SLOWDIVE – Everything Is Alive       

Sie waren mal ein Paar und sind nun wieder vereint: aber in der Trauer um je einen Elternteil: sowohl der Vater des Hauptsongwriters Neil Halsteads als auch die Mutter von Rachel Goswell (Voc + Git) verstarben vor den Aufnahmen. Im Schreibwahn schuf Neil 40 Stücke, von denen die britischen Shoegaze-Pioniere neun auf die Platte packten. Slowdive 2023 beginnen erstmal instrumental – gleich zwei Stücke lang - klingen freier und elektronischer: Neil wollte nicht auf der Gitarre, sondern auf einem Synthesizer komponieren. Was man aber den Stücken nicht unbedingt anhört. Auch weil sie inzwischen in ihrer eigenen Melancholie-Liga spielen. Wer hätte gedacht, dass sie nach der 21jährigen Pause (1995-2014, Neil spielte bei Mojave3) nicht nur kurz, sondern bleibend zurück sind – und sich dann auch nochmal steigern zu vermögen. Man höre ihre Vorabsingle „Kisses“ – bzw. kucke das Roadmovie-Video dazu. Obwohl mein Bruder, der großer Fan ist und sich schon auf das Konzert am 29.1. in Münchens Muffathalle freut, sagt, dass der Schlusssong der Beste auf „Everything Is Alive“ ist. (8,5 von 10 Punkten)

V.A. - FUTURE SOUNDS OF KRAUT - Vol 1

Das aus Karlsruhe stammende Projekt Fred & Luna hat fürs Münchner Compost einen Sampler mit modernem Krautrock zusammengestellt, wobei es eher Krautronica ist – sprich: Synthies statt Gitarren. Die Lieder kommen aus Brasilien, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland und Irland. Namentlich bekannt sind I:Cube, Pyrolator und Sankt Otten – letzteres ein Projekt aus Osnabrück der sogenannten (elektronisch geprägten) „Berlin School“ – es liefert mit „Hymne der melancholischen Programmierer“ den besten Beitrag ab. Neben „Ich Geh Den Weg Mit Dir“ von Musiccargo – einem Schüler von Krautrock-Pionier Klaus Dinger (Neu!, La Düsseldorf). Wenn es neben Techno ein Musikgenre gibt, über das sich sagen lässt: cool, dass das mit von hier kommt, dann Krautrock. Achtung, Wortwitz: (i´m) Kraut to be german ;) (7,5 von 10 Punkten)

V.A. KOMPAKT TOTAL 23

Der Jahres-Sampler des Kölner Techno Labels ist da: d. h. es gibt ein Wiederhören mit ihren eigenen Pionieren Michael Mayer, Jörg Burger, Jürgen Paape oder Reinhard Voigt. Plus Namen, die wir mit ihnen verbinden – wie Robag Wruhme, Rex The Dog oder John Tejada („Wild Ride“). Dazu entdecken wir z. B. (Emma) Kollmorgen („Muddy“, aus Berlin) und Argia („No Concept“, Helena Piti / Madrid) - die beiden Downtempo-Electro-Nummern zu Beginn der Compilation legen die richtige Spur. Kölns Newcomer M.A.P.E. (aka Moritz Ochsenbauer) zieht das Tempo an: sein „Ice Cream Cake“ ist eine Hymne vor dem Herrn. Nach einem Weissbier-Novelty-Rave-Gag-Track sind wir schon in Bayern und fragen uns natürlich: wie konnte Jürgen Paape den Polit-Skandal dieser Tage im Süden vorausahnen: der Schlusstrack des Samplers ist das (instrumentale) „Iwanger“ (→ Aiwanger). Ne, im Ernst: so heißt ein Fluss in Nigeria – und auch Licht/Helligkeit werden in dem afrikanischen Land so genannt. Techno international! (7,5 von 10 Punkten)

PUMA BLUE – Holy Waters

Als „Dream Soul“ bzw „Kuschel-Jazz“ bezeichneten wir den Sound seines Debüts: nun meldet sich der in den USA lebende UK-Gitarrist und Lo-Fi-Crooner Jacob Allen zurück – er nennt sich Puma Blue und „Holy Waters“ seinen Zweitling, musikalisch in etwa ein Mix aus Chet Baker und King Krule. Er verhandelt bei extrem gedämpfter, verhallter Stimmung die großen, schweren Themen des Lebens: Tod und Sterblichkeit – aber auch den Zyklus aus Leben, Tod und Wiedergeburt. Portishead, Can und Hendrix waren diesmal seine Signature-Sounds. Der Cool Jazz ist ihm etwas abhandengekommen. Vermissung. Live fängt er es sicher auf. Schade, Teil 2: er spielt nicht im Süden: am 18.9. in Berlin, 19. Köln und 20. Hamburg beim Reeperbahnfestival. (7,0 von 10 Punkten)

