Ein Schüler im Unterricht am Grafinger Gymnasium.
Bildrechte: picture alliance / SZ Photo | Christian Endt

In Estland oder Finnland werden Schüler, die Schwierigkeiten mit dem Schulstoff haben, besser aufgefangen als in Deutschland.

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Bildung: Was Deutschland von den Pisa-Spitzenreitern lernen kann

Mehr Zeit und Geld für Lehrerfortbildungen, ein Auffangnetz für schwache Schüler, ein kreativer Zugang zu Mathe: Was sich Deutschland von den Pisa-Spitzenreitern Singapur, Estland oder Finnland beim Thema Bildung abgucken kann.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Deutschland ist bei der jüngsten Pisa-Studie im internationalen Ranking der Bildungssysteme kräftig nach unten gerutscht. Die Ergebnisse haben – wie schon in früheren Jahren – eine heftige Debatte ausgelöst. Neben Fragen nach den Gründen hinter der Misere ist in den letzten Tagen auch Kritik an der Studie aufgekommen: Manche Experten stellen die Vergleichbarkeit der Schulsysteme infrage, andere monieren, die Menge der Stichproben im internationalen Vergleich sei unterschiedlich ausgefallen, die Matheaufgaben seien schwer verständlich gewesen.

Diese Kritik weist Kristina Reiss entschieden zurück. Sie ist Professorin für Didaktik der Mathematik an der TU München und als Forscherin an der Pisa-Studie beteiligt. Die teilnehmenden OECD-Staaten würden genau über die Quoten bei den Stichproben wachen, die zuständigen Teams hätten die Aufgaben gemeinsam erarbeitet und dann in einer Pilotphase an Schülern der jeweiligen Länder "getestet", erklärt Reiss. "Wir machen in jedem Staat kleinere Stichproben mit Schülern und Schülerinnen, die ein Jahr vorher diese Aufgaben lösen. Und wenn man dann beispielsweise feststellt, dass es Aufgaben gibt, die in einem Staat gar nicht gelöst werden, dann sind diese Aufgaben draußen."

Experten: Pisa-Studie hilft uns, die richtigen Fragen zu stellen

Bedeutend sei nicht die niedrige oder durchschnittliche Position im Ranking, meint Reiss, sondern die Erkenntnis, dass ein Drittel der Jugendlichen aufgrund ihrer mangelnden Bildung schlechte Aussichten auf eine gute Zukunft hätten, auf einen sicheren Job mit guter Bezahlung, auf eine gute Teilhabe an der Gesellschaft. "Das sind die wahren Katastrophen", stellt Reiss fest.

Ähnlich sieht es Alexander Brand. Er ist Lehrer an der Stadtteilschule Helmuth Hübener in Hamburg und Redakteur beim Deutschen Schulportal. Auch für ihn ist die Position im Ranking nicht das Entscheidende. Trotzdem helfe die Pisa-Studie, die richtigen Fragen zu stellen, sagt Brand: "Warum schaffen es die Lehrkräfte in Japan besonders gut, ihre Schülerinnen und Schüler im Matheunterricht zum Nachdenken anzuregen? Warum ist Estland so gut darin, leistungsschwache Kinder aufzufangen?" Um Antworten auf diese Fragen zu finden, ist Brand schon 2019 und 2020 in Länder gereist, die traditionellerweise ganz oben im Pisa-Ranking stehen. Um herauszufinden, was sie anders machen.

Singapur investiert stark in Lehrerfortbildung und Teamwork

Während in Deutschland Lehrer meistens ihren Unterricht als Einzelkämpfer bestreiten, arbeiten Lehrer in Singapur viel stärker im Team. Das war eine der ersten und wichtigsten Erkenntnisse für Brand. Und anders als Deutschland fördert Singapur flächendeckend die Weiterentwicklung der Lehrer. Lehrkräfte haben dort Anspruch auf 100 Stunden Fortbildungszeit im Jahr. "Und die werden dann vor allem im Team genutzt", erklärt Alexander Brand. "Da treffen sich Lehrkräfte wöchentlich in Kleingruppen von fünf bis sieben Lehrkräften eines Fachs und einer Jahrgangsstufe, um gemeinsam am Unterricht zu arbeiten." Die Lehrkräfte besuchen einander im Unterricht, sprechen über Forschungsergebnisse, erarbeiten zusammen Aufgaben, die den Unterricht spannender gestalten sollen.

