Ein Modell der neuen Generation des ID.3 fährt im Werk von Volkswagen in Zwickau in die sogenannte Hochzeit.
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Deutschland ist ein Industrieland, besonders vier Branchen dominieren: Automobil, Maschinenbau, Chemische Industrie und Elektro-Industrie.

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Wirtschaftskrise: "Deutschland seit 20 Jahren ohne Reformen"

Deutschland im Konjunkturtief: Die größte europäische Volkswirtschaft schrumpft. Ein Experten-Gespräch über hausgemachte Probleme, verschlafene Reformen und wenig zündende Ideen.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Die Weltwirtschaft erholt sich langsam etwas. Nur ein westliches Industrieland strauchelt: Deutschland. Die größte europäische Volkswirtschaft schrumpft und ist neuerdings Wachstumsschlusslicht in Europa. So sieht es zum Beispiel jüngst die Prognose des Internationalen Währungsfonds. Droht Deutschland wirtschaftlich in die zweite Liga abzurutschen?

Für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) hat BR24 mit Klemens Skibicki gesprochen; er ist Wirtschaftshistoriker, Unternehmensberater und war bis 2018 Kern-Mitglied des Beirates "Junge Digitale Wirtschaft" beim Bundeswirtschaftsministerium.

BR24: Droht Deutschland der wirtschaftliche Abstieg?

Klemens Skibicki: Zumindest sehen die internationalen Investoren, die fragen, wo Kapital und die fähigsten Köpfe hingehen, Deutschland nicht gerade am Beginn eines tollen Wachstumspfades. Insofern kann man sagen: Es ist vielleicht noch nicht der Abstieg, aber andere schätzt man zumindest besser ein als uns.

"Deutschland hat sich in den letzten Jahren nicht gut aufgestellt"

BR24: Was heißt das denn konkret? Sind die fetten Jahre jetzt vorbei und Deutschland wird wieder der "kranke Mann Europas"?

Skibicki: Wenn man die Zahlen des Internationalen Währungsfonds anschaut, dann kann man schon sagen, dass wir wieder genau dahin wandern, wo wir mal 1999 standen. Da haben wir den Titel "der kranke Mann Europas" bekommen vom "Economist". Da stehen wir jetzt eigentlich wieder. Wir sind das Schlusslicht. Wir gehören nicht mehr zu den 20 wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt.

Wir sind immer noch die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, aber das ist ja das Ergebnis der Vergangenheit, der Investitionstätigkeit der Vergangenheit, da kommt der Wohlstand heute her. Die Zukunftsfähigkeit wird anders beurteilt. Da sind nämlich genau diese Investitions-Faktoren und die Wettbewerbsfähigkeit Indikatoren und da haben wir uns nicht gut aufgestellt in den letzten Jahren.

Im Video: Droht Deutschland der wirtschaftliche Abstieg? Possoch klärt!

"Karten werden gerade neu gemischt"

BR24: Ist diese negative Prognose vom IWF nur eine Momentaufnahme oder müssen wir uns ernsthafte Sorgen um unsere Zukunft machen?

Skibicki: Ich komme von der Strukturwandel-Forschung her, und die Karten werden gerade neu gemischt. Wir sind gerade beim Übergang vom Industriezeitalter zum digital-vernetzten Zeitalter, mit völlig neuen Regeln und Grundsätzen und Möglichkeiten und Wertschöpfungs-Treibern. Und wenn wir unseren Wohlstand halten oder ausbauen wollen, dann müssen wir uns eben anders aufstellen.

Natürlich kann man auch sagen: Ist ja nicht so schlimm, mein Gott, ein bisschen weniger Wachstum, ein bisschen weniger Wohlstand… Das ist aber meist nicht sehr verlockend. Man muss sich einfach klarmachen: Nur Wohlstand, der erwirtschaftet wird, kann auch verteilt werden. Da müssen wir vielen Leuten sagen: Entweder musst Du anderen was wegnehmen oder Ihr werdet eben kein besseres Leben haben. Und das ist normalerweise keine gute Zukunftsaussicht.

Grafik: Deutschland ist laut IWF-Prognose Konjunktur-Schlusslicht

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IWF-Prognose: Deutschland ist Konjunktur-Schlusslicht

"Probleme in Deutschland sind hausgemacht"

BR24: Warum schneidet Deutschland schlechter ab als andere Staaten? Wo liegt aus Ihrer Sicht das größte Problem?

