Bayern 2 - Nachtmix

Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von Wilco, Animal Collective & JLIN

Die Neuheiten der Woche im kompakten Überblick. Mit u. a. Wilco, JLIN, Animal Collective, Cherry Glazerr, Blond Redhead, Husten und Jorja Smith

Von: Matthias Hacker

Stand: 28.09.2023

Animal Collective  | Bild: Hisham Akira Bharoocha

Wilco - Cousin

Sänger Jeff Tweedy sagt zum Albumtitel: „Ich bin der Cousin der Welt. Ich fühle mich nicht wie ein Blutsverwandter, aber vielleicht bin ich ein angeheirateter Cousin“. Nach langer Zeit haben Wilco die Produktion der Platte wieder an jemanden außerhalb der Band vergeben. Die walisische Künstlerin Cate Le Bon, die zuletzt auch für Devendra Banhart an den Reglern saß. Sie kam zu Wilco in deren legendäres Studio-Loft und brachte neue Einflüsse wie japanische Gitarren oder eine Drum Machine mit. Sie wollte, dass Wilco sich auf ihre Stärken besinnen und wieder neue Wege gehen. Deswegen gibt es auch keinen “Cruel Country” mehr wie auf dem Vorgänger. Das Album erinnert eher an „Ode To Joy“. Vom düsteren „Pittsburgh“, über das mäandernde Americana Stück „Levee“, das mit Drummachine untermalte „Sunlights End“. Cousin dreht sich viel um das Thema Schmerz und Heilung dreht. Ob mit Antidepressiva oder einem hitzigen und genauso klärenden Wortgefecht. Dabei ist das Album typisches Wilco mid-tempo, auch wenn es auch mal kakophonisch und rockig wird. (7,5 von 10 Punkten) 

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Wilco - Cousin (Official Lyric Video) | Bild: WilcoVEVO (via YouTube)

Wilco - Cousin (Official Lyric Video)

Animal Collective – Isn’t It Now? 

Und da sind sie wieder - diese Verrückten. Das Animal Collective oder wie sie sich in einem Titel ihrer neuen Platte nennen “The Magicians from Baltimore”. Die Zauberer aus Baltimore sind die vier Mitglieder Avey Tare, Panda Bear Deakin und The Geologist. Animal Collective standen mit ihren verspulten, psychedelischen Songs und dem mehrstimmigen Gesang im Mittelpunkt dessen, was als “New Weird America” bekannt geworden ist. Das neue verrückte Amerika.  Auch auf ihrem neuen Album “Isn’t It Now” wandeln die vier zwischen den Beach Boys und Spacemen 3. Zwischen Psychedelic, Electronica und Freak Folk. Sie tragen das Kollektiv schon im Namen und der Kollektiv-Gedanke ist ihnen auch enorm wichtig. Vergangenes Jahr erschien der Vorgänger “Time Skiffs”, den sie aufgrund der Pandemie nicht gemeinsam einspielen konnten.  Für die neuen Platte konnte sich Animal Collective wieder live und persönlich im Studio treffen. Das hören wir auch: Isn’t it now ist jammiger. Animal Collective setzen mehr auf analoge Instrumente. Gehen eher weg vom schwindelerregenden, synthielastigen Druffie-Sound, hin zu klassischeren Melodien. Der mehrstimmige Gesang erinnert aber nach wie vor an die psychedelischen Harmonien die Beach Boys. Ihr Soundkosmos - ein bunter Flickenteppich wie der, der auf dem Albumcover zu sehen ist.  Isn’t it now ist das bisher längste Animal Collective Album, was vor allem am 22 Minüter “Defeat” in der Mitte liegt. Dieser Song ist so etwas wie das Animal Collective in a nutshell. Apokalyptisch beschreibt er das Ende der Zivilisation. Aber Chaos bedeutet eben auch Kreativität. Das Animal Collective eben. (8,5 von 10 Punkten) 

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Animal Collective - Gem & I (Official Audio) | Bild: Animal Collective (via YouTube)