Und zwar nicht in ihrer Freizeit. Die gemeinsame Vorbereitung des Unterrichts gilt als Arbeitszeit. Dafür seien die Lehrkräfte im Unterschied zu Deutschland viel stärker von zusätzlichen bürokratischen Aufgaben befreit, die nicht zum Kerngeschäft des Unterrichts gehören, wie beispielsweise Formulare ausfüllen oder digitale Geräte warten: "In Estland gibt es an jeder Schule einen Bildungstechnologen, eine Art IT-Fachkraft, die das übernimmt", sagt Brand. "In Singapur gibt es in den Naturwissenschaften Labor-Assistenten, die die Physiksammlung warten."

Darüber hinaus verfügen Lehrer in Singapur beispielsweise über einen eigenen Arbeitsplatz mit Computer, über Konferenzräume, und – ganz wichtig: über Aufstiegsmöglichkeiten als didaktische Experten. Diese Arbeitsbedingungen sorgen dafür, dass der Beruf des Lehrers an Attraktivität gewinnt.

Estland legt Wert auf eine Schule als Lebensort

Schüler als auch Lehrkräfte sollen sich in ihrer Schule wohlfühlen, gerne in den Unterricht gehen und auch darüber hinaus dort Zeit verbringen: Dieses Konzept wird in Estland verfolgt. "In Estland ist es normal, dass Schülerinnen und Schüler auch nach dem Unterricht noch dableiben, Projekte organisieren oder noch zur Lehrkraft gehen, wenn sie eine Frage zum Unterrichtsstoff haben", berichtet Alexander Brand. So müssen Lehrkräfte in Estland Schülern jede Woche eine Sprechstunde anbieten.

In Deutschland gibt es darin noch Nachholbedarf. Das sieht auch die Wissenschaftlerin Kristina Reiss so: "Ich glaube, dass wir Schule zu stark als Leistungsort sehen, also zu stark auf Prüfungen, auf Noten hinarbeiten und weniger schauen, dass Interesse und Motivation gefördert werden." Die Pisa-Studie hat unter anderem gezeigt, dass viele Schüler in Deutschland Angst vor Mathe haben oder Mathe zu lernen als sinnlos erachten. "Das darf nicht sein", urteilt Reiss.

Finnland hat ein gutes Auffangnetz für schwache Schüler

Auch die jüngste Pisa-Studie hat gezeigt: In Deutschland hängt der schulische Erfolg eines Kinds stark vom sozialen Status und dem Bildungsgrad der Eltern ab. Wer aus einer Akademikerfamilie kommt, hat einfach bessere Chancen auf gute Noten. Um die soziale Schere zu verkleinern, setzt Finnland auf ein engmaschiges Auffangnetz. "Wenn zum Beispiel ein Zweitklässler in Mathematik ein bisschen hinterherhinkt, vielleicht krank war oder einfach Schwierigkeiten hat, dann kann er für vielleicht zwei von vier Mathestunden in der Woche in eine parallele Kleingruppe gehen und dort von einer Lehrkraft gefördert werden, die spezialisiert ist für Lernschwierigkeiten", erklärt Alexander Brand.

Professionelle Lerngemeinschaften für Lehrer, individuelle Förderung von Kindern, Schule als Lebensort - all diese Ansätze sind in Deutschland natürlich nicht neu. Paradoxerweise wurden einige dieser Konzepte sogar hier erdacht und zeitweise ausprobiert. Aber eben nicht flächendeckend implementiert. Länder wie Singapur hingegen haben sich diese Ideen angeeignet und wenden sie auch erfolgreich an.

Dieser Artikel ist erstmals am 18. Dezember 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!