Bayern 2 - Nachtmix

Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von Jamila Woods, Allah-Las und F.S.K.

Die Neuheiten der Woche im kompakten Überblick. Mit Gotts Street Park, Illgen-Nur, Jamila Woods, Cybotron, Allah-Las, F.S.K., Isabelle Pabst, Cleo Sol und The Streets

Von: Angie Portmann

Stand: 12.10.2023

F.S.K. - Topsy Turvy | Bild: Buback Tonträger

Freiwillige Selbstkontrolle

Freiwillige Selbstkontrolle, die Band unseres hochgeschätzten Ex-Kollegen Thomas Meinecke, besteht jetzt schon seit 43 Jahren. Immer noch in Original-Besetzung.  Neben Meinecke sind das Michaela Melián, Justin Hoffmann und Wilfried Petzi. Und seit 1990 Carl Oesterhelt am Schlagzeug. F.S.K. waren einst John Peels deutsche Lieblingsband. In den 1980er Jahren hat der legendäre britische Radio-Moderator sie immer wieder zu seinen John Peel Sessions eingeladen. Mit „Topsy-Turvy“ veröffentlichen F.S.K. nun ihr 17. Studioalbum. Schlingern, wie immer, souverän durch die Moderne. Die Referenzen auf andere Musikstile sind wie immer bei F.S.K. variabel. Und trotzdem erkennt man sie sofort, hat sich im Laufe der Jahre ein eigener Bandsound entwickelt. Das gilt auch für ihre Texte. Über die Liebe singen sie doch alle. F.S.K. jedoch denken nicht daran, ihr Innerstes nach Außen zu kehren und möglichst "real" zu klingen. Sie wollen auch nichts völlig Neues kreieren. Stattdessen betont Thomas Meinecke immer wieder gerne, dass viele seiner Songtexte mit Hilfe des Reclam-Reimlexikons entstehen. Oder im Falle der Verneigung vor Claude Lanzmann, wie es scheint, mit Hilfe eines Wikipedia-Eintrags. Neben dem französischen Filmemacher geht es in den Songs auf „Topsy-Turvy“ auch um aktuelle Demonstrationstechniken („Stirn zeigen“), das Verschwinden unserer Kaufhäuser, Theodor Adornos geliebtes Amorbach und um die Rückgabe kolonialer Beutekunst („Digital Benin“). Und eben um diese verkehrte, chaotische Welt, in der wir leben, diese „topsy-turvy world“, durch die uns F.S.K. im gleichnamigen Song gemächlich hindurch lotsen. (8,2 Punkte)

über F.S.K.: "F.S.K. ist die wichtigste deutsche Band. Ohne F.S.K. keine Hamburger Schule, ohne F.S.K. keine eigene deutsche Popsprache. Ganz einfach: Ohne F.S.K. kein Diskurspop in der Bundesrepublik." Maurice Summen, Die Türen

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F.S.K. - Amorbach | Bild: Buback Tonträger (via YouTube)

F.S.K. - Amorbach

Jamila Woods – Water made us

Auf ihrem letzten Album hat sich Jamila Woods mit der Autorin Toni Morrison und deren Roman „Sula“ beschäftigt, hat von dem Album sogar eine „Paperback“ und eine „Hardcover“-Version veröffentlicht. Und auch “Water made us” bemüht sich wieder sehr um eine Synthese von poetry und sound – vor allem in den Spoken Word-Passagen. „I miss all my exes“ z.B. ist eine sehr poetische, sehr liebevolle Abrechnung mit Jamila Woods Ex-Freunden. Überhaupt die Liebe! Alles kreist hier um die Liebe in den unterschiedlichsten Schattierungen. In Form von Tagebucheinträgen, Therapiesitzungen oder auch Astrologie-Stunden … Jamila Woods ist Waage und hat offensichtlich Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Alle Stationen einer Beziehung tauchen hier auf: vom ersten Kontakt über Gefühle wie Unsicherheit und Eifersucht bis zur Trauer, wenn eine Liebe zu Ende geht. Das alles hat Woods in entspannten R’n’B gepackt, zarten Acoustic-Folk („Wolfsheep“) oder verträumten Dance-Pop, je nach Bedarf. Insgesamt ist „Water made us“ ein sehr geschmeidiges Neo-Soul-Album, voller positiver Vibes, die entspannt dahin grooven, musikalisch kein Aufreger, aber ein hübscher Mantel für die tollen Lyrics von Jamila Woods. (7,8 Punkte)

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Jamila Woods - Practice (ft. Saba) (Official Video) | Bild: JamilaWoodsVEVO (via YouTube)

Jamila Woods - Practice (ft. Saba) (Official Video)

