie ihre Lehrer bewunderten, sich geschmeichelt fühlten, wenn die sich für sie interessierten. In vielen Fällen sähen die jungen Menschen in ihnen dann eine Art Vater- oder Mutterersatz.

Wenn es dann doch zu Grenzüberschreitungen komme, merkten sie oft nicht gleich, dass hier ein Missbrauch stattfinde. Dabei seien Schüler immer Schutzbefohlene - so stellt es auch das Münchner Verwaltungsgericht in seinem Schriftsatz zum Fall fest. Die Opferanwältin hat bereits zahlreiche Fälle betreut und ist überzeugt: Die Dunkelziffer sei sehr hoch, da das Thema sehr schambesetzt sei und sich viele nicht trauten, darüber zu sprechen.

Ulmer Professor: Täter gehen nach bestimmten Strategien vor

Viel Erfahrung mit ähnlichen Fällen hat Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Ulmer Klinikum. Er hat im Rahmen eines Forschungsauftrags für die Bundesregierung Tausende von Missbrauchsfällen analysiert. Die Kinder und Jugendlichen hätten dabei erzählt, was ihnen passiert ist - in Sportvereinen, Kliniken und in Schulen. Professor Fegert konnte hierbei immer wieder eine ähnliche Vorgehensweise der Täter feststellen: Zunächst werde Nähe aufgebaut etwa durch Nachhilfestunden. Die allerdings würden dann außerhalb der Unterrichtszeit und oft auch nicht in schulischen Räumen abgehalten.

Dabei komme es langsam zu Grenzüberschreitungen. Ein Klavierlehrer rücke beim Unterricht zum Beispiel immer ein wenig näher. Die Täter beobachteten die Reaktion und wählten danach aus, auf welches Opfer sie sich weiter konzentrierten. Es würden Situationen geschaffen, die für die Betroffenen nicht klar einzuordnen sind. Die Täter nutzten ihre Autorität aus gegenüber den Schutzbefohlenen. Oft bekämen sie auch Deckung von den Institutionen, auch den Eltern, die den Kindern in viele Fällen nicht glaubten. Hier würden heutzutage oft Chatverläufe helfen, die Absichten der Täter zu belegen. Professor Fegert rät deshalb Kindern und Jugendlichen, solche Nachrichten aufzuheben.

Weitere Podiumsteilnehmer sind Rainer Beckert, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, Schulpsychologe Shahram Behfar sowie Sozialpädagoge Johannes Heibel, Mitorganisator der Veranstaltung und Vorsitzender der Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. Außerdem wird eine junge Frau, die selbst Opfer von Missbrauch ist, auf dem Podium sprechen. Die Veranstaltung ist öffentlich, der Eintritt frei.

Wo kann man sich Hilfe holen?

Wer Hilfe braucht, bekommt diese rund um die Uhr zum Beispiel beim Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch für Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend unter der Nummer 0800-2255 530. Die Berater sind aber auch online zu erreichen.

Informationen finden Betroffene und deren Eltern auch im Internet im Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch. Dabei handelt es sich um ein Angebot der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Beraten lassen kann man sich auch bei der Arbeiterwohlfahrt, beim Weißen Ring oder Wildwasser, einer Initiative gegen sexuelle Gewalt.

  • Zum Artikel: "Verdächtiges Ansprechen" von Kindern: Wie reagiert man richtig?

Zur Vorgeschichte: Der Fall im Landkreis Dillingen

Anlass für die Podiumsdiskussion in der Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen sind Grenzüberschreitungen durch Lehrer bis hin zum sexuellen Kontakt zu einer Schülerin, über die der BR seit Anfang 2020 immer wieder berichtet hat. Zunächst ging es dabei um Annäherungsversuche vonseiten eines Lehrers an Schülerinnen - via Facebook, Snapchat oder anderen sozialen Medien.

Damals hatte eine weitere Betroffene noch nicht den Mut, an die Öffentlichkeit zu gehen. Ihre Abiturprüfungen standen kurz bevor. Sie hatte Angst, ein "Outing" könnte sich negativ auf ihre Noten auswirken. Deshalb wartete sie bis nach dem Abitur, ging dann zur Schulleitung und berichtete: Im Jahr 2017 hatte sie ein Verhältnis mit einem 47-jährigen Lehrer. Die beiden hatten in einem Auto Sex miteinander. Danach endete die Beziehung.

Die Schulleitung meldete den Vorfall ans Kultusministerium. Die weiteren Schritte: Die junge Frau musste bei der Kripo aussagen. Dorthin ging sie alleine. Die damalige Schulleiterin habe sich nach dem ersten Gespräch nicht mehr bei ihr gemeldet, sagt sie heute.

Verwaltungsgericht sieht "schweres Dienstvergehen"

In strafrechtlicher Hinsicht werden die Ermittlungen eingestellt: Der Lehrer habe das Abhängigkeitsverhältnis zur Schülerin nicht ausgenutzt, es habe sich um keinen Missbrauch Schutzbefohlener gehandelt, so die Staatsanwaltschaft Augsburg. Das Verwaltungsgericht München wertet die Sache im Rahmen eines disziplinarrechtlichen Verfahrens hingegen als "sehr schweres innerdienstliches Dienstvergehen".

Auch wenn der Geschlechtsverkehr einvernehmlich gewesen sei, verletze ein Lehrer seine Dienstpflichten, wenn er sexuelle Handlungen zwischen ihm und Schülern zulasse, egal wie alt diese seien. Sein Dienstvergehen habe zur Folge, dass der Betroffene seinen Beamtenstatus verliere und nicht mehr für den bayerischen Staat arbeiten dürfe. Einer dementsprechenden Verurteilung kommt der Lehrer allerdings zuvor, in dem er freiwillig auf seinen Beamtenstatus verzichtet.

Vorübergehend unterrichtet der Lehrer an privatem Gymnasium

An einer staatlichen Schule darf er nun nicht mehr unterrichten. Weil er offenbar sehr überzeugend seine Reue erklärt hat, stellt ihn ein privates Gymnasium ein. Als das bekannt wird, berichten zahlreiche Medien darüber. Das zuständige Schulwerk steht zunächst weiter hinter dem Lehrer, der seit Februar 2022 an dem privaten Gymnasium unterrichtet: Er hatte den Verantwortlichen gesagt, es sei nur dieser einzige Fall gewesen. Sonst sei es zu keinen weiteren Grenzüberschreitungen gekommen.

Dann aber zeigen Chatverläufe: Auch bei anderen Schülerinnen hat er versucht, sie außerhalb der Schule zu treffen - allein, abends. Die Folge: Das verantwortliche katholische Schulwerk Augsburg zieht die Reißleine, der Mann wird freigestellt.

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