Audiodeskriptorin Anja Flessa (rechts) mit Theaterbesuchern mit Sehbehinderung in den Räumen der Münchner Kammerspiele
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Audiodeskriptorin Anja Flessa (rechts) mit Theaterbesuchern mit Sehbehinderung in den Räumen der Münchner Kammerspiele

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Kulturbetrieb: Wie Blinden die Teilhabe am Theater möglich wird

Teilhabe an kulturellen Events klingt nach etwas Selbstverständlichem. Doch noch immer stoßen Menschen mit Behinderungen auf Barrieren. Ein Beispiel für gelingende Inklusion gibt es an den Münchner Kammerspielen.

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Die Gäste, die sich vor dem Werkraum der Münchner Kammerspiele treffen, um eine Tanz-Performance zu erleben, sind nahezu blind. Dass sie trotzdem mit Freude das Theater besuchen, liegt an der modernen Technik und an Anja Flessa. Die Audiodeskriptorin beschreibt, was ein seheingeschränktes Publikum nicht sehen kann. Dazu gehören etwa die Lichtstimmung und die Bewegungen auf der Bühne.

"Im Dunkeln sehe ich sowieso gar nichts mehr und ich konnte die Gesichter nicht mehr erkennen", berichtet Sabine Lilly Günther. "Ein paar Jahre lang bin ich nicht mehr ins Theater gegangen, weil es nur frustrierend war."

Audiodeskriptorin: "Wichtig ist, auch Pausen zu lassen"

Zehn Tage zuvor: Anja Flessa erhält die zu beschreibende Tanz-Performance als Video-Version. Es ist ein Auftritt von Waawaate, einem indigenen kanadischen Solokünstler. "Ich verschaffe mir erst mal so einen Überblick über die Ästhetik", erklärt sie. "Wie raumgreifend ist die Performance? Gibt es viel Sprechtext oder wenig Sprechtext?" Über die Zeit habe sie gelernt, dass es ganz wichtig sei, auch Pausen zu lassen, damit die Zuhörenden nicht überfordert sind und damit es die Momente gebe, in denen das Gesprochene auf einen wirken könne.

Bei der Audiodeskription versucht Flessa nicht nur, Tanz oder Theater in einfache Sprache zu übersetzen, sondern auch der Person der Künstlerin oder des Künstlers gerecht zu werden. Das beschreibt sie als immer wieder neue Herausforderung, weil jedes Stück anders sei. "Es ist immer wieder toll, wenn dann auch Blinde, seheingeschränkte Gäste da sind und man danach noch ein gutes Feedback bekommt", sagt Flessa.

Von der Profi-Tänzerin zur Audiodeskriptorin

Vor zwei Jahren erst fing die ehemalige Profi-Tänzerin an als Audiodeskriptorin zu arbeiten. Sie arbeitet selbständig und hat inzwischen Erfahrung an verschiedenen Häusern in ganz Deutschland gesammelt. Wie intensiv sie sich auf die Stücke vorbereitet, ist ihre Entscheidung. Die Bezahlung ist Verhandlungssache und variiert von Bühne zu Bühne stark.

"Mir ist das einfach wichtig, dass, wenn der Künstler oder die Künstlerin das hören würde, er oder sie sich darin wiederfindet und sagt: 'Das ist stimmig für mich, das spiegelt meine Arbeit wider, das spiegelt meine Intention wider.'" Anja Flessa, Audiodeskriptorin

Anstatt nur sachlich zu beschreiben, lässt Flessa ihre Recherche und ihre Interpretation des Stückes in die Audiodeskription einfließen. Ihren Text überarbeitet sie mit Unterstützung einer blinden Co-Autorin. "Wenn man etwas für Menschen mit Behinderungen produziert, brauchst du einfach das Feedback von der Person, die eben nicht sehen kann", erklärt Flessa.

Eineinhalb Wochen später ist der Tag der Aufführung. Anja Flessa führt die Audiodeskription vom Keller des Schauspielhauses aus durch – live aus einem Tonstudio. Wichtig ist dabei auch ein Soundcheck vor der Aufführung, um abschätzen zu können, wie laut die Performance ist. Bei mehr als 80 Dezibel wäre Anjas Flessas Beschreibung für das Publikum nicht mehr zu verstehen.

Inklusionsprojekt soll fortgeführt werden

Angebote für ein seheingeschränktes Publikum sind auf deutschen Bühnen noch immer die Ausnahme. Vielen Häusern fehlt dafür schlicht das Geld. Bei den Kammerspielen in München ist Audiodeskription Teil eines auf drei Jahre geförderten Projekts zur Inklusion, das auch danach fortgeführt werden soll. Seit 2020 gehören dem Ensemble zudem Darstellende mit körperlichen und kognitiven Einschränkungen an. Gemeinsam mit ihnen versucht das Theater Strukturen zu entwickeln, die ihren Bedürfnissen gerecht werden.

Für den Behindertenbeauftragten in Bayern, Holger Kiesel, sind das Leuchtturmprojekte – die Norm jedenfalls ist es nicht, wie er sagt: "Ich glaube, was uns vor allen Dingen fehlt, wenn es um Inklusion im Kulturbereich geht, ist die Selbstverständlichkeit. Die selbstverständliche Wahrnehmung, dass Menschen mit Behinderung ein Teil unserer Gesellschaft sind und deswegen überall repräsentiert sein müssen." Man spreche hierbei zudem nicht von einer kleinen Gruppe, "sondern von allermindestens zehn Prozent der Bevölkerung". Entsprechend der UN-Be­­hin­­der­­ten­­rechts­­kon­­ven­­tion ist es das Recht von Menschen mit Behinderung, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzuhaben.

Sehbehindertes Publikum: "Ohne Audiodeskription völlig verloren"

In den Kammerspielen beginnt die Aufführung – und für Anja Flessa die Arbeit. 55 Minuten lang beschreibt sie das Stück, das von der quecksilbervergifteten Heimat Waawaates erzählt. Die Rückmeldungen ihres Publikums sind positiv: "Die Beschreibung war sehr präzise und es ist genau so ein Stück, wo man, wenn man es nicht sieht, ohne Audiodeskription völlig verloren ist, weil man sehr wenig mitbekommt. Ohne die Audiodeskription hätte ich halt ein bisschen Musik gehört. Keine Ahnung, was da abgegangen wäre, aber sie hat es super beschrieben."

Audiodeskription ist bislang stark von Förderung und dem Engagement einzelner Häuser abhängig. Es bleibt die Hoffnung, dass solche Angebote Schule machen und in Zukunft überall in Deutschland zum festen kulturellen Programm zählen.

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