Dexys – The Feminine Devine

Ende der 90er, lange nach den großen 80er-Hits der Dexy´s Midnight Runners wie „Come On Eileen“ oder „Geno“, veröffentlichte Sänger Kevin Rowland ein Solo-Album. Auf dem Cover von „My Beauty“ zeigte er sich in Drag. Der Brite probiert sich weiter aus. Auf „The Feminine Devine“ macht er sich auf die Suche nach seiner göttlichen Weiblichkeit. Er findet seine innere Göttin, widmet ihr die Stücke „Goddess Rules“ und „My Goddess Is“ und sagt „ich habe die Macht der Frauen viel zu lange übersehen“. Rowland sieht das erste Album nach über einem Jahrzehnt als Reise zu Positivität, Frieden und sich selbst. Und der Dexys Sound? „Die erste Hälfte ist mit Music-Hall-Swagger aufgenommen, der zweite Teil der Platte ist ein freches, synthie-lastiges Kabarett“, wie sie sagen. Teil eins mit dem Dexys-Posaunisten Big Jim Paterson hat den Band-typischen Blue Eyed Soul, die zweite Hälfte ist für eingefleischte Fans wegen den manchmal etwas billig klingenden Computer-Beats eher gewöhnungsbedürftig. Nach 45 Jahren und 53 Bandmitglieder bei nur 5 Alben darf man experimentieren. Und wir uns auf die Tour freuen: im Oktober sind sie viermal in Deutschland. Die Tour beginnt am 2.10. in Münchens Muffathalle und der Zündfunk/Bayern2 präsentiert das Konzert. (7,0 von 10 Punkten)

The Budos Band – Frontier´s Edge EP

Das New Yorker Retro-Septett mir ihrer ersten Veröffentlichung auf dem eigenen Label, das zwei Mitglieder gegründet haben. Davor brachten sie sechs Alben mit 70er-Afro-Soul-Instrumental-Sound auf einem der ganz tollen Labels der Stadt raus: die Trennung von Daptone soll aber einvernehmlich gewesen sein. Die Budos Band - entstanden aus den berühmten Antibalas - produziert sich auch selbst. „Im Studio sind wir ein Kraftwerk“, so Band-Chef Thomas Brenneck, der auch bei Sharon Jones & The Dap-Kings und El Michels Affair an Bord ist. Unter seiner Regie entstanden in nur wenigen Tagen sechs neuen Stücke. „Frontier´s Edge“ ist vielfältig in den Einflüssen: Afro-Beat, Ethio-Jazz, Proto-Metal. Sie brechen immer wieder aus, mit Wah-Wah und anderen Effekten. Der Titelsong kommt daher wie ein Western aus einer anderen Welt rüber und das Video zeigt eine einsame Mönchs-Figur vor einem Steingebirge im Gewitter. Zu den Blitzen mischen sich Sternschnuppen. Diese Instrumentals lassen sofort an einen Tarantino-Soundtrack denken. (7,5 von 10 Punkten)

Andrew Bird – Outside Problems

Der gern pfeifende US-Songwriter mit Teil zwei seines „Inside Problems / Outside Problems“– Konzept-Albums. Das instrumentale „Outside Problems“ wurden im Freien aufgenommen, inmitten der Berge und Orangenhaine Kaliforniens. Es sind neun introvertierte Instrumentals, die der Schönheit der Natur huldigen. Bird beschäftigt sich mit den Folgen des Klimawandels, die in und um Ojai, Californien spürbar sind, beispielsweise durch Wassermangel und Waldbrände. Er will uns aufrütteln: "Die Erde ist nicht verpflichtet, Leben zu erhalten." sagt er dazu. "Wir personifizieren die Natur und nennen sie Mutter und lenken damit von unserer eigenen Verpflichtung ab, sie zu erhalten und zu schützen. Die Natur ist keine Mutter. Die Natur ist unser Glück, unser Reichtum, und wir vergeuden ihn. Was wäre, wenn die Erhaltung unser Lebensunterhalt wäre? Das ist sie!" Es zieht ihn immer wieder raus - schon seine „Echolocations“-Serie hat er draußen aufgenommen. Die Digitale Veröffentlichung war am vergangenen Wochenende, die CD/LP folgen am 17.11. (7,5 von 10 Punkten)     