EARL SWEATSHIRT x THE ALCHEMIST – Voir Dire

Solche angenehmen Überraschungen sind einem als Pop-Fan am liebsten: mit opulenten Streichern beginnt die Surprise-Release-Platte der beiden US-HipHop-Stars: Rapper Earl Sweatshirt und Beatmaker The Alchemist brachten als Rush-Release „Voir Dire“ heraus – Lateinisch für „die Wahrheit sagen“. Es ist ein kurzes, aber lässig-unaufgeregtes, ordentlich tiefer gelegtes Sonntag-Nachmittag-Chill-Rap-Album – weit weg vom oft stressigen Trap-Sound dieser Tage. Was auch an den Samples liegt, die Alchemist gefunden und geschnitten hat - zu einem einnehmenden, z. T. Easy-Listening-artigen Beat-Teppich: für den smooven Sprechgesang von Odd Future-Gang-Mitglied Earl Sweatshirt, Sohn eines südafrikanischen Poeten und Polit-Aktivistin und US-Jura-Professorin. Mit dem Gesetz hatte Earl auch er so inzwischen genug Kontakt: vor allem dank seiner langen Drogen-Erfahrung.
Er ist Teil der legendären Odd Future Gang – dem kalifornischen Rap-/R´n´B-Zusammenschluss – u. a. von Frank Ocean, Syd und Tyler, The Creator. Fans konnten die Veröffentlichung häppchenweise im Netz verfolgen: die beiden Musiker gaben über eine Website mehr und mehr Details von „Voir Dire“ preis. Die Single „Sentry“ (Wachposten) ist mit dem New Yorker Rapper Mike aufgenommen, handelt von drückenden Erinnerungen: „had a couple things on my chest, that´s where the demons would sit...i got tired of stayin´ to talk“. The Alchemist hat seine Beats auch schon für Freddie Gibbs oder Roc Marciano ausgerollt. Auf Bandcamp vertaggen sie das Werk u. a. als „alternative Beat Tape“. Was es trifft: eher ein relaxtes Lo-Fi-Rap-Mixtape als ein ausgeklügeltes HipHop-Album. (7,5 von 10 Punkten)

NICK CAVE & WARREN ELLIS – Australian Carnage (Live at the Sydney Opera House)

Er ist inzwischen sein eigener Planet mit unzähligen Fans, die um ihn kreisen. Nur wenige Künstler verstehen es, die AnhängerInnen so bei der Stange zu halten wie er. Sei es durch seinen Blog, in dem er Fragen – nicht nur zu seinen Texten - mit Lebensweisheiten beantwortet. Oder durch die Live-Platten der letzten Jahre, die die Bindung zu seinen Fans stärken. Allein, mit seiner Band (The Bad Seeds) oder nun mit seinem musikalischen Hauptpartner, den ebenfalls aus Down Under stammenden Multi-Instrumentalisten Warren Ellis (früher: The Dirty Three). Auf dem „Australian Carnage“ Mitschnitt, mit vielen Songs des 2021er „Carnage“-Albums, hören wir Nick Cave oft Minuten lang mit ihnen reden. Die „Live at Sydney Opera House“-Platte zeugt von der heimisch-heimeligen Atmo, die der gebürtige Australier durch ausgiebiges Songpausen-Geplenkel, sprich seine die Fans mit einbeziehenden Ansagen erzeugt. Unter den 18 Stücken der digitalen Version seiner Live-Platte befinden sich auch richtig opulente, zwölf- und 13-Minuten lange Stücke („Ghosteen“, „Hollywood“), ein T. Rex-Cover (´Cosmic Dancer´) - nicht nur Klavier-Stücke, wie so oft in den letzten Jahren. Die Live-Band, bei der auch Colin Greenwood von Radiohead und ein Background-Chor dabei sind, sorgen für einen abwechslungsreichen Auftritt. Ich wollte das Album erst fast gar nicht hören (nicht schon wieder eine Live- bzw. Best Of!), wurde aber Besseren belehrt. Nick Cave macht seit Langem sehr vieles sehr richtig. (7,5 von 10 Punkten)

