Generalbundesanwalt Peter Frank bei einer Podiumsdiskussion im "Saal 600" in Nürnberg.
Bildrechte: NN/Sippel

Es sind noch viele Fragen im NSU-Komplex offen, sagt Generalbundesanwalt Peter Frank bei einer Podiumsdiskussion im "Saal 600" in Nürnberg.

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Generalbundesanwalt: Weiterhin viele Fragen im NSU-Komplex offen

Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof sieht in Bezug auf den NSU-Komplex noch viele offene Fragen. So seien Fragen zum Waffenarsenal der Rechtsterroristen ebenso nicht geklärt, wie die Frage nach der Opferauswahl.

Über dieses Thema berichtet: Regionalnachrichten Franken am .

Als sich der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) im Jahr 2011 nach einer Dekade des unerkannten Mordens in Deutschland selbst enttarnte, war das Entsetzen groß. "Nie wieder NSU" prangte damals in großen Lettern auf der Nürnberger Steintribüne, einer der architektonischen Hinterlassenschaften des Dritten Reiches. Nie wieder, forderten Teilnehmer bei den Gedenkveranstaltungen für die NSU-Opfer in Nürnberg.

Viele offene Fragen im NSU-Komplex

"Der NSU-Komplex ist sicherlich nicht komplett und vollständig ausgeleuchtet. Das gilt für eine ganze Reihe von Fragen. Beispielsweise haben wir ein ganzes Waffenarsenal gefunden beim NSU. Wir wissen nicht, was Sinn und Zweck eines solchen Waffenarsenals gewesen sein könnte. Die Morde wurden ja nur mit einer Waffe begangen", so der Generalbundesanwalt. Zudem seien Fragen zur Opferauswahl der Rechtsterroristen noch nicht geklärt. Demnach weiß Deutschlands oberster Strafverfolger nicht, wie die "Opferauswahl im Einzelnen konkret stattgefunden" habe. Diese Fragen seien aber für die Hinterbliebenen und die Öffentlichkeit wichtig.

Dem NSU folgte weiterer Terror

Dem NSU-Terror folgten die rassistisch motivierten Attentate in Halle und Hanau, die elf Menschen das Leben kosteten. Den Mord am Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) am 1. Juni 2019 verübte ebenfalls ein rechtsextremer Täter. Kann dem Terror von Rechts kein Einhalt geboten werden? "Der Rechtsterrorismus wird nicht aufhören", prognostiziert Generalbundesanwalt Peter Frank bei einer Veranstaltung am Donnerstagabend zum Thema Rechtsterrorismus in Nürnberg. Im Gegenteil, seine Behörde, die Bundesanwaltschaft, sieht sich einem "Wachstumsmarkt" gegenüber: Immer neue Spielarten des Rechtsextremismus zielten darauf ab, die Demokratie zu zerstören, sie finden sich heute in Teilen der Reichsbürger-Szene, unter den Verschwörungserzählern oder in rechtsextremen Kampfsportgruppen und Musiklabels wieder.

Die Worte des Generalbundesanwalts bei einer Podiumsdiskussion über die Frage nach der historischen Bedeutung des Rechtsterrorismus und den Präventionsmöglichkeiten im geschichtsträchtigen Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes hallen im Publikum nach. Denn Deutschlands oberster Strafverfolger sitzt vor jener Richterbank, von der aus die berüchtigten Sondergerichte der Nationalsozialisten in den 1930er- und 40er-Jahren Angst und Schrecken verbreitet und unschuldige Menschen, die nicht ins faschistische und antisemitische Weltbild passten, zum Tode verurteilt haben.

"Thema darf nicht zum Schweigen gebracht werden"

Hier habe "staatlich verordneter Rechtsterrorismus" durch "Mörder in Roben" stattgefunden, sagt Thomas Dickert, der als Präsident des Oberlandesgerichts Nürnberg auch Hausherr des Gebäudes ist. In diesem holzgetäfelten Raum mit seinen funkelnden Kronleuchtern, der heute zum Museumskomplex "Memorium Nürnberger Prozesse" gehört, wurde aber auch auf positive Art Weltgeschichte geschrieben.

