13.06.2023, Bayern, Markt Bibart: Ein Arbeiter verlascht auf einer Baustelle der Bahnstrecke Würzburg - Nürnberg neu gelegte Schienenstücke. Die Strecke Würzburg - Nürnberg gehört laut Bahn zu den acht am stärksten ausgelasteten Strecken Deutschlands. Die Bahn modernisiert den Abschnitt und erneuert rund 144 Kilometer Gleise, 40 Weichen und rund 230 000 Schwellen. Zudem werden 200 000 Tonnen Schotter ausgetauscht und 100 000 Tonnen Boden bewegt. Foto: Daniel Karmann/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Bahn modernisiert Strecke Würzburg-Nürnberg

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Marode Bahn in Bayern: Warum die Probleme nicht enden

Die Pünktlichkeitswerte für den Mai 2023 liegen im Bahn-Fernverkehr bei 65,5 Prozent. Auch im Regionalverkehr sind Verspätungen und Ausfälle Alltag. Die Infrastruktur ist jahrelang vernachlässigt worden. Wie verheerend die Lage wirklich ist.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Für Fahrgäste ist es Alltag, wenn sie mit dem Zug unterwegs sind: Verspätungen, Störungen. Es ist ein wenig Glücksache, ob sie pünktlich ankommen. Und die Bahn in Deutschland kommt nicht aus den Schlagzeilen – Baustellen, Tarifauseinandersetzungen, Streckensperrungen. Im letzten Jahr musste die Bahn Reisenden eine Rekordsumme an Entschädigungen zahlen: Es waren fast 100 Millionen Euro in Summe für Verspätungen und Zugausfälle. Die Pünktlichkeitswerte für den Mai 2023 liegen bei ICE und IC Zügen – also im Fernverkehr – bei 65,5 Prozent. Das heißt, jeder dritte Zug ist verspätet.

Im Nahverkehr sind die Werte besser, aber Züge, die gar nicht fahren, zählen auch nicht in der Pünktlichkeitsstatistik. Warum sich die Bahn so schwer tut? Warum das Netz so marode ist? – Es gibt viele Gründe. Der wichtigste Grund liegt vielleicht darin, dass sie mit der Instandhaltung ihrer Anlagen nicht hinterherkommt.

Bayern – Flächenstaat mit größtem Bahn-Instandhaltungsbedarf

Baustellen gib es viele im Netz der Deutschen Bahn. Auf 12 Prozent des Deutschen Schienennetzes wird derzeit gearbeitet, denn es ist in den letzten Jahren regelrecht verlottert. Der Nachholbedarf ist riesig: Allein für die Instandhaltung von Gleisen, Brücken, Weichen und Stellwerken sind 89 Milliarden Euro nötig, das hat der zuständige Bahnvorstand in diesem Frühjahr bestätigt.

Bayern hat das größte Flächennetz mit rund 6.500 Kilometern Schiene und vielen veralteten Anlagen. Derzeit wird auf der Strecke Würzburg – Nürnberg gebaut. Auf der Strecke München – Kufstein und Rosenheim – Salzburg baut die Bahn, und zwischen Augsburg und Ulm wird an Oberleitungen gearbeitet. Das sind nur einige der großen Bauprojekte. Die wichtigsten Schienenkorridore sollen bis 2030 generalsaniert werden.

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Auf diesen Bahnstrecken in Bayern ist der Instandhaltungsbedarf beonders hoch

Über 2 Milliarden Euro heuer für Bayerns Bahn-Infrastruktur

Auch in Bayern wird aktuell und in den nächsten Jahren massiv in die Schiene investiert. Auf BR-Anfrage konkretisiert das die Bahn: Demnach stehen 2,225 Milliarden Euro im laufenden Jahr für den Aus- und Neubau der bayerischen Infrastruktur zur Verfügung. "Mit den Investitionen modernisiert und erneuert die DB 2023 ca. 450 Kilometer Gleise, 300 Weichen sowie 40 Brücken." Parallel werden im Freistaat Maßnahmen an 120 Haltestellen und Bahnhöfen umgesetzt. "Darüber hinaus investiert die DB 2023 bundesweit über drei Milliarden Euro in Instandhaltungsmaßnahmen."

Bahn investiert vor allem in die Hauptstrecken

Die DB spricht bei ihren Investitionen in Bayern gern von den "Hauptschlagadern der Schiene" mit den meisten Fahrgästen. Dazu gehören eben die Ausbaustrecke München - Nürnberg - Berlin und München - Augsburg - Ulm - Stuttgart, sowie die S-Bahn-Stammstrecke in München.

