"Wir schauen russisches und deutsches Fernsehen, da wird was ganz anderes gezeigt."
"Man ist auf jeden Fall im Zwiespalt, steht dazwischen."
"Ich bin auf jeden Fall gegen Krieg – da leiden Menschen."
Es sind Aussagen von Frauen, die in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen sind. Sie möchten teils anonym bleiben, teils stehen sie zu ihren Aussagen. Ihnen gemein ist, dass sie alle seit vielen Jahren im niederbayerischen Otzing im Landkreis Deggendorf leben – und sie alle arbeiten hier im Kindergarten.
Otzing: Niederbayerischer Ort mit vielen osteuropäischen Migranten
Die Kindertagesstätte ist der Ort, der die Bevölkerung in Otzing mit rund 2.000 Einwohnern am besten widerspiegelt: Knapp 40 Prozent der Kinder und knapp 30 Prozent des Personals in der Kita haben einen osteuropäischen Migrationshintergrund.
- Zum Artikel "Ukrainer und Russen: "Schock, Trauer und Wut" auf allen Seiten"
Ukraine-Krieg soll russisches und deutsches Personal nicht spalten
Der Ukraine-Krieg ist daher auch in der Kinder-Tagesstätte in Otzing präsent. Nach den Faschings-Ferien besprechen sich die Gruppenleiterinnen zum Krieg, es gibt einen Newsletter vom Staatsministerium mit Links und Hinweisen. Denn: Es werden Fragen zum Krieg von Kindern auftauchen, da sind sich die Erzieherinnen sicher. Sie sind vorbereitet, man werde kindgemäß antworten und Sicherheit vermitteln. Denn die Kita soll ein neutrales Gebiet sein, hier sollen sich die Kinder wohlfühlen, hier soll es ihnen gut gehen.
In der Besprechung wird auch deutlich gemacht: Die Kita ist neutraler Boden, es soll kein politisches Thema daraus im Team zwischen Russen und Deutschen gemacht werden. Einig sind sich dennoch alle: Der Angriffskrieg in der Ukraine ist zu verurteilen.
Russinnen innerlich zerrissen
Das Thema soll das Personal nicht spalten. Spricht man die Erzieherinnen aus Russland oder Kasachstan privat an, zeigen sie sich innerlich zerrissen: "Früher waren wir alle gemeinsam, wir sind in der Sowjetunion gemeinsam aufgewachsen – Russland, Ukraine, alle Länder waren zusammen. Jetzt auf einmal herrscht Krieg. Ich glaube, es sind beide Seiten beteiligt – es haben beide Seiten Schuld", sagt eine Erzieherin, die in Kasachstan geboren wurde und mit 14 Jahren nach Deutschland kam. Ihren Namen will sie nicht öffentlich lesen.
Genauso wie ihre Kollegin: "Egal zu welchem Land du stehst oder welche Meinung du hast - es kann sein, dass das jemand in den falschen Hals bekommt und du mit Konsequenzen rechnen musst."
Russin: "Wir hören nicht nur eine Seite"
Was die Erzieherin genau damit meint, will sie nicht sagen. Konkreter wird eine andere Otzingerin, Ludmila Martinow. Ihren Namen dürfen wir nennen. Die 52-Jährige wurde in Russland geboren, kam mit 24 Jahren nach Deutschland. Sie hat Familie in Russland und der Ukraine. Martinow verurteilt den Krieg, erklärt die innerliche Zerrissenheit aber wie folgt:
"Wir schauen zwei Nachrichten: deutsche und russische Nachrichten. Wir sind zweiseitig informiert, wir hören auch mehrere Meinungen, nicht nur eine Seite. Wir haben Putin immer vertraut – wir haben nie gedacht, dass Krieg entsteht. Wir haben immer gehofft, dass sie das diplomatisch schaffen. Ich muss selber noch viel überdenken – ich kann nicht sagen, was ist gerecht oder nicht gerecht – auf jeden Fall: Krieg soll nicht sein."
Misstrauen spürbar
Zwischen den Zeilen wird Misstrauen gegenüber den Medien spürbar (Zum Hintergrund: Dem russischen Auslandssender RT Europe – früher Russia Today – wird international vorgeworfen, Desinformation und Propaganda des Kremls zu verbreiten. Daher haben große Tech-Plattformen wie Microsoft oder Google angekündigt, RT und Sputnik in den meisten Ländern in den sozialen Medien zu sperren).
Im Gespräch zeigt sich Martinow hin- und hergerissen. Auf Putin, seinen Angriff, seinen Krieg angesprochen, antwortet sie: "Wenn ich mit meiner Verwandtschaft rede – die stehen zu ihm. Er hat Russland stärker gemacht. Ich meine das nicht kriegerisch, sondern wirtschaftlich. Wir sind alle gegen diesen Krieg – ich hoffe, dass er auch keinen will."
Sorgen um russische Kinder
Sorgen macht sie sich besonders nicht nur um ihre beiden Kinder in Deutschland: "Dass die Nationalitäten aussortiert werden, wie: 'Du bist Russe, dann bist du schlecht – du bist Deutscher, dann bist du ok.' Das macht uns Sorgen – das betrifft unsere Kinder, die gehen in die Schule." Martinow betont aber: Bisher habe es keine Vorfälle in diese Richtung gegeben.
Das bestätigt auch Otzings Bürgermeister Johannes Schmid (CSU): "Ich habe bisher von den Mitbürgern nichts gehört, dass Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten entstehen." Anders in Neumarkt in der Oberpfalz: Dort haben Unbekannte einen russischen Supermarkt mit Anti-Putin-Schriftzügen und Beleidigungen beschmiert, Schaufenster und Ladentür wurden beschädigt.
Krieg darf nicht spalten – auch nicht in Deutschland
Der Krieg dürfe nach der 52-jährigen Martinow nicht spalten, auch nicht in Deutschland – und besonders nicht an einem Ort, an dem Kinder unterschiedlicher Nationalitäten in Frieden aufwachsen sollen und können - im Kindergarten.
💡 Hintergrund
In ganz Bayern ist das Mitgefühl mit der Ukraine groß – der Krieg Putins in der Ukraine wird aufs Schärfste verurteilt. Zahlreiche Solidaritäts-Kundgebungen finden in vielen bayerischen Städten wie München, Regensburg, Straubing oder Deggendorf statt. Die Hilfsbereitschaft ist enorm: Flüchtlings-Helfer-Vereine, Kirchen, Sportvereine und andere Ehrenamtliche sammeln Spenden und bringen sie an die ukrainische Grenze. Auf privater wie staatlicher Seite wird nach Wohnraum für Kriegsflüchtlinge gesucht.
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