Klebeaktion eines Klimaaktivisten
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"Staatliche Hate Speech": Streit um Vorverurteilung nach Razzia

SPD und Grüne beklagen eine öffentliche "Vorverurteilung" der "Letzen Generation" durch bayerische Ermittler - und wollen von der Staatsregierung Aufklärung. Auch von Juristen kommt Kritik. Die CSU kontert scharf: Der Vorwurf sei "inakzeptabel".

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Von den Straßenblockaden der "Letzten Generation" hält der bayerische SPD-Rechtsexperte Horst Arnold nichts - diese Feststellung ist dem langjährigen Staatsanwalt und Richter wichtig. "Klimakleberei lehnte ich ab, da das Mittel die Gesellschaft spaltet", sagt er BR24. Doch der öffentliche Umgang der staatlichen Behörden mit der Gruppierung nach der Razzia am Mittwoch empört Arnold.

Die SPD-Landtagsfraktion werde daher eine schriftliche Anfrage an die Staatsregierung stellen, kündigt er an. Zuvor hatten auch die Grünen schon eine Vorverurteilung der "Letzten Generation" beklagt - Innenminister Joachim Herrmann und Justizminister Georg Eisenreich (beide CSU) müssten unverzüglich für Aufklärung sorgen.

Arnold: Staat trägt zu Eskalation bei

Generalstaatsanwaltschaft München und Bayerisches Landeskriminalamt hatten am Mittwoch unter anderem die Internetseite der "Letzten Generation" beschlagnahmt und mit dem Hinweis versehen: "Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar!" Nach Kritik in sozialen Netzwerken wurden diese Sätze gelöscht, eine Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft München sprach von einem "missverständlichen" Hinweis.

Tatsächlich wird zwar gegen sieben Beschuldigte wegen eines entsprechenden Verdachts ermittelt, Arnold verweist aber auf die Unschuldsvermutung sowie die Gewaltenteilung - zu der die Unterscheidung zwischen Exekutive (ausführende Gewalt) und Judikative (rechtsprechende Gewalt) zählt. Wenn Staatsanwaltschaft und Polizei als staatliche Behörden unter Verkennung dieser Prinzipien derart undifferenziert "agieren, dann tragen sie staatlicherseits zu einer Eskalation und weiter polarisierenden Weise zur Spaltung bei", kritisiert der SPD-Politiker. Es komme eine "schändliche und unwürdige Positionierung zum Ausdruck".

"Die Veröffentlichung war Vorsatz"

Arnold betont, dass gemeinsame Veröffentlichungen von Generalstaatsanwaltschaft und Landeskriminalamt wegen ihrer unterschiedlichen Funktionen koordiniert werden müssten und mit Absprache erfolgten. "Dass dies die Generalstaatsanwaltschaft so hat stattfinden lassen, ist für mich enttäuschend und ein Stück weit erschütternd."

Der SPD-Rechtsexperte wirft den Behörden vor, die Veröffentlichung sei Vorsatz und nicht fahrlässig gewesen. "In der Gesamtwürdigung des Vorgangs und der rechtlichen Gegebenheiten kommt diese Veröffentlichung einer staatlichen Hate Speech gleich, weil sie ohne weiteres Menschen kriminalisiert." Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze verlangt ebenfalls Aufklärung, "wie es zu diesem Tabubruch kommen konnte und ob die Ermittlungen auf politische Weisung erfolgt sind".

CSU: Vorwürfe der Opposition "absolut inakzeptabel"

Die Vorsitzende des Rechts- und Verfassungsausschusses des Landtags, Petra Guttenberger von der CSU, wies die Kritik der Opposition zurück. "Der Aufruf zu Straftaten, damit einhergehende Gefährdung von Menschen sind keine Bagatellen", betonte sie auf BR24-Anfrage. Bei diesem klaren Angriff auf den Rechtsstaat von Vorverurteilung und politischer Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaft zu sprechen, sei "absolut inakzeptabel".