Störanfällige Anlagen macht Reisen zur Geduldsprobe

Weil die Bahnanlagen so störanfällig sind, machen sie Fahrgäste wie Beschäftigte mürbe. Der Vorsitzende der Lokführergewerkschaft GDL in Bayern, Uwe Böhm, berichtet über eine Dienstfahrt von München nach Nürnberg.

"Wir fahren schon nicht los wegen der Signalstörung bei Dachau. Ja, das ist nun keine auffällige Strecke. Da ist einfach das Signal gestört. Auf der Rückfahrt von Nürnberg passiert dann das Gleiche, über den Weg nach Treuchtlingen wieder eine Signalstörung. Das heißt, ich habe eine Verspätung von zwei Stunden zwischen München und Nürnberg." Uwe Böhm, GDL Bayern

Die Leidtragenden sind die Mitarbeiter und die Fahrgäste. Das Personal bekommt regelmäßig den Frust der Fahrgäste ab, dann herrsche "dicke Luft im Fahrgastraum".

Pro Bahn: Generalsanierungen nötig statt Reparatur von Einzelproblemen

Auch im Kernnetz sei die Qualität in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, sagt Lukas Iffländer. Er ist Vorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn in Bayern. Aber repariert wurden immer Einzelprobleme, deswegen die vielen Sperrungen. Und deswegen brauche es Generalsanierungen wie auf der Rheinschiene oder zwischen Würzburg und Nürnberg. Überhaupt gehe es vor allem um Sanierungen des Kernnetzes. Dass die Bahn dabei immer von Investitionen spricht, kritisiert Iffländer. Denn ein Großteil der Summe gehe für den Austausch von abgehenden Anlagen drauf. "Also von Sachen, die überhaupt nicht mehr sanierbar sind. So kriegt man die Zahlen halt auch nach oben. Also wenn man das, was man sowieso machen müsste, noch als große Investitionen ankündigt."

Ein anderer Aspekt sei, dass die DB ganz häufig mit den Planungen nicht vorwärtskommt. Da werde "sehr viel Zeit irgendwo im Wasserkopf in Frankfurt und Berlin verbracht (...), bevor dann wirklich überhaupt mal was los geht vor Ort".

Lange Sperrpausen oder Bauen unter rollendem Rad

Es hat viele Gründe, aber Bahn-Baumaßnahmen kommen kaum in die Gänge in Deutschland. Und wenn doch, dann dauern sie lange. Und wenn nicht total gesperrt werden kann, dann muss unter rollendem Rad gebaut werden. Abschnittsweise werden die größten Löcher gestopft. Lukas Iffländer erinnert an das Flächennetz.

"Wenn wir jetzt mal gerade ans Werdenfels zum Beispiel denken, wo wir wirklich sehen, dass das qualitativ auch ziemlich weit runter ist und dass wir da eben wirklich bis zum Fall Entgleisung mit Todesfolge schon als Szenario hatten." Lukas Iffländer, Pro Bahn

Beispiel Werdenfels: Investition von 100 Millionen

Nach dem Unfall ist schnell gehandelt worden, die Bahn hat viele Langsamfahrstrecken eingerichtet, und sie tauscht Betonschwellen dieser Bauart in ganz Deutschland. Gerade die Strecke von München ins Werdenfels ist abschnittsweise immer noch gesperrt. Die Bahn verweist auf die Anstrengungen in dem Bereich Werdenfels und Oberland: "Dort packt die DB an zahlreichen Stellen im Netz an und setzt ihr 2022 gestartetes Investitionsprogramm im Volumen von inzwischen über 100 Millionen Euro für die Sanierung der Strecken fort. Dabei setzt die DB auf eine grundlegende Erneuerung von Schienen, Schwellen und dem Gleisunterbau."

Wenn man das genau anschaut, so Lukas Iffländer im BR24-Interview, dann heißt das, dass "allein im Oberland und in den Werdenfels die Deutsche Bahn staatseigene Infrastruktur im Wert von 100 Millionen Euro verkommen hat lassen."

Viele Regionalstrecken uralt

Ähnliche Zustände gibt es laut Iffländer auf vielen Regionalstrecken in Bayern: "Das sind auch irgendwie die Zwiesler Spinne außenrum, die ganzen Regionalstrecken, wo eigentlich nur noch Personenverkehr, meistens nur im Stundentakt oder mal im Halbstundentakt drauf ist." Es sind die Strecken, die eigentlich im schlechtesten Zustand sind, wo die Bahnübergänge gefühlt gebaut zu Zeiten gebaut wurden, "da war Bayern noch Königreich, und seitdem ist nichts mehr geändert worden."

