3D-Illustration: Bakterien und Viren.
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Das Immunsystem braucht kein ständiges Training, um Viren und Bakterien abwehren zu können.

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Warum hinter "Immunschuld" ein Missverständnis steckt

Millionen Menschen in Deutschland leiden gerade unter Atemwegserkrankungen. Manche behaupten, eine "Immunschuld" sei dafür verantwortlich. Die Pandemie-Maßnahmen hätten unser aller Immunsystem geschwächt. Aber stimmt das? Eine Analyse.

Über dieses Thema berichtet: BR24live am .

Husten und Schnupfen haben Deutschland im Griff. Das Robert Koch-Institut meldet in seinem ARE-Wochenbericht zu akuten Atemwegserkrankungen für die Woche vom 12. bis 18. Dezember 2022: "Die Werte liegen aktuell weiterhin über dem Niveau der Vorjahre zum Höhepunkt schwerer Grippewellen. (…) Die Zahl der Arztbesuche liegt etwa im Bereich der Spitzenwerte schwerer Grippewellen." Krankheitsauslöser waren in über der Hälfte der Fälle Influenzaviren. Danach folgten RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus), saisonale Coronaviren, Rhinoviren und erst an fünfter Stelle SARS-CoV-2. Dessen Ausbreitung sollten Kontaktbeschränkungen und Schutzmasken während der Pandemie verhindern. Nun sollen diese Maßnahmen nach Ansicht Einiger angeblich Ursache der Welle an Atemwegserkrankungen sein. Das Immunsystem sei angeblich zu wenig in Kontakt mit Krankheitserregern gekommen und deswegen geschwächt. Es gebe eine "Immunschuld", und die werde nun fällig, so die Behauptung.

Im Video: Immunsystem - So funktioniert die körpereigene Abwehr

Illustration: Viren, Bakterien und Abwehrzellen
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So funktioniert das Immunsystem

"Immunschuld" ist kein Fachbegriff aus der Medizin. Das erste Mal taucht die Bezeichnung "immunity debt" im Mai 2021 in einem Fachartikel auf. Darin geht es darum, ob nach Aufhebung der Pandemie-Maßnahmen mit mehr Infektionskrankheiten bei Kindern zu rechnen sein werde. Im Juni 2021 steht "immunity debt" dann in einer Überschrift der Zeitung Wall Street Journal.

Bezeichnenderweise greift eine Wirtschaftszeitung diesen Begriff auf, denn "debt" bedeutet auf Englisch finanzielle Schulden. Das ist etwas anderes als "Schuld" wie in "Immunschuld". Da schwingt der Vorwurf einer Verfehlung mit, die "gesühnt" werden muss.

Nachholeffekt bei vielen Erkältungskrankheiten

Niemand hat aber irgendeine Schuld auf sich geladen, weil er oder sie in den vergangenen knapp drei Jahren seltener erkältet war. Das Bild von den Finanzschulden passt da schon eher: Mit den Pandemie-Maßnahmen haben wir eine Art "Kredit" aufgenommen. Nur haben wir uns nicht Geld, sondern Zeit mit weniger Infektionen "geliehen". Die Aufhebung der Pandemie-Maßnahmen bedeutet nun so etwas wie "Zahltag": Atemwegsinfekte, die seit März 2020 nur wenige trafen, schlagen jetzt geballt zu.

Influenzaviren sorgen gerade schon im Dezember für eine Grippewelle, die für gewöhnlich erst im Februar oder März anrollt. Auch mit Rhinoviren stecken sich gerade viele an. Gleiches gilt für RS-Viren, die für kleine Kinder sehr gefährlich sein können. Aber auch krankmachende Bakterien grassieren, zum Beispiel A-Streptokokken, die Scharlach hervorrufen. In einigen europäischen Ländern steigt die Zahl der erkrankten Kinder gerade an. Die Weltgesundheitsorganisation WHO ruft deshalb zur Wachsamkeit auf.

BR24live vom 14. Dezember 2022: Krankheitswelle in Bayern - was ist dran an der "Immunschuld"?

ARCHIV - 21.02.2012, Sachsen, Dresden: Mittel gegen Erkältung wie Nasenspray, Halstabletten und Papiertaschentücher liegen auf einem Tisch (Illustration zu «Zahl der Grippefälle steigt deutlich in Brandenburg») Foto: Arno Burgi/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Grippesaison

Immunsystem braucht kein ständiges Training, sondern Updates

Wegen der Masken und reduzierter sozialer Kontakte, konnten während der Corona-Pandemie Erreger von Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung weniger gut zirkulieren. Das hat sich nun wieder geändert - viele Menschen- stecken sich an. Das liegt aber nicht daran, dass diese ein geschwächtes Immunsystem haben. Wer sich infiziert, hat kein Immunsystem mit zu wenig Kraft, sondern mit zu wenig Informationen darüber, wie die Krankheitserreger aussehen, die gerade grassieren.

Anders gesagt: Das Immunsystem braucht also kein ständiges Training, sondern Updates. Die hat es aber während der Pandemie seltener bekommen. Kein Wunder, dass sich nun viele Menschen mit Atemwegserkrankungen anstecken. Das kann auch mehrmals kurz hintereinander mit unterschiedlichen Erregern passieren.

Außerdem war das Leben trotz Masken nicht völlig keimfrei. Das Immunsystem war weiterhin gut beschäftigt, Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten und andere Fremdkörper abzuwehren. Darauf hat auch die Virologin Isabella Eckerle bei Twitter ironisch hingewiesen:

Krankheiten stärken das Immunsystem nicht

Das Immunsystem kann aber tatsächlich geschwächt sein: Etwa bei Menschen mit einem angeborenen Immundefekt. Bestimmte Medikamente gegen Krebs, Rheuma oder nach einer Organtransplantation schwächen das Immunsystem, aber auch Diabetes oder Masern.

Krankheiten können dem Immunsystem also sogar schaden und stärken es nicht, wie der Virologe Christian Drosten schon Ende 2021 auf Twitter etwas spöttisch schrieb: "Wer glaubt, durch eine Infektion sein Immunsystem zu trainieren, muss konsequenterweise auch glauben, durch ein Steak seine Verdauung zu trainieren." und weiter: "Im Ernst: Immunreaktion vs. 'starkes Immunsystem' ist wie Lernen vs. Intelligenz. Ich kann ein Gedicht auswendig lernen, bin dadurch aber nicht intelligenter geworden. Ich kann eine Infektion überstehen, habe dadurch aber nicht 'mein Immunsystem gestärkt'".

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