Skibicki: Deutschland hat eben in den letzten 20 Jahren im Prinzip keine Strukturreformen mehr gemacht, während der Rest der Welt sich neu aufgestellt hat. Wir haben sowohl die grundsätzlichen laufenden Megatrends wie die demografische Entwicklung, dazu die Digitalisierung, dazu haben wir uns nicht aufgestellt und dann eben unseren ganzen schönen Sozialstaat eher ausgebaut, anstatt ihn so wieder aufzustellen, dass er auch von allein leistungsfähig ist. Das sind die Themen, die in Deutschland hausgemacht sind.

Dazu auch noch die Energiepolitik, die nicht gerade standortfördernd ist. Wir haben die höchsten Energiekosten in der Welt bzw. sind da immer in der Spitzengruppe, dazu immer auf Platz eins bis drei bei Steuer- und Abgabenlast, das sind nicht gerade die Faktoren, die man haben will, wenn man Investitionskapital und die besten Köpfe der Welt anziehen möchte. Dazu noch die Überbürokratisierung. Das sind die hausgemachten Probleme.

"Kurzfristige Investitionen helfen nicht"

BR24: Welche Rolle spielen denn die Folgen aus den Krisen der vergangenen Jahre: Pandemie, Lockdown, Lieferkettenproblematik, dann natürlich der Ukraine-Krieg, die Energiekrise? Können wir am Ende gar nichts für unsere wirtschaftlichen Probleme?

Skibicki: Die Krisen, die Sie ansprechen, also von Pandemie bis Energiekrise, die haben ja ganz viele Länder betroffen. Jetzt kann man ja schauen: Wie sind die einzelnen Länder mit den jeweiligen Voraussetzungen oder den jeweiligen Gegebenheiten umgegangen? Nehmen wir das Thema Energiepolitik, da haben wir eher eine Angebotsverknappung gemacht, indem wir gesagt haben, wir gehen jetzt wirklich aus der Produktion von Atom und Kohle immer mehr raus. Andere haben anders reagiert.

Das Ergebnis ist: Wir haben jetzt erst einmal sehr hohe Energiekosten. Ist das der alleinige Grund? Nein, bestimmt nicht. Aber andere Länder haben halt anders reagiert. Das ist dann schon ein hausgemachtes Problem und das wird von Investoren anders bewertet als wir das vielleicht gerne hätten. Denn die sagen: Für Investitionen brauchen wir Planungssicherheit.

Ich brauche auch keine kurzfristigen Subventionen, die das vielleicht in einer Übergangsphase, bis wir die Energiewende geschafft haben, ausgleichen. Investitionen brauchen Planungssicherheit für Jahrzehnte in der Regel. Und das haben wir gerade nicht in den Augen der Menschen, die die Investitionen tätigen.

Im Audio: Experten-Gespräch mit Wirtschaftshistoriker Klemens Skibicki

Klemens Skibicki, Wirtschaftshistoriker und Unternehmensberater
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Wirtschaftshistoriker Klemens Skibicki: "Deutschland hat sich in den letzten Jahren nicht gut aufgestellt"

Welche Branchen trifft es am ärgsten?

BR24: Trifft es manche Branchen härter als andere? In Bayern haben wir die Automobilbranche im Blick.

Skibicki: Erstmal sind alle Branchen von den Rahmenbedingungen, die sich um uns herum verändern, betroffen. Aber natürlich sind die energieintensiven – und da gehört die Automobilindustrie dazu und die ganzen Zulieferketten – schon besonders hart getroffen. Wenn sie ein Produktionsunternehmen sind und eben sehr viel Energie brauchen und auch entsprechend Fachkräfte, dann trifft sie das jetzt gerade härter als vielleicht andere Branchen.

Aber generell müssen sich alle Branchen auch zum Beispiel für die Digitalisierung aufstellen. Und auch da sind wir viele Dinge zu spät angegangen, nicht nur in den Unternehmen, sondern auch in der Verwaltung, in der staatlichen Organisation. Da haben wir viel liegen lassen in den letzten Jahren und haben eher darauf gehofft, dass das irgendwie schon wird.

"Lösung fängt immer mit der Erkenntnis an"

BR24: Welche Lösung sehen Sie für diese Probleme?