Inzwischen ist so viel Verkehr auf dem maroden Schienennetz, dass sogar kurze Baupausen nur schwer zu bekommen sind. Es fehlt auch an der Flexibilität der Betriebe und Personal bei der Instandsetzung. So sind die Alternativen: Bauen unter rollendem Rad – oder mehrwöchige oder sogar mehrmonatige Streckensperrungen.

Noch 90 Jahre bis zu kompletten Elektrifizierung der Bahnstrecken

Ein weiteres Problem: An der Elektrifizierung fehlt es stark. So hat Bayern erst die Hälfte des Streckennetzes elektrifiziert, 51 Prozent. GDL-Chef Böhm sagt zum bundesweiten Netz: "Wir haben in den letzten 25 Jahren 140 Kilometer Schiene elektrifiziert und laut Experten brauchen wir noch einmal 90 Jahre, bis wir hundert Prozent elektrifiziert haben." Das auch als Hintergrund, warum der Deutschlandtakt verschoben wurde auf das Jahr 2070.

Im grenzüberschreitenden Verkehr ist die fehlende Elektrifizierung ein Problem. An fünf Grenzübergängen von Bayern nach Österreich oder nach Tschechien fehlt auf deutscher Seite die Oberleitung. Das heißt, an der Grenze ist jedes Mal ein Lokwechsel nötig.

Systematischer Verfall wird nicht aufgeholt

Dass die Bahn so weit heruntergekommen ist, habe systemische Ursachen, sagt auch der Physiker Anatol Jung. Er hat als Qualitäts- und Sicherheitsprüfer über drei Jahre Dokumente kontrolliert und mit Streckenverantwortlichen in Deutschland teils mehrstündige Interviews gemacht. Dabei ging es um den Zustand der Anlagen, die Wartung. Was er dabei herausgefunden hat, liegt dokumentiert in einem 200-seitigen Bericht vor, der im Konzern verteilt wurde und inzwischen beim Bundestag gelandet ist.

Weil Jung den Bahn-Mitarbeitern Anonymität zugesagt hat, haben sie mit großer Offenheit berichtet. Gefragt nach den Hauptgründen fasst Jung zusammen:

"Also, es ist Personalmangel, Unterqualifizierung und Erfahrungsverlust durch Abgang in Rente oder Flucht. Dann die Netzüberlastung der Anlagen, Zerfall, die nachlassende Instandhaltungs- Qualität, das erhört das Störaufkommen und vor allem der mitwachsende Druck in der Linie. Es wird massiv nach unten gedrückt." Anatol Jung, DB-Sicherheitsprüfer

Auch die Gewerkschaften beklagen ein schlechtes Betriebsklima in weiten Teilen der Bahn und ihren vielen Unternehmen, auch bei den ganz großen, wie der DB Netz AG. Die forcierte Digitalisierung nütze weniger dem Bahnbetrieb als der Kontrolle der Mitarbeitenden – jedenfalls empfänden das viele so, sagte ein Informant dem BR.

"Verantwortliche der Bahn haben jahrelang weggeschaut"

Gedankt hat der DB Konzern es seinem Qualitätsprüfer nicht, dass er die Mängel im System aufgedeckt und gemeldet hat. Mit mehreren Arbeitsgerichtsprozessen ist Anatol Jung aus dem Unternehmen gedrängt worden. Die aufgedeckten Mängel sind durchaus brisant: Wartungsfristen, die überzogen wurden, Meldungen über Probleme ohne Konsequenzen und dabei enormer Druck auf die Mitarbeitenden. Im Ergebnis in weiten Bereichen des Schienennetzes: nachlassende Instandsetzungsqualität. Gerade in Bayern.

Er habe Einblick in das Logbuch der Leit- und Sicherungstechnik bekommen, also der gefährlichen Ereignisse, die über seinen Schreibtisch liefen, sofern sie nicht vertuscht worden seien, so Jung im Interview mit dem BR:

"Und dann konnte ich ja zuerst die Bahnübergangs-Misere sehen. Und das ist so hanebüchen. Es ist einfach jahrelang nichts gemacht worden. Und was mich als Prüfer schockiert: Die ganzen internen Aufsichtsinstanzen der Bahn haben weggeschaut." Anatol Jung
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Anatol Jung zeigt dem BR-Reporter seinen Bericht. Er listet die Mängel und Versäumnisse der Instandhaltung bei der DB auf.

