Mariupol: Menschen gehen mit Taschen an Gebäuden vorbei, die durch Kämpfe beschädigt wurden.
Bildrechte: Alexei Alexandrov/ap/dpa

Bilder von zerstörten Gebäuden in Mariupol von November 2022 – von hier aus gelang Olgas Familie die Flucht.

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Todesangst im Bombenhagel: Flucht aus Mariupol nach Unterfranken

Kurz vor dem Einmarsch der russischen Armee im ukrainischen Mariupol fleht eine Frau aus Schweinfurt ihre Familie an, zu fliehen. Wie sie wagten viele Ukrainer die schwierige Flucht nach Bayern – doch wie geht es ihnen heute?

Über dieses Thema berichtet: regionalZeit - Franken am .

Zu den schrecklichen Bildern, die seit Kriegsbeginn aus der Ostukraine um die Welt gingen, gehörten auch die der zerstörten Entbindungsklinik in Mariupol, in der auch Schwangere ums Leben gekommen sein sollen. Dort ist sie zur Welt gekommen: Olga, die mittlerweile in Schweinfurt lebt.

BR24 hatte kurz vor dem Einmarsch der russischen Armee über Olga berichtet. Eine Frau, die ihre Familie im ostukrainischen Mariupol anflehte, zu fliehen, bevor möglicherweise Putins Panzer rollen. BR24 berichtete auch, wie sie um ihre Familie bangte, als die russischen Streitkräfte die Stadt einkesselten.

Olga verliert Kontakt zu ihrer Familie

Vorab die gute Nachricht: Olgas Mutter Lubow, ihre Schwester Tanja, ihr Schwager Alexej und ihr Neffe Paul gelingt die Flucht. Über Russland, dann über die lettische Grenze – bis nach Schweinfurt. Olga möchte nicht, dass ihre Nachnamen in dieser Geschichte erwähnt werden.

Olgas Cousine Julia ist im Bombenhagel gestorben. "Mein Schwager und meine Cousine waren Wasser holen, draußen, weil es gab ja kein fließendes Wasser mehr. Und dann gab es eine Bombe. Und Julia wurde getroffen und ist auf der Stelle gestorben", erzählt Olga. Tagelang hatte sie in dieser Zeit jeden Kontakt zu ihrer Familie verloren.

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Nachricht an den Bundeskanzler

Verzweifelt schreibt sie dem bayerischen Ministerpräsidenten, dem Bundeskanzler, sie sollen sich für Fluchtkorridore einsetzen. Eine Antwort erhält sie schließlich von ihrem Neffen, dem 22-jährigen Medizinstunden Paul – per SMS.

Über ihn gelingt es, ihre Schwester an den Hörer zu bekommen: "Sie hat geweint, es geht den Menschen in der Stadt sehr schlecht, sie haben kaum Wasser, kaum noch Lebensmittel, sie frieren, sie fällen die Bäume und machen Feuer auf der Straße, und das ganze unter ständigem Beschuss und Bombardierungen", sagt sie damals.

Medizinstudent rettet seinem Vater das Leben

Olgas Neffe Paul ist auch der erste, der seinen schwerstverletzten Vater versorgt. Er studiert im fünften Jahr Medizin und ist fast fertig mit dem Studium. "Er hat das wirklich toll gemacht. Sie hatten noch ein paar Medikamente zu Hause, er hat ihm Spritzen gemacht und so hat Alexej überlebt", sagt Olga.

Da fielen weiter Bomben auf die Industriestadt Mariupol mit rund 500.000 Einwohnern. Eine Flucht schien zu dieser Zeit aussichtslos. Ihre Familie erzählt Olga von den Straßenkämpfen in der Stadt. Nachts habe ihre Familie unter den Türrahmen gestanden, weil sie dachte: Wenn eine Bombe ins Haus fällt, dann könnte der Türrahmen das letzte Bauteil sein, das zusammenbricht.

Fluchthelfer aus Russland

Der Onkel von Olgas Freundin rettet ihre Familie schließlich – von Russland aus. Er fährt mit seinem Auto über Checkpoints bis in die bombardierte Stadt. Fluchtrouten oder bereitstehende Busse für die Zivilbevölkerung habe es nicht gegeben.

In Russland holt dann Olgas Tante aus Moskau die Familie ab und fährt sie rund 1.700 Kilometer weit an die Grenze zu Lettland. Olgas Mann Frank setzt sich gleichzeitig in Schweinfurt ins Auto, um die Familie seiner Frau an der Grenze abzuholen. "Wir haben dann an der Grenze gewartet und waren froh, als wir sie endlich holen konnten. Das war schon eine ganz emotionale Geschichte", schildert Olgas Ehemann Frank seine Eindrücke. "Wir waren so froh, dass das geklappt hat."

Erste Station: Krankenhaus-Notaufnahme

Zurück in Schweinfurt fahren Frank und Olga ihren schwerverletzten Schwager Alexej sofort ins Krankenhaus. Hier wird er dreimal operiert. Nach seinem Klinikaufenthalt erholt sich Alexej langsam. Inzwischen kann er wieder arbeiten.

Familie sieht Zukunft in Deutschland

Alexej ist Elektroingenieur. In Unterfranken hat er eine Arbeit als Elektriker gefunden. Der fast fertige Arzt Paul arbeitet jetzt als Krankenpflegehelfer in einer Schweinfurter Klinik. Und Olgas Mutter Lubow wird nach einer Krebserkrankung hier medizinisch versorgt. "Sie sind froh, dass sie überlebt haben. Und ich finde, es ist toll, dass auch wir in Deutschland diesen Menschen eine Chance gegeben haben, ein neues Leben anzufangen", sagt Olga. Sie sei unendlich dankbar, dass ihre krebskranke Mutter hier behandelt werde. Sie hätte in Mariupol keine Chance gehabt.

Größtes Glück: Haben überlebt

Und wie geht es ihrer Mutter heute? Die Seniorin lächelt und sagt, ohne einen Augenblick nachdenken zu müssen: Nach allem was passiert ist und verglichen mit Menschen, die jetzt noch in der Ukraine seien, fühle sich sie sich ausgezeichnet, übersetzt Olga die Antwort ihrer Mutter. Sie sei so froh, dass es ihre Familie aus dem Bombenhagel geschafft habe, sie kenne so viele, die es nicht geschafft haben. "Und das ist traurig", sagt Olga.

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