Jessy Lanza – Love Hallucination

Love Hallucination ist die neue Platte der kanadischen House-Frau Jessy Lanza, die immer mehr beim R´n´B andockt - und beim Popsong. Kaum ein Lied dauert mehr als vier Minuten! Was vielleicht auch am neuen Wohnort Los Angeles liegt. Aufgenommen hat die Ex-Jazz-Studentin wie immer mit Jeremy Greenspan vom Synthie-Pop-Projekt Junior Boys, neu dazu kommen jetzt andere Produzenten wie Jacques Greene und Tensnake aus Hamburg. Die TAZ spricht in ihrem großen Artikel zu Lanzas viertem Album vom „Dancefloor mit doppeltem Boden“ - sprich: Pop-Songs mit zuckersüßer Abgründigkeit. Jessy Lanza, die von Missy Elliott und Janet Jackson beeinflusst ist und auf Stücken von Caribou und Mouse On Mars mitgewirkt hat, fährt hier erstklassiges Warm-Up-DJ-Material auf, das für die Prime-Time gottseidank zu zurückhaltend, zu verspielt und auch zu artsy ist. Eigentlich hatte sie die Songs für andere Artists geschrieben, aber durch den Abstand zu den Stücken entstand ein besonderer Reiz für sie, so dass sie mehr experimentierte. Das Ergebnis daraus ist, dass sie die Lieder nun doch für sich benutzt. Im Sommer ist sie mit „Love Hallucination“ in Nordamerika auf Tour, ab November gastiert sie in Europa – unter anderem am 18.11. in Wien und 21.11. im Münchner Milla Club. Bis dahin können sich die Fans mit dieser Platte oder Jessys DJ-Kicks-Compilation aufladen: ihre Liebe ist echt und keine Halluzination. (7,5 von 10 Punkten)

Chika – Samson

Auch sie ist von Missy Elliott beeinflusst: Rapperin Chika kommt aus Alabama und bringt ihr Debüt gleich bei einer Major-Plattenfirma raus. Der Albumtitel bezieht sich auf den biblischen Kampf des Samson, der als unbezwingbar galt. Und dessen Frau Delilah bestochen wurde, damit sie das Geheimnis seines Heldentums preisgibt. „You are my everything“ singt Chika im Stück „Delilah“. Themen ihrer Platte sind: „Race, Mental Health, Sexualität und Identität.“ Mit Stevie Wonder, Snoop Dogg und Freddie Gibbs konnte sie namhafte Koops gewinnen – Letzterer ist Duett-Partner der Single „Truth or Dare“. Musikalisch agiert sie eher zurückhaltend: ihr HipHop vermischt sich mit Soul, Pop und R´n´B. Selten, dass im Rap mal wieder jemand nicht ´in your face´ rüberkommt, sondern über die Zwischentöne. (7,0 von 10 Punkten)

Damon Locks & Rob Mazurek - New Future City Radio

Ein Konzept- und Collagen-Album auf dem von uns geschätzten International Anthem Label  aus Chicago. Locks, der Klang- und Konzept-Künstler und Mazurek, der Trompeter, haben für die Veröffentlichung einen Internet-Sender gegründet, der nichts Geringeres als „die Stadt der Zukunft“ im Programm hat. „New Future City Radio“ arbeitet mit Jingles, Ansagen und Textpassagen, die sich mit der Instrumental-Musik und HipHop-Beats verbinden – zu einem urbanen Mixtape. Locks fragt, wie Städte und Gemeinden Eigenständigkeit beweisen können, um die Zukunft zu meistern: „Tomorrow is listening“ verheißt gleich zu Beginn eine Stimme. Die Sounds kommen aus den verschiedenen Sendungen: Free Jazz, Reggae-Loops oder Electronica. Laut dem Duo hat „New Future City Radio“ weitreichende, sogar kosmische Auswirkungen. Locks spricht an einer Stelle: "Du fragst mich, ob ich mich zu einem riesigen Roboter formen kann, der dieses schwarze Loch verschluckt und das gesamte Universum befreit? Meine Antwort an euch lautet: Ja!" Damon Locks und Rob Mazurek sind zuversichtlich: die Revolution wird gesendet - im Gegensatz zu Gil Scott-Herons pessimistischem „The Revolution will not be televised“. Ein sozio-utopisches Hörspiel in Jazz, das Kunst mit den Mitteln der Politik benutzt. (8,0 von 10 Punkten)