Allah-Las - Zuma 85

Die Allah-Las aus Kalifornien reiten jetzt schon fünf Alben lang auf der Retrowelle. Mal liegt der Fokus mehr auf Garagen-, mal auf Surf-Rock. Aber immer trennt die Band mindestens 50 Jahre von ihrem Referenz-Sound. Auf ihrem neuen Album „Zuma 85“ ist das nicht anders. Den Anfang macht gleich ein cooler Glam-Rock-Banger, der sich beschwert, dass im Radio immer dieselben Songs laufen und die DJs Computer seien. Sehr charmant ;-). Ansonsten klingen die Allah-Las vor allem psychedelisch, spielen mal mit Beach Boys, Beatles oder Lou Reed-Reminiszenzen. Und die Instrumentalstücke „Hadal Zone“ und „Zuma 85“ könnten im Original auch aus irgendeiner kosmischen Küche der Krautrock-Ära stammen. Wie Ilgen-Nur haben sich auch die Allah-Las ein besonders idyllisches Plätzchen für die Aufnahmen ausgesucht … und zwar in der Bucht zwischen Stinson und Bolinas Beach in der Nähe von San Francisco. Auch hier scheint sich das äußert positiv auf den Output der Band niedergeschlagen zu haben. Ihr wild verschwurbelter Nostalgie-Pop ist auch diesmal wieder ein großer Spaß, eine liebevolle Hommage an lang vergangene Zeiten. (7,7 Punkte)

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Allah-Las - Dust (Official Video) | Bild: Innovative Leisure (via YouTube)

Allah-Las - Dust (Official Video)

Gotts Street Park - On The Inside

Von Chicago nach Leeds, UK. Auch dort liebt man den guten alten Soul. Was die Lyrics angeht, nicht ganz so ambitioniert wie Jamila Woods, aber dafür sympathisch oldschool und sehr moody – so klingen Gotts Street Park. Ein Trio, das seit zehn Jahren zusammen Musik macht, anfangs nur in ihrem Studio in einem runtergekommenen Viertel von Leeds. Einer eher kriminellen Gegend, in der man hinter sich fest die Tür verriegelt und ansonsten nur wenn es unbedingt sein muss auf die Straße geht. Hier haben sich Gotts Street Park verschanzt und an ihrer Vision von jazzy Vintage-Soul gefeilt. „Smackie-Soul“ nennen sie deshalb auch ihren Sound, wegen der vielen Junkies vor der Tür. Mittlerweile haben die Drei aber auch schon für große Namen geschrieben und produziert, für Celeste z.B. oder Kali Uchis … und sind mit ihrem Studio vermutlich schon in eine ruhigere Gegend gezogen. Auf ihrem neuen Album „On the Inside“ feiern sie wieder - ähnlich wie das US-amerikanische Daptone-Label – den Soul der 60’s, lassen Motown hochleben, genauso wie den Jazz-infizierten frühen HipHop der 90‘s. Und haben sich dafür fabelhafte Stimmen ins Studio geholt. Ein sehr chilliges, angenehm groovendes, alles andere als überproduziertes Album ist so entstanden. Blue and beautiful. (8 Punkte)

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Gotts Street Park - 'Tell Me Why' feat. Olive Jones [Official Audio] | Bild: Gotts Street Park (via YouTube)

Gotts Street Park - 'Tell Me Why' feat. Olive Jones [Official Audio]

Ilgen-Nur - It's All Happening

Das neue Ilgen-Nur-Album ist in LA entstanden und das hört man auch. Warmer Laurel Canyon-Folk, man spürt regelrecht die kalifornische Sonne, wie sie sanft auf der Haut brennt. Statt slackerhaftem Indie-Rock wie auf ihrem hochgelobten von Max Rieger (Die Nerven) produzierten Debüt „Power nap“ macht Ilgen-Nur jetzt tollen lichtdurchfluteten Folk.  Aufgenommen auf der malerischen Palos-Verdes-Halbinsel im Süden von LA. „Erwachsener“ würde sie jetzt klingen, sagt Ilgen-Nur Borali über ihr neues Album. Die in der Nähe von Stuttgart geborene Wahl-Berlinerin, queer und postmigrantisch, ist mir zum ersten Mal im Vorprogramm von Tocotronic begegnet. Ihr cooler Indie-Rock hat mich damals sofort bezaubert – aber auch ihr neuer, schwebender, sehr sehnsüchtiger Folk-Ansatz klingt großartig. (8,1 Punkte)

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Lookout Mountain (Official Visualizer) - Ilgen-Nur | Bild: ILGEN-NUR (via YouTube)

Lookout Mountain (Official Visualizer) - Ilgen-Nur

Cybotron - Maintain the golden Ratio

28 Jahre hatte Juan Atkins, einer DER Detroit-Pioniere, was elektronische Musik angeht, sein Alias Cybotron stillgelegt und war als Model 500 oder Infiniti unterwegs. Jetzt kehrt er damit überraschend zurück. „Maintain the golden Ratio“, so der Titel der EP. Von Cybotron stammt übrigens auch „Clear“, ein Electro-Track aus dem Jahr 1982, der von vielen als DER Proto-Techno-Track überhaupt bezeichnet wird. Damals bestand Cybotron noch aus dem jungen Juan Atkins und dem Vietnam-Veteranen Richard „3070“ Davis, heute sind dafür Tameko Williams und Laurens von Oswald, der Neffe von Moritz von Oswald, mit im Cybotron-Boot.
In einer Zeit in der sich alles zu verändern scheint, nichts von Dauer ist, bietet sich jetzt also erstaunlicherweise Techno bzw. der Mensch/Maschinen-Hybrid Cybotron als Rettungsanker an. Alles ist im Fluss – Techno bleibt. (8 Punkte)