MICK HARVEY & AMANDA ACEVEDO – Phantasmagoria in Blue 

Ein Duett-Album des ex-Nick Cave & The Bad Seeds-Gitarristen/Multi-Instrumentalisten mit der argentinischen Sängerin/Filmemacherin. Mick Harvey und Amanda Acevodo covern sich durch Lieblingslieder der Pop-Geschichte und klingen dabei leicht erotisch aufgeladen – wie einst Serge Gainsbourg & Jane Birkin. Sie spielen u. a. Leonard Cohen („You´ve Got Me Singing“, 2014), Tim Buckleys Klassiker „Song To The Siren“ (1969, den u. a. auch Sinead O´Connor interpretierte), „Love Is A Battlefield“ (1983, Pat Banatar) oder Joe Dassins „L´Été Indien“ (1975) das zu „Indian Summer“ wird. Auch Acevedo brachte spanisch-sprachige Songs mit und übersetzte sie vom Englischen ins Spanische. Kennengelernt haben sie sich in Mexiko, wo Acevevo wohnt und Mick Harvey an der Seite von PJ Harvey (nicht verwandt) bei einem Konzert auf der Bühne stand. Sie haben Stücke ausgesucht, die von Sterblichkeit, Liebe, Rätselhaftem, Mythischem und Sinnsuche handeln. Ich konnte sie bereits beim Auftritt in Münchens Roter Sonne im Mai sehen: ein leider nicht gut besuchtes Konzert, bei dem man das Gefühl bekam, dass diese dunkle Nick Cave-artige Musik der 80er/90er vielleicht doch irgendwie vorbei ist, außer wenn Nick Cave selbst spielt: es kam kaum mehr junges Publikum: Generationenabriss. (6,5 von 10 Punkten)

GOLD RUSHIAN - Flora

Wie sagten einst die Juroren des Montags-Demos im Zündfunk/Bayern2 zur Musik des Nürnbergers: „wie eine B-Seite von Beck, auf der Adam Green Lou Reed-Songs singt“ (Thees Uhlmann, ja der Thees U.) bzw. „unfassbare Textmenge, dazu Geräusche, die man gar nicht richtig identifizieren kann“ (Josef Winkler/Musikexpress, ja der Josef W. von der Muh). Benjamin Nossen, der sich Gold Rushian nennt, hat gerade chaotische Zeiten erlebt: persönliche Verluste, Sinnsuche - die Folge: auf den acht Stücken besinnt er sich „der Essenz des Lebens“, wie der selbsternannte „Lo-Fi-Troubadour“ die Stimmung beschreibt, die zu „Flora“ führte. Die Stücke handeln von Cancel Culture, Paranoia, dem „Weltsupergau“. Indie-Folk, mit seltenen Instrumenten wie Klarinette und Farfisa Orgel eingespielt: ein schön-schräges Universum, das sich da bei Gold Rushians (eine Anspielung an den Neil Young-Klassiker „After The Gold Rush“) eröffnet. Ben, Teil des Folk´s Worst Nighmare-Kollektivs, spielte/wirkte auch schon bei den fränkischen Projekten Schimmy Yaw, Black Elephant Band oder Mäkkelä mit. Seine Solo-Platte ist so vieles: kurzweilig, freaky, Haken schlagend, überbordend an Ideen. Manchmal hätte er sie vielleicht noch etwas kanalisieren können – aber dafür entdeckt man länger Neues an der Platte: in „Soul Sucking Lover“ geht’s u. a. um eine Aerosmith-Platte und der Anfang von „At the Boca“ erinnert von Gitarren-Intro und Spielfreunde an die frühen Vampire Weekend. (7,5 von 10 Punkten)

ÖSTRO 430 – Punkrock Nach Hausfrauenart        

39 Jahre nach der Auflösung sind die Düsseldorfer Punk-Pionierinnen zurück. Anfang der 80er hatten es Östro 430 auch in die Bravo und den englischen NME bzw das deutsche Fernsehen geschafft. Durch ihre beiden LPs „Durch Dick & Dünn“ und „Weiber Wie Wir“. Ihr Label nennt sie „Rolemodels aus einer Zeit, als es den Begriff noch gar nicht gab“. Schon vor ein paar Jahren wurden sie wieder entdeckt. Eine Compilation erschien: „Keine Krise Kann Mich Schocken (Die Kompletten Studioaufnahmen 1981 - 1983)“. Nun das erste neue Material seit 40 Jahren: „Punkrock nach Hausfrauenart“ heisst ihr neues Album - ihren Sound von damals mit den Themen von Heute gekoppelt haben: Saxophon statt Gitarre. Martina Weith singt stimmlich souverän, reimt „Vibrator“ auf „Diktator und „pimpern“ auf „Hintern“ („Dein Hintern“ ist die Fortführung ihres Klassikers „Sexueller Notstand“). Meistens sind Männer jedoch nicht das Objekt der Begierde, sondern kriegen ihr Fett weg: „Alte Männer“ oder „Klugscheisser“, Abrechnungen gibt’s auch für SUV-Fahrer („Kiribati“ – zur Melodie von „Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami – Lizzi Waldmüller, 1939). Bela B von den Ärzten und Bärchen & Die Milchbubis sind auch mit von der Partie bzw. im Background zu hören. Nicht auf die Reihe bekomme ich allerdings, dass diese vier emanzipierten Frauen einen platten Text gegen das Binnen-I bzw. Gender-Sternchen singen: „Wörterpolizei“. Wie war der Albumtitel? „Punkrock nach Hausfrauenart“. Ok. (7,0 von 10 Punkten)