Rückbau der Bahn und Fehlentscheidungen in den letzten Jahrzehnten

Den maroden Zustand der heutigen Bahn haben die Politik und die Unternehmensleitung in den letzten dreißig Jahren durch Unterlassen und falsche Entscheidungen herbeigeführt. Lukas Iffländer erinnert an die massiven Sparmaßnahmen nach der Umwandlung der Bundesbahn in eine Aktiengesellschaft unter den Bahnchefs Dürr und Mehdorn, als das Ziel war, eine Infrastruktur zu haben, die Gewinn erwirtschaftet, fasst das Iffländer zusammen.

Gleise stillgelegt, Grundstücke verkauft

Diese sei nur auf das minimal Notwendige ausgelegt worden. "Das heißt, in einem Idealzustand brauche ich ja kein Überholgleis, weil die Züge alle pünktlich sind. Ich brauche keine Überleitstellen, weil immer alle Gleise verfügbar sind." Mit dieser Utopie oder Illusion sei man daran gegangen und habe quasi "alles zusammengespart, weil man dachte, wir müssen irgendwie diesen Börsengang schaffen."

Gleichzeitig hat der Bund viele Milliarden D-Mark und Euro eingenommen, als nicht nur in den großen Städten wie Frankfurt, Stuttgart oder München die Bahn Platz machen musste für neue Stadtviertel. Gleise, Weichen, Bahnanlagen wurden ja für verzichtbar gehalten, die Güterverladungen aus den Städten genommen. In München war es der Zug von Neubaugebieten vom Hauptbahnhof über Laim nach Pasing, immer entlang der Bahnstrecke.

Heute fehlen Abstellgleise, Logistikflächen bei den Bahnanlagen

Bauarbeiten dauern oft so lange, weil mancherorts die Bahnanlagen schwer zugänglich geworden sind, weil um sie herum so viel zugebaut worden ist. Anatol Jung kennt Beispiele vom Kölner Hauptbahnhof bis nach München. Jetzt, wo die Bahn nach dem Willen der Politik und der Gesellschaft wieder wachsen soll, fehlen die Flächen.

Die Verkehrsminister und die Bahnchefs gingen, die Probleme sind geblieben – und größer geworden. So kämpft die Bahn im Güterverkehrsbereich um den Einzelwagenverkehr. Also Güterzüge, die zusammengestellt werden und dann auf die Reise gehen. Das war unter Mehdorn eingespart worden, Gleise wurden herausgerissen. Das Programm hieß Mora C, also "marktorientiertes Rahmenangebot Cargo", erinnert sich Lukas Iffländer:

"Da ging es darum, dass man eben diesen ganzen Stückgutverkehr und sowas rückgebaut hat und die Grundstücke verscherbelt hat. Und wenn man jetzt gucken würde – heute hätten wir gerne eigentlich solche Flächen mit der idealen Anbindung für City-Logistikkonzepte, für ökologische Feinverteilung mit Elektrofahrzeugen im Anschluss. Und genau jetzt sind die halt dummerweise weg. Und da stehen jetzt irgendwelche Büro oder Wohnbauten drauf, die immer auch an anderer Stelle in der Stadt eigentlich hätten hinkommen können."

Weiteres Problem: Personalmangel und hohe Fluktuation

In der Zeit nach der Bahnprivatisierung, also dem Umbau der Bundesbahn in die DB AG sind auch die Eisenbahnerwohnungen verkauft worden. Hohe Mieten sind heute ein Problem, warum die Bahn sich so schwer tut, Mitarbeiter zu finden: Menschen, die einen der 50 Eisenbahnberufe oder der 24 dualen Studiengänge aufnehmen wollen. Daran erinnert Martin Burkert, Vorsitzenden der Eisenbahner und Verkehrsgewerkschaft (EVG), im Gespräch mit dem BR:

" Ja, es gibt sehr viele Quereinsteiger, die Fluktuation ist hoch. Man muss Obacht geben, dass wir da nicht abgehängt werden in der Tarifentwicklung. Es gibt aber auch eine zu große Breite in der Führung bei der Deutschen Bahn. Wir brauchen eigentlich die Fachleute und Fachkräfte betrieblich, wir brauchen sie vor Ort." Martin Burkert, EVG-Vorsitzender

In den Werkstätten, im Fahrdienst und in den Stellwerken fehlt Personal, die Überstunden häufen sich. In einzelnen Stellwerken werden separate Schichtantrittsprämien gezahlt, weil die Personaldecke so gering ist. Die Bahn wirbt im ganzen Land um Personal. Bietet Quereinsteigern gute Chancen. Effektiv eingestellt werden aber mehr Menschen im Bereich Verwaltung und Marketing als für die Bereiche an der Strecke, in den Werkstätten, Leitstellen und Fahrzeugen. Dabei bietet die Bahn verkürzte Funktionsausbildungen.