Animal Collective - Gem & I (Official Audio)

Jlin - Perspective

Auf das letzte Album in der Sendung haben wir Zündfunk und Nachtmix-DJs lange gewartet. 2017 begeisterte uns JLIN mit “Black Origami” und wurde unsere Platte des Jahres. Morgen erscheint: “Perspective”. Die Songs auf dem Album sind die Elektro-Versionen der Songs, die JLIN mit dem Third Coast Perscussion Ensemble aus Chicago erarbeitet hat. Sie wandelt hier zwischen Percussion und Footwork, zwischen Konzerthalle und Technoclub. Spannend find ich hier, dass es in der Regel Elektroproducer sind, die ihre Stücke mit klassischen Ensembles neu interpretieren. JLIN dreht den Spieß um. Sie kodiert die Klassik um (7,5 von 10 Punkten) 

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Paradigm | Bild: Jlin - Topic (via YouTube)

Paradigm

Cherry Glazerr – I Don’t Want You Anymore 

Seit 10 Jahren steht die Band aus LA für grungy Gitarrenrock und rotzigen Riot-Grrrl-Sound. Dazu passt auch wieder der Titel des neuen Studioalbums. Cherry Glazerr können brachiale Powerchords mit Verzerrer schmettern. Auf der anderen Seite hören wir aber auch nachdenklichere Gitarren-Melodien mit viel Chorus-Effekt. Cherry Glazerr dosieren auf dem neuen Album insgesamt feiner und sind nachdenklicher.  Es ist nicht mehr nur heftiger Rock aus der Bandproben-Garage in L.A. Mag daran liegen, dass Bandchefin Clementine gesagt hat, dass sie auf diesem Album mit viel “bullshit” in ihrem Leben aufräumen wolle. Sie singt über das Chaos, das sie früher verursacht habe. In “Bad Habits” gehts um ihre schlechten und selbstzerstörenden Angewohnheiten. Sie erzählt, dass sie einmal ihre eigenen Autoreifen zerstochen hat. Wie sie andere in ihr turbulentes Gefühlsleben hinein gesogen hat. Ein Riot Girrrl, dass die Wut auch gegen sich richtet. Adjektive, die sie sich in den Songs selbst zuschreibt: filthy, shattered, sick, chaotic. Dieses ramponiert Selbstbild versucht sie auf der neuen Platte zu reparieren. (7 von 10 Punkten) 

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Cherry Glazerr - Bad Habit (Official Video) | Bild: CherryGlazerrVEVO (via YouTube)

Cherry Glazerr - Bad Habit (Official Video)

V.A. The Task Has Overwhelmed Us – The Jeffrey Lee Pierce Session Project

Jeffrey Lee Pierce war der legendäre Sänger und Gitarrist der Band Gun Club. 1998 ist er viel zu früh gestorben. Posthum erschienen in den letzten zehn Jahren drei Platten mit alten Demoaufnahmen in den sogenannten Jeffrey Lee Pierce Sessions Project.  Alte Weggefährten wie Nick Cave, Iggy Pop oder Mark Lanegan interpretierten seine Songs neu. Nun erscheint die vierte Jeffrey Lee Pierce Session unter dem Namen: “The Task Has Overwhelmed Us.” Die Arbeit daran hat zehn Jahre gedauert. Wieder mit dabei: Debbie Harry, der nun auch schon verstorbene Mark Lanegan, Dave Gahan von Depeche Mode, Regisseur Jim Jarmusch, Black Rebel Motorcycle Club und Nick Cave. Die Interpretationen sind so unterschiedlich wie großartig. Von furztrockenem Desert-Blues eines Mark Lanegan, Post Punk, Garage Rock zu HipHop und düsteren Balladen von Nick Cave und Debbie Harry. Jeffrey Lee Pierce war als Jugendlicher Vorsitzender des Blondie-Fanclubs, daher der enge Draht zu Debbie, die auch schon früher auf einer Gun Club LP sang. Schwester fand unveröffentlichte Songtexte. Daneben tauchten auf dem alten Speicher des Gun Glub Gitarristen Cypress Groove bis dato unbekannte Demokassetten auf. Aus Songideen ohne Texte und Worte entstanden die sogenannten »Frankenstein-Songs«. Die großartigen Musiker erwecken dieses tote Material wieder zu neuem Leben. Jeffrey Lee Pierce winkt uns aus dem Jenseits zu. Pierce’ (8,3 von 10 Punkten) 