BERLINER DOOM – Wer das hört ist Doom

Was für eine Band! Ein Wortspiel-verliebtes Berliner Trio, das den Berliner Dom, die flächenmäßig größte (evangelische) Kirche Deutschlands, verdoomt in alle Ewigkeit: zwölf Sekunden-Songs zwischen 0´22 und 1´06 Kürze grind-en weg, was weg muss. Die Noise-Ausbruchs-Stücke heissen „Veganer Softrock“, „Alte Weisse Frau“ oder „Die Wand angeschissen“. Sängerin ARM und die beiden Musiker, Boris Guschlbauer und Daniel WTO, haben davor bereits zwei ähnlich kurz gehaltene Alben veröffentlicht (das hier dauert sieben Minuten) die aber zu kurz waren, um sie mitzubekommen. Kompromisslosigkeit, die Respekt verdient. Auch wenn das Trio sicher auf so was scheisst. (9,0 von 10 Punkten)

KLEIBER – Ein Krieg Der Stille 

Das neue Projekt von Immer-Punk Jens Rachut: der Hamburger hat nach Dackelblut, Blumen Am Arsch Der Hölle oder Oma Hans wieder eine neue Band (oder vielleicht auch nur ein Projekt) gegründet – u. a. mit Thomas Wenzel (ex-Die Sterne) Dazu Ruth May (School of Zuversicht), Atli Grund (war auch bei Rachuts ´Angeschissen´ dabei), Frederike Ernst und Elisabeth Wöllert (Mezzosopran/Sprecherin). Kleiber (so wie der Vogel, der die Bäume stammabwärts und kopfüber läuft) ist ein Rock-Musical über den Trennungen. Ein Stück heisst Trennungswurm, in „Rumart“ wird vor Paartherapie gewarnt. Manche Lieder dauern über zwölf Minuten und fahren eine unglaubliche Textmenge auf, die Rachut nicht alleine stemmen muss. Hier trennen sich alle - auch von ihren alten Rollen in Bands. (7,5 von 10 Punkten)

ROYAL BLOOD - Back To The Water Below

Englands erfolgreiche Rock-Band ist zurück – mit dem vierten Album des Duos aus Brighton. Seit zehn Jahr veröffentlichen sie Musik – nun legen sie die erste selbstproduzierte Platte vor. Mike Kerr (Voc/Bass/Gtr) und Ben Thatcher (Drums) liefern einen Mix aus Arctic Monkeys und Black Keys. Spielten schon bei Coachella, Glastonbury und Rock in Rio. Mit Iggy Pop, QOTSA und den Foo Fighters. Und waren schon Nr 1 in UK, gewannen die Brit Awards fürs beste Album des Jahres und sind diesmal freier als früher. Wie riet ihnen Rick Rubin: nicht das Genre, nicht die Instrumente, sondern eure Chemie bestimmte den Sound von Royal Blood. Drummer Ben Thatcher: „Ich glaube, bei diesem Album ging es darum, dass wir den Ideen folgen, wo immer sie hinmussten. Wenn ein Song etwas von uns verlangte, wofür wir normalweise nicht bekannt sind, haben wir uns trotzdem ganz bewusst darauf eingelassen. Die Songs haben das Sagen, und wenn das bedeutet, dass die Platte sehr breit gefächert ist, dann werden wir uns auch darauf einlassen, anstatt zu versuchen, alles in dieselbe Welt zu pressen. Das Ergebnis ist ein Album, das ein bisschen wie eine Achterbahnfahrt ist. Wir haben alles da reingebuttert.“ Der Mosh-Pit wartet – so wie das Rockradio auch. (7,0 von 10 Punken)

LUCAS CROON – Hals und Kopf

Der Musiker der Düsseldorfer Electro-Kraut-Formation Stabil Elite solo auf dem spanischen Label Ediciones Villasonora. Nach dem Nebenprojekt BAR und drei Maxis unter seinem bürgerlichen Namen nun das Debütalbum: zwischen instrumentalem Space-Out/Balearicosmic/Psychelectro. (7,5 von 10 Punkten)