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Cybotron - Maintain | Bild: Tresor Berlin (via YouTube)

Cybotron - Maintain

Isabelle Pabst - Als die Stille aus der Zeit fiel

„Als die Stille aus der Zeit fiel“, so der Titel des Solodebüts der Kölner Musikerin Isabelle Pabst, die auch schon auf dem letzten Album von Hans Nieswandt zu hören war. Ein größtenteils ruhiges, schwebendes Album, Musik und Lyrics gleiten langsam an uns vorbei. So wie bei einem Tauchgang plötzlich alles gedämpft, wie in Zeitlupe wirkt. Kein Wunder, Isabelle Pabst war als Tochter einer kroatischen Mutter als Kind viel am Meer bzw. unter dem Meer. Und so wurde sie zur Apnoetaucherin, liebt es abzutauchen in eine Unterwasserwelt, in der es still und geheimnisvoll ist. Aufgenommen hat Isabelle Pabst ihr Debüt im Von Spar-Studio, nachts, wenn ebenfalls alles still war. Von Spar-Mitglied Philipp Janzen war ihr Dozent an der Folkwang Universität im Ruhrgebiet und er hat ihr das Studio und das dazugehörende hochsensible Großmembranmikrofon zur Verfügung gestellt. Damit hat die Musikerin ihre teilweise sehr reduzierten, aber auch sehr intensiven Songs aufgenommen, hat bis zu 80 Takes gebraucht bis sie zufrieden war. Und hat so ein tolles Album geschaffen, zwischen osteuropäischer Folklore, sanften Beats und ASMR-Momenten (ein weiterer Einfluss war laut Pabst der estnische Komponist Arvo Pärt und … Hildegard Knef!) (7,9 Punkte)

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Isabelle Pabst - Alice (Official Video) | Bild: Isabelle Pabst (via YouTube)

Isabelle Pabst - Alice (Official Video)

Cleo Sol - Gold

Vor kurzem erst hat Cleo Sol, die Stimme der britischen Überflieger Sault, überraschend ein Solo-Album veröffentlicht, schon schiebt sie ein weiteres hinterher. Auf „Heaven“ folgt jetzt „Gold“. Cleo Sols Output ist wirklich erstaunlich. Mittlerweile können wir ja davon ausgehen, dass die Britin mit serbisch-spanisch-jamaicanischen Wurzeln seit 2019 mit Sault elf Studio Alben veröffentlicht hat. Und dazu kommen jetzt in den vergangenen drei Jahren noch vier Solo-Platte . Alle Alben produziert von ihrem Mann Inflo, dem Vater ihres Kindes und dem Kopf von Sault. Aber da sich sowohl Sault als auch Cleo Sol weder mit Live-Auftritten, Interviews, Videos oder sonstigem Social-Media-Schnickschnack abgeben, können sie offensichtlich viel Zeit im Studio verbringen. Und dort so wunderbar soulfule Alben wie “Gold” aufnehmen. Die etwas sonnigere Version von “Heaven”, uplifting Neo-Soul, mal gospel-infiziert, mal mit einem sanften Reggae-Touch, mal ganz reduziert. Aber immer mit einem Optimismus als Form des Protests, einem Optimismus, den wir aktuell sehr gut brauchen können. (7,9 Punkte)

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Gold | Bild: Cleo Sol - Topic (via YouTube)

Gold

The Streets

Nach zwölf Jahren Pause erscheint mit „The Darker the shadow the brighter the light“ ein neues Studioalbum von The Streets. Aber damit nicht genug. Zum Album gibt‘s auch einen Film, einen Krimi Noir, der in der Londoner Clubszene spielt. Selber Titel, selber Autor, selber Produzent. Klingt nach überambitioniertem Mammutprojekt. War es vermutlich auch. Ob Mike Skinner deshalb so schlapp klingt auf dem ein oder anderen Song? Ich ertappe mich auf alle Fälle dabei, wie ich mir immer wieder Skinners jüngeren Kollegen Slowthai herbeiwünsche oder zumindest dessen Produzenten. Denn musikalisch ist „The Darker the shadow the brighter the light“ durchaus fragwürdig. Vor allem die oft völlig unmotiviert wirkenden Samples haben mich irritiert, aber auch die unzähligen Beat-Varianten, vom obligatorischen 2-Step bis zum Drum’n’Bass-Gewitter. Alles da, aber nichts wirklich überzeugend, leider. Wenn da nicht die nach wie vor messerscharfen Alltagsbeobachtungen von Mike Skinner wären, die kleinen nächtlichen Dramen auf schummrigen Parkplätzen, in dunklen Clubs, die das Album dann doch noch retten. Kein „Original pirate material“ wie das The Streets-Debüt im Jahr 2002, aber Mike Skinner-Fans werden vermutlich trotzdem ihre Freude damit haben. (6 Punkte)

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The Streets - Each Day Gives (Official Music Video) | Bild: The Streets (via YouTube)

The Streets - Each Day Gives (Official Music Video)