Hackedepicciotto – Keepsakes

Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten und seine Partnerin Danielle De Picciotto, die Love Parade-Mitinitiatorin aus den USA, haben ihre neue Platte in Italien aufgenommen. Und das in einem der ältesten Aufnahmestudios Europas, dem Auditorium Novocenteo in Neapel. Klar, da lässt es sich ganz anders an, wenn man weiß, dass früher Caruso und Morricone an dem Ort produziert haben. Wir hören Röhrenglocken, Bläser, eine Celesta, die Morricone gehörte oder dräuende Noise-Parts – die zum Teil an die Monumentalität der Swans erinnern. Oder einen urbanen Zirkus der Gaukler und Hasardeure. Dazu die Stimme von Hackes Kollege Blixa Bargeld. Gesungen wird auf Englisch, Deutsch und Französisch. Auf ihrem fünften Album „Keepsakes“ (deutsch: „Andenken“) ist jedes Stück einer anderen Person gewidmet. Und vielleicht ist der Titel „Aichach“ ein Tribut für Chrislo Haas, dem verstorbenen Keyboarder von Liasions Dangereuses, der aus dem bayerisch-schwäbischen Ort stammte. Wie sagt das Paar zur Platte: „sie ist eine Ode an die Freundschaft, die Lieder der Dankbarkeit präsentiert“. Im September spielen sie in Hamburg und Regensburg. (7,0 von 10 Punkten)

Enji – Ulaan

Enji kam übers Goethe Institut Ulan Bator in der Mongolei nach München, studierte hier Jazz-Gesang und Jazz-Pädagogik und veröffentlicht auf dem jungen Jazz-Label Squama in der Stadt. Ihre dritte Platte hat der englische Guardian nun zum „global album of the month“ gekürt. „Ulaan“ ist sparsam instrumentiert und eingespielt mit unter anderem dem Gitarrist Paul Brändle oder der aus Brasilien stammenden Schlagzeugerin Mariá Portugal. Gesungen mit der für Enji typischen Zurückhaltung oder auch in ihrer mongolischen Muttersprache. Die Single „Taivhral“ (auf Deutsch ´Befreiuung´) dockt leicht beim Pop an und hat Soul. Er handelt davon, was die Meinungen anderer mit einem machen und wie man sich selbst treu bleiben kann. Man glaubt zu merken, dass die Musikerin einer Familie entstammt, in der schon immer gesungen wurde. So leicht und natürlich klingt es, wenn sie ihre Stimme erhebt. Aber auch in den instrumentalen Passagen haben die Kompositionen genug Kraft. Die zum Quintett gewachsene Live-Band gibt ihr Gelegenheit, neue Rollen auf ihrer Reise zu sich selbst zu erproben. (7,5 von 10 Punkten)

Beverly Glenn-Copeland – The Ones Ahead

Was für eine Stimme: erst vor Kurzem entdeckten wir sie dank des wieder-veröffentlichten Albums „Keyboard Fantasies“ von 1986. Nun die erste Platte des amerikanisch-kanadischen Stimmwunders nach dem viel zu späten Durchbruch: Glenn-Copeland wird nächstes Jahr 80. Früher spielte Beverly in der Band von Bruce Cockburn, schrieb für die Sesamstraße und war Kinderschauspieler im TV. Seit einer Geschlechtsangleichung 2002 identifziert er sich als Trans-Mann. Der Klangkosmos ist komplett eigen: Jazz, Folk, Gospel, dazu elegische Keyboard-Sounds – irgendwo zwischen Kunstlied, New Age und Anohni & The Johnsons-Musik. In den Texten auf „The Ones Ahead“ geht es um „menschliche Fehler, Machtmissbrauch und der Warnung, dass wir uns nicht selbst zerstören“. Ich würde BGC gern mit diesen Aufnahmen in einem großen Theater oder Kirche erleben und bin dem japanischen Sammler dankbar, der 2015 all die verstaubten Exemplare der „Keyboard Fantasies“-Kassette aufkaufte und im Netz eine weltweite Beverly-Fangemeinde aufbaute. Bewegend! (8,5 von 10 Punkten)

Luzia Lian – 7 Estrelas | quem arrancou o céu?