Hier mussten sich nach 1945 die Verantwortlichen des NS-Regimes vor dem Internationalen Militärgerichtshof verantworten, hier fanden die Nachfolgeprozesse, etwa gegen Ärzte statt, hier wurde der Grundstein für das Internationale Völkerstrafrecht gelegt. "Uns brennt es auf den Nägeln, sich kontinuierlich mit dem Rechtsterrorismus auseinanderzusetzen", versichert Nürnbergs Kulturbürgermeisterin Julia Lehner. Das Thema dürfe nicht zum Schweigen gebracht werden.

NSU sei "Augenöffner für die Geschichtswissenschaft"

Es sei auffällig, dass sich die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten kaum damit beschäftigt habe, berichtet Historikerin und Rechtsextremismus-Expertin Barbara Manthe von der Uni Bielefeld. Zunächst habe in den Jahren und Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Erforschung des historischen Nationalsozialismus und der von ihm verübte Völkermord im Fokus gestanden. Vor diesem Hintergrund wirkten der Rechtsterrorismus und Gewalt, die gegen Migranten gerichtet war, für die Wissenschaftler "nicht so drängend". Doch dies habe sich geändert. Das Auffliegen des NSU sei ein "Augenöffner für die Geschichtswissenschaft" gewesen, so Manthe. "Da musste sich die historische Zunft schon fragen, wo ihr Beitrag gewesen ist."

Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger indes kann darauf verweisen, dass das Nürnberger Staatstheater sich bereits mit rechter Gewalt auseinandersetzt und mehrere Inszenierungen zum Rechtsterrorismus gezeigt hat, etwa das Stück "Wolken.Heim" von Elfriede Jelinek oder zuletzt die NSU-Monologe. Nach der NSU-Enttarnung sei bei ihm die Einsicht gewachsen, dass man sich auch auf der Bühne der Aufklärung nähern kann, sagt Gloger. Man könne mit den Mitteln der Schauspielkunst aufzeigen, "was in uns allen an Ressentiments stecken kann". Der Regisseur verweist darauf, dass auch Opfer-Familien und Mehmet O., der als Nürnberger Kneipenwirt 1999 bei einem Bombenanschlag des NSU schwer verletzt worden war, zu Gast waren, als dort das NSU-Tribunal über die Bühnen ging. "Wir wollen jede Spielzeit zu rechter Gewalt aufarbeiten", verspricht Gloger. Es gehe darum, sich dem Schwierigen auszusetzen. Mehmet O. wurde vom BR/NN-Rechercheteam ausfindig gemacht. Er ist wohl das erste NSU-Opfer, der das Attentat überlebte.

Bundesanwaltschaft stellte sich nach NSU neu auf

Der NSU-Terror habe seine Behörde nachhaltig verändert, sagt Generalbundesanwalt Peter Frank. Statt wie bis zur Enttarnung des NSU 2011 nur in einem Referat gehe die Bundesanwaltschaft heute in drei Ermittlungsreferaten den Erscheinungsformen des Rechtsextremismus und den Straftaten der rechten Szene nach. Nach der NSU-Selbstenttarnung habe sich die Bundesanwaltschaft neu aufgestellt. Rund 150 Staatsanwälte arbeiten in der Bundesanwaltschaft, mittlerweile seien rund 25 Staatsanwälte ausschließlich mit dem Bereich Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus betraut. "Wir stellen uns nun strategisch anders auf, haben ein Mehr-Säulen-Modell, das das Thema Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus auf personeller Ebene, auf organisatorischer Ebene beleuchtet und Einzelaspekte überwacht", erklärt Frank. Demnach betreibe die Behörde auch ein Monitoring zu Gefährdern, Kameradschaften, Einzelpersonen, Musik- und Bücherverlagen aus der Szene. "Wir wollen Vernetzungen erkennen, um eine Vernetzung wie den NSU frühzeitig zu erkennen. Das ist uns bei Anschlägen wie dem von Halle oder bei Walther Lübcke leider nicht gelungen", resümiert der Generalbundesanwalt. Seine Behörde will daran weiter intensiv arbeiten.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!