Auch die Grünen wüssten, dass bei einem bestehenden Anfangsverdacht Durchsuchungen und Beschlagnahmen immer erst möglich seien, wenn unabhängige Ermittlungsrichter dies anordnen. Wenn die Grünen nun mit der "Letzten Generation" eine Gruppierung unterstützten, die offen zu Straftaten aufrufe, zeige dies, "dass sie jeglichen rechtsstaatlichen Kompass verloren haben". Das sei "der eigentliche Skandal".

Das bayerische Justizministerium antwortete auf eine BR-Frage, was es auf den Vorwurf der Vorverurteilung entgegnet, ausweichend. Die Frage, ob es sich bei der "Letzten Generation" um eine kriminelle Vereinigung handelt, sei eine Rechtsfrage, "die von der Staatsanwaltschaft und letztlich von unabhängigen Gerichten nach ausschließlich rechtlichen Gesichtspunkten zu beantworten ist".

Richtervereinigung: Anschein politischer Beeinflussung vermeiden

Die Neue Richtervereinigung, ein Zusammenschluss von Richtern und Staatsanwälten, beklagte einen "eklatanten Verstoß gegen die Unschuldsvermutung". Das sei umso gravierender, als die rechtliche Diskussion über die Einstufung als "kriminelle Vereinigung" von einer Klärung weit entfernt sei.

Die Vereinigung verwies zudem auf das politisch aufgeheizte Umfeld: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) habe wiederholt ein "striktes Durchgreifen" gegen die Gruppierung verlangt. "Und die Generalstaatsanwaltschaft München hatte daher als Justizbehörde wenige Monate vor der Landtagswahl allen Anlass, die gebotene mediale Distanz zur überschießenden Kraftmeierei der politischen Akteure zu wahren."

Staatsanwaltschaften seien in Deutschland allen europäischen Mahnungen zum Trotz weisungsabhängige Behörden im Geschäftsbereich der Landesregierungen. "Sie stehen daher in besonderer Verantwortung, jeden Anschein unzulässiger politischer Beeinflussung oder Beeinflussbarkeit zu vermeiden."

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Die Warnung der bayerischen Behörden

Ministerium: Keine Weisung

Scharfe Kritik äußerte im ZDF-"Heute Journal" auch der Frankfurter Strafrecht-Professor und Richter Matthias Jahn: Wenn eine Generalstaatsanwaltschaft am Beginn eines Ermittlungsverfahrens sage, dass es sich um eine kriminelle Vereinigung handle, sei das eine Vorverurteilung. Es lasse sich auch nicht übersehen, dass solche Ermittlungen Einfluss auf den heraufziehenden bayerischen Wahlkampf hätten. "Hier wird versucht, politischen Aktivismus mit juristischem Aktionismus zu beantworten - und die Verhältnismäßigkeit bleibt auf der Strecke", kritisierte der Jurist.

Das Bayerische Justizministerium hatte am Mittwoch auf BR24-Anfrage klargestellt: "Eine Weisung an die Generalstaatsanwaltschaft München ist seitens des Justizministeriums nicht erfolgt." Von der Möglichkeit einer Einzelfallweisung werde in Bayern lediglich in äußerst seltenen Einzelfällen Gebrauch gemacht, teilte das Ministerium weiter mit. "In den vergangenen Jahren gab es beispielsweise keine Einzelfallanweisung."

Scholz zeigt Verständnis für Razzia

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigte derweil Verständnis für die großangelegte Razzia gegen die "Letzte Generation" wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die Justiz handele unabhängig, sagte Scholz dem "Kölner Stadt-Anzeiger". "Erkennbar werden hier wiederholt Straftaten verübt, das kann der Rechtsstaat nicht ignorieren." Zugleich bekräftigte der Kanzler seine grundsätzliche Kritik an der "Letzten Generation": "Von allen Protestaktionen der vergangenen Jahrzehnte dürfte es diejenige sein, die wohl am wenigsten bewirkt hat - außer, dass sich alle darüber aufregen, selbst die Wohlwollenden."

Mit Informationen von dpa und AFP.

Im Audio: Kommentar zur Razzia bei "Letzter Generation"

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