Die preisgekrönte Brasilianerin mit einem Mix aus Tradition und Moderne. Luiza, die auch bildende Künstlerin ist, arbeitet auf ihrem vierten Album wieder mit dem Schlagzeuger Charles Tixier zusammen. Er sorgt für die Grooves. Die Songideen entstanden schon vor dem Lockdown, wurden von ihr aber immer wieder bearbeitet. Luiza, die mit afro-brasilianischen Religionen inklusive der psychedelischen Ayahuasca-Zeremonie aufwuchs, flicht Einflüsse von brasilianischem Jazz und Anden-Folklore ein - sowie Referenzen an Jorge Ben und Manu Chao. Bei einem Stück singt die auch aus Sau Paulo stammende Sängerin Céu mit. Die „7 Estrela“ Shows werden wie eine visuelle Oper aufgezogen und finden vorerst nur in Brasilien statt. Man wünscht Luzia Lian, dass sie für Brasilien beziehungsweise für Portugiesisch als Pop-Sprache so viel Schub bringt, wie Rosalía für Spanien und Flamenco. (7,5 von 10 Punkten)   

Georgia – Euphoric

Georgia Barnes wurden die Beats in die Wiege gelegt. Sie ist Tochter von Neil Barnes, einer Hälfte des Electro-Duos „Leftfield“, die in den 90ern mit den Chemical Brothers und Orbital den neuen Tech-Sound auf die großen Festivals brachten. Georgia jobbte bei Rough Trade, dem Londoner Plattenladen, entdeckte bei einem Freund ein altes Schlagzeug vom Vater und trommelte danach unter anderem für Kae Tempest. Im Gegensatz zu Papa Barnes, der wenig mit Gesang arbeitete, steht sie auch am Mikro. „Euphoric“ ist das erste Album, das nicht mehr in der Wohnung entstand, sondern in einem Studio.
Georgia wendet sich vom Clubsound ab und dem Autotune-Pop zu. Das Album ist inspiriert vom Film „The Beach“ und die Single „Give It Up For Love“ steht für eine spirituelle Reise zur Hingabe. Sie hat sie schon bei großen Festivals 2023 vorgestellt. Mitproduziert hat dabei Rostam, der ehemals bei Vampire Weekend dabei war. Die Kontrolle abgeben war ein wichtiger Schritt für sie: auf dem Weg zur Pop-Star. (7,0 von 10 Punkten)

Waraika – Tizinabi

Album auf Bandcamp

Das Hamburger Instrumental-Trio hat ein Album in der Tradition des deutschen Krautrock-Klassikers „E2E4“ von Manuel Göttsching eingespielt: vier neun bis 13-minütige Tracks, die fließend ein großes Ganzes ergeben: eine Meditation zum Mitwippen oder sogar leichtem Tanzen. Wie Göttschings 1981er Platte ist das Album voller balearischem Swing. ´Tizinabi´ ist ein 45-Minuten-Mix zwischen angedeutetem Dub und Slow House, eingespielt mit Gitarre und Klavier. Wareika ist „ein Sound-Teppich, der in Funk und Soul fußt und sowohl komplex als auch zugänglich ist. Jeder Teil geht in den nächsten über und verbindet analoge mit elektronischen Klangschichten, verwebt hypnotische Melodien mit sanfter Perkussion.“ Es ist bereits das sechste Album des Trios Jakob Seidensticker, Florian Schirmacher und Henrik Raabe, die vorher auf dänischen (Tartelet), US-amerikanischen (Visionquest) oder japanischen Labels (Mule Musiq) veröffentlichten. Die LP erscheint jetzt auf Ornaments. Das Berliner Label brachte auch schon Material von Moodymann, Paul St Hilaire oder Steve Bug heraus. Das Trio präsentiert die neue Platte dieser Tage zweimal in Kanada und im August in Berlin. Zum Titel sagen Wareika: „Du suchst Erleuchtung in der Musik? Dann gehe nach Tizinabi, da wirst du meinen Onkel treffen, der wird dich erleuchten. Auf sehr humorvolle Weise hat der Ort der Vollendung konkret Einzug erhalten im jüdischen Sprachgebrauch: es ist der Ort, den es nicht gibt, aber man verwendet ihn so unaufgeregt, dass er genau dadurch Wirklichkeit wird.“ (9,0 von 10 Punkten)

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