Doch die verkürzte Ausbildung schade eben auch der Sicherheit, warnt der ehemalige Qualitätsprüfer Anatol Jung: "Das führt dazu, dass die ausgebildeten Lokführer, Instandhalter oder sonstwas, dass die gar nicht mehr den Überblick haben können in diesem System." Denn das ist komplex, "es besteht ja aus Techniken, die bis in die Kaiserzeit zurückreichen. Es gibt ständig Probleme, ja Störungen, Ausfälle, Verspätungen, und das wird alles bei denen abgeladen."

Wende unter der Ampelregierung - Bahn zuvor ignoriert

Nach den an der Bahn desinteressierten Verkehrsministern der SPD und der CSU stellen sich Bahn und Regierung nun der Realität, loben die Gewerkschafter. Ob Klimmt, Bodewig, Stolpe oder Tiefensee. Unter Ramsauer wurde die Bahnabteilung im Verkehrsministerium sogar aufgelöst, erfuhr der BR im Interview. Dann Dobrindt und Scheuer. Sie alle haben es aus Sicht der Gewerkschaften und der Fahrgastverbände an Engagement für die Bahn fehlen lassen.

"Herr Lutz und Herr Wissing sind quasi jetzt die ersten, die sich da mal so richtig ehrlich machen, die die Hosen runterlassen, könnte man sagen, weil wir gehen wirklich davon aus, dass man von der Vergangenheit da nicht drüber reden durfte", sagt Lukas Iffländer. Er könne sich nicht vorstellen, dass Herr Lutz wirklich so blind gewesen ist in all den Jahren, wo er im Konzern war. "Dass er es einfach nicht gemerkt hat, sondern dass man eben mehr oder minder eine Maulsperre verpasst hat. Dass er nicht drüber reden durfte."

Forderung nach einer gemeinnützigen Infrastrukturgesellschaft

Diese Angst – und Schweigekultur müsse sich ändern, sagen die Experten einhellig. Aber ob das reichen wird für Verbesserungen? Dass der Staat das Netz in einer nicht gewinnorientierten Infrastrukturgesellschaft übernehmen soll, ist ein Vorschlag, der immer mehr Anhänger findet – auch bei der Lokführergewerkschaft. GDL-Bayern-Chef Uwe Böhm fordert, dass diese gemeinnützig sein müsse.

Denn heute sei die Bahn ein großer Mischkonzern mit 600 Gesellschaften in 80 Ländern. Und mehr als die Hälfte des Umsatzes werde mit bahnfremdem Geschäft gemacht, sagt Böhm. "Da gewinnt man schon mal den Eindruck, als wenn Zugverkehr in Deutschland zur schönsten Nebensache der Welt gehört." Das ließe sich kaum noch kaschieren.

"Das sind eben die Störungen, die auf der Strecke passieren, durch eine marode Infrastruktur. Und deswegen muss auch die Bundesregierung mal mit dem Verkehrsministerium endlich beherzt eingreifen und eine Infrastrukturgesellschaft schaffen, die gemeinnützig unterwegs ist und nicht für Gewinn Verpflichtungen unterliegt." Auch Fahrgastverbände wie Pro Bahn sind für diese eigenständige Infrastrukturgesellschaft. Die Eisenbahnergewerkschaft EVG ist da zurückhaltend.

Riesiger Finanzbedarf bei Bahn wie bei Bundeswehr

EVG-Chef und Bahn-Aufsichtsrat Martin Burkert sieht einen Schritt in die richtige Richtung mit 45 Milliarden Euro zusätzlichem Geld für die Bahn. Insgesamt würden bis 2030 jedoch 150 Milliarden Euro benötigt, damit die Schiene nicht mehr altert, sondern jünger wird. Zurzeit altere die Schiene jeden Tag noch.

Sicher sei also, so EVG-Chef und Bahn-Aufsichtsrat Martin Burkert, dass die Bahn in Deutschland sehr, sehr viel Geld braucht. Dabei erinnert er an einen Ausspruch des verstorbenen Bundeskanzlers Helmut Schmidt:

"Helmut Schmidt hat einmal gesagt: Wir können uns nur eines leisten – die Bundeswehr oder die Bundesbahn. Darauf hat man entschieden, die Bundesbahn zu privatisieren, privatisieren hundert Prozent im Eigentum des Bundes. Und jetzt geht es darum: Genauso wie die Bundeswehr muss die Schieneninfrastruktur, also die Eisenbahn, in Deutschland mit einer fast nahezu identischen Summe auch finanziert werden." Martin Burkert

Dieser Artikel ist erstmals am 18. Juni 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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