Skibicki: Die Lösung ist eigentlich relativ einfach: Sie fängt immer mit dem Annehmen der Situation, mit der Erkenntnis an. Wir sollten Wunschdenken und Ideologien beiseitelassen und einfach klar und deutlich verstehen: Die Menschen, die hier investieren sollen, wandern ab oder bringen ihre Investitionen an andere Orte. Also sind wir offensichtlich nicht mehr so attraktiv. Die Investitionen von heute und die Strukturreform von heute sind der Wohlstand der Zukunft. Das heißt, mit dieser Erkenntnis fängt es an, dass wir uns einfach noch mal zusammensetzen und fragen: Wie lösen wir das Problem? Wie schaffen wir Bedingungen, dass man hier investieren möchte?

Ich kann aus der Wirtschaftsgeschichte sagen: Wenn sie Menschen und Kapital hierhin ziehen wollen, dann müssen sie eben attraktiv sein. Und das sollten wir beherzigen und wieder die nötigen Rahmenbedingungen dafür schaffen. So hat es eigentlich auch immer in der Geschichte funktioniert.

Nur dieser Erkenntnispunkt, der lässt meist auf sich warten, weil man lange denkt, es geht ja noch irgendwie und man andere Gründe findet, warum alles nicht so schlecht ist und andere sehen das zu negativ – das ist auch richtig, man soll nicht den Kopf in den Sand stecken, aber wir müssen schon realistisch die Situation einschätzen und einfach mal die Zahlen wie zum Beispiel die des Internationalen Währungsfonds als Fakten nehmen.

"Wir brauchen einen neuen Mut"

BR24: Allein das Wort "Transformationsprozess" klingt abstrakt und nicht greifbar, bedeutet aber ja: Es braucht umfassende Veränderungen im Grunde für jeden?

Skibicki: Wir sprechen zwar sehr oft von der Krise als Chance und solche schönen Motivationssprüche, aber: Veränderung kostet Energie und bringt Unsicherheit. Wenn wir jetzt eben nicht wissen, wo wir stehen und wo wir eigentlich hinwollen, dann fällt es auch schwer, diese Energie aufzuwenden. Als Wirtschaftshistoriker weiß ich leider, dass wir sehr oft richtige Krisen gebraucht haben, damit das eben jedem klar war.

Die deutsche Wirtschaft, mit ihrer tollen mittelständischen Struktur, wir haben viele Tüftler, aber die kommen sehr stark aus diesem Industriezeitalter, mit seinen Wertschöpfungsketten, wie irgendein Ingenieur was entwickelt hat. Die Werttreiber und Wohlstandsbringer des digital-vernetzten Zeitalters sind woanders. Da brauchen wir einen neuen Mut.

Wir reden in Europa und in Deutschland viel zu sehr über Regulierung und Einhegung der erfolgreichen digitalen Champions aus den USA und aus China. Anstatt uns zu fragen: Wie müssen wir die Rahmenbedingungen setzen, dass die Tüftler und die besten Köpfe der Welt hier hinkommen und die Geschäftsmodelle hier entwickeln wollen?

Das sollten wir in den Fokus stellen, wenn wir tatsächlich den Wohlstand der Zukunft mitbestimmen wollen und nicht auf dem Abstellgleis landen, in dem Sinn, dass wir zwar noch den Wohlstand konsumieren, den wir haben, aber die Substanz langsam weggeschmolzen wird.

"Es braucht Tüftler und Ideen"

BR24: Sind wir da nicht schon längst abgehängt?

Skibicki: Wir sind gerade nicht auf dem besten Weg, ja. Aber ich bin da immer mutig. Nichts ist uneinholbar. Es muss aber eben diese Erkenntnis erfolgen. Die Wirtschaftsgeschichte ist ein dauerndes Auf und Ab und immer wieder werden die Innovatoren eingeholt. Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Jetzt wäre es mal schön, wenn wir einholen, um dann zu überholen. Aber dafür müssen wir eben erst mal erkennen, wo wir stehen, und dann braucht es eben diese Kräfte, diese Tüftler und dieses Machenwollen und neue Ideen.

Machen Sie sich einfach klar: Wenn Sie die zehn reichsten US-Amerikaner nehmen – das sind die Selfmade-Milliardäre, das sind die Elon Musks, die Mark Zuckerbergs, die Bill Gates dieser Welt. Das sind die, die in diesen Strukturwandeln ganz vorne dabei waren und große Vermögen geschaffen haben, weil sie auch tolle Unternehmen geschaffen haben.

Wenn sie die zehn reichsten Deutschen nehmen, dann ist die größte Zahl von denen Erben. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt, aber wir sollten wieder mehr Selfmade-Menschen bei uns hinbekommen. Die müssen angezogen werden, die müssen sich hier entfalten können. Sonst können sie es einfach nicht schaffen.

BR24: Danke für das Gespräch.

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