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The Jeffrey Lee Pierce Sessions Project: Nick Cave & Debbie Harry 'On The Other Side' | Bild: GlitterhouseTV (via YouTube)

The Jeffrey Lee Pierce Sessions Project: Nick Cave & Debbie Harry 'On The Other Side'

Husten – Aus einem nachtlangen Jahr  

Das Trio mit Gisbert zu Knyphausen, Musikproduzent Moses Schneider, Tobias Friedrich - auch bekannt mit seinem Projekt “Der dünne Mann”.  Das zweite Husten Album zeigt einen fantastischen Gisbert zu Knyphausen. Als Dichter und Sänger. Mit ganz viel Dringlichkeit in seiner Stimme und mit Textzeilen wie “Irgendwo im Schwarzwald meiner Seele hängt ein Bild von dir". Seine Sprache erinnert häufiger an die trockene Tresenpoesie eines Sven Regener. In der “Nihilisten-Disko” sinniert ein alternder Mann beispielsweise über seine Vergänglichkeit und gleichzeitig über die des Patriarchats. An anderer Stelle lernen wir Elli kennen, die unter die Armutsgrenze rutscht und betteln muss. Die Geschichten sind mal poetischer, mal plastischerer. „Aus einem nachtlangen Jahr“ bietet feinsinnige Balladen und düsteren Rock. (8 von 10 Punkten) 

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HUSTEN - Weisse Tiger | Bild: HUSTEN Band (via YouTube)

HUSTEN - Weisse Tiger

Don Letts – Outta Sync 

Don Letts aus London ist eine Legende: Er hat schon mit The Clash und Bob Marley gearbeitet. Er war Filmemacher, Teil der Band Big Audio Dynamite, Bestsellerautor.  Er macht die berühmte Radiosendung Culture Clash Radio auf BBC6. Er hat einen Grammy im Regal und zwei Ehrendoktorwürden für seine klugen Gedanken zu Kultur und Politik. Eines fehlte noch in seiner Vita. Ein Soloalbum. Das erscheint jetzt. Titel: “Outta Sync”. Der 66-jährige Dreadhead spielt mit Reggae, Dub und Popmusik. In seinen Sprechgesang packt er seine politische Weltanschauung und Philosophie. Er meint: “Das Album sei ein Soundtrack für seine Gedanken mit einigen coolen Basslinien. Es spiegele die Summe seiner kulturellen Reise wider. Und die Dualität seiner Existenz, die schwarz und britisch sei." Da stechen Slogans raus wie:  “fake news and information, thats the stuff that built the nation.” oder an anderer Stelle: “A whole lotta likes, but no personality.”  Neben der Gesellschaftskritik gibts auch einige prominente Gäste: Es singen Schauspieler John Cusack, Hollie Cook oder Wayne Coyne von den Flaming Lips. (7 von 10 Punkten) 

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Don Letts - Outta Sync (Official video) | Bild: Don Letts (via YouTube)

Don Letts - Outta Sync (Official video)

Pachyman – Switched On  

Bei Pachyman hören wir auch Karibik, aber weniger Jamaica Puerto Rico. Der Multiinstrumentalist Pachyman lebt in L.A, seine alte Heimat ist allerdings Puerto Rico und er liebt die sonnige Klangästhetik der Karibik. Switched On heißt sein neues Album. Es soll an die erste Generation puerto-ricanischer Musiker erinnern, die mit dem damals neuen Korg Synthesizer experimentierten. Sie nahmen die jamaikanischen Riddims und mischten sie mit den traditionellen puerto-ricanischen Sounds und mit Salsa. Pachyman hat das alles im Homestudio eingespielt und produziert.  Und es sind nicht mehr ausschließlich Instrumentals, er singt nun auch hin und wieder. Manche könnten Pachyman auch als Schlagzeuger der LA-Synth-Punker Prettiest Eyes kennen. Pachyman ist sein Soloprojekt. Er sagt darüber: “Ich versuche, dieses Projekt zu einem Dienst für die Menschheit zu machen, in dem Sinne, dass ich einfach ein positives Licht ausstrahle.” Mit “Switched On” geht tatsächlich das Licht an - bzw. auf. Es ist eine wunderbare Melange aus exotischen Percussions, Synthies der 70er und diesem warmen Nostalgie-Feel. Eine Platte wie Balsam auf unserer krisengeschundenen Seele. (7,8 von 10 Punkten) 

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Pachyman - Sale el Sol | Bild: PACHYMAN (via YouTube)

Pachyman - Sale el Sol

Jorja Smith – Falling Or Flying  

Die britische Sängerin Jorja Smith hat die Soulness einer Alicia Keys, den musikalischen Entdeckerdrang einer FKA Twigs. Fünf Jahre hat sie auf ihr zweites Album warten lassen. Gleich zu Beginn stellt sich uns eine gereifte Jorja Smith mit dem selbstbewussten Song “Try Me” vor.  Die mittlerweile Mitzwanzigerin ist gesanglich auf den Punkt. Ein Ausnahmetalent. Dazu eine smoothe und vor allem brillante Produktion des Duos DameDame. Falling Or Flying ist ein zweigeteiltes Album. Die erste Hälfte steht für das Fliegen - für das leichte Leben. Die einstige Newcomerin hebt hier wirklich ab - in R’n‘B,  Pop oder auch mal Indiesongs wie dem schnellen Go Go Go. Doch dann kippt der Ton. Nach dem Fliegen kommt das Fallen. Jorja wird introvertierter, unsicherer und souliger. Wir hören einen Brief der jüngeren Jorja an die erwachsene Jorja. Sie erzählt von manipulativen Partnern, von der Unsicherheit, ob sie schon jemals wahre Liebe erfahren habe. An einer Stelle singt ein Mädchenchor, den Jorja Smith selbst gegründet hat. Sie will damit auf die wenigen Orte und Möglichkeiten in England aufmerksam machen, wo immer mehr Jugendzentren geschlossen werden. Thematisch blickt sie dabei oft auf die Jüngeren und Schwächeren der Gesellschaft, die sie empowern möchte. (8 von 10 Punkten) 

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Vague | Bild: Blonde Redhead - Topic (via YouTube)

Vague

Blonde Redhead – Sit Down For Dinner 

Bleiben wir bei älteren Indiebands. Das Dreampop Trio Blonde Redhead veröffentlicht nach knapp zehn Jahren wieder ein Album. Die Band feiert damit auch ihr 30-jähriges Bestehen. 1993 veröffentlichte Sonic Youth Drummer Steve Shelley die erste Blonde Redhead Single. Sie waren nie so sperrig wie Sonic Youth, sondern weicher und lieblicher. Blonde Redhead sind die japanische Sängerin Kazu Mankino, die manchmal gesanglich an Yoko Ono erinnert. Daneben die beiden italienischen Zwillingsbrüder Simone und Amedeo Pace. Sie haben das Album in den letzten 5 Jahren in New York und der Toskana aufgenommen. Es ist ein feines Comeback. Ihre Musik wirkt zeitlos. Der Leitfaden des Albums: Erwachsensein. Die ins Leben hineinkriechende Desillusionierung, schwierige Freundschaften, wichtige Entscheidungen, die einen Mut und Kraft kosten. Die Zeit ist so kostbar, dass man sich lieber mehr Zeit füreinander nimmt. Daher auch der Titel: Sit down for dinner. (7,5 von 10 Punkten) 

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Vague | Bild: Blonde Redhead - Topic (via YouTube)

Vague