Moderatorin Marlene Lufen kritisiert die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen.
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Ein Video der Moderatorin Marlene Lufen zu den "Nebenwirkungen" des Lockdowns geht viral. Im Netz erntet sie dafür Applaus - aber auch Kritik.

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#Faktenfuchs: Lufens Zahlen belegen ihre Schlussfolgerung nicht

Ein Video, in dem die Moderatorin Marlene Lufen über die "Nebenwirkungen" des Lockdowns spricht, geht viral. Auch Gegner der Corona-Maßnahmen machen es sich zu eigen. Warum ihr Appell zwar viele Zahlen enthält, sie diese aber irreführend einsetzt.

Ein Video der Sat-1-Moderatorin Marlene Lufen geht auf Instagram viral. Das löste eine große Debatte im Netz aus, da sie mit dem Video, überwiegend fälschlicherweise, einen direkten Zusammenhang zwischen korrekten Zahlen und den Maßnahmen gegen Corona in Deutschland herstellt.

Die Moderatorin beklagt in dem Video, dass die Politik bei den Corona-Maßnahmen zum Beispiel Gewalt an Frauen und Kindern oder die psychische Belastung, die sie auslösen, nicht ausreichend mitdenke. Lufen impliziert damit, dass die negativen Wirkungen der Corona-Maßnahmen schlimmer seien als die Infektions- und Todesfallzahlen, falls man auf die Eindämmung verzichten würde.

Lufen lässt allerdings bei den Zahlen, die sie als Belege anführt, auch wichtige Fakten aus - ebenso wie bei der Bewertung des Lockdowns. Aus dem Kontext gerissene Zahlen und eine irreführende Bewertung des Lockdowns führen zusammengenommen zu einer irreführenden Botschaft des Videos.

Der #Faktenfuchs klärt, was hinter den Zahlen steckt und inwiefern das Video kritisch zu sehen ist.

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Marlene Lufen spricht in ihrem Video verschiedene Aspekte an.

Gewalt gegen Kinder und Frauen

Ja, es stimmt, dass die Gewaltschutzambulanz an der Charité im ersten Halbjahr 2020 23 Prozent mehr Fälle von Gewalt an Kindern feststellte, als im Vorjahr. Der Lockdown begann aber erst im März, diese Zahl bezieht sich also nicht spezifisch auf die Zeit des Lockdowns. Ein weiteres Problem: Es gibt keine wirklichen Vergleichswerte, die belegen würden, dass der Anstieg tatsächlich außergewöhnlich hoch war.

Das liegt zum einen daran, dass die Fälle, die bei der Gewaltschutzambulanz gemeldet werden, monatlich sehr stark schwanken, wie ein Sprecher der Berliner Senatsverwaltung für Justiz dem #Faktenfuchs sagte. Die Senatsverwaltung für Justiz unterstützt die Gewaltschutzambulanz finanziell und erhebt auch die Daten, auf die sich Lufen bezieht. Korrekt wäre, die einzelnen Monate des Lockdowns mit den jeweiligen Monaten der Vorjahre zu vergleichen, um einschätzen zu können, wie untypisch der Anstieg tatsächlich ist. Doch auch das ist nicht möglich, weil die Gewaltschutzambulanz seit dem Jahr 2019 deutlich mehr Mittel zur Verfügung hat, als in den Jahren zuvor, so der Sprecher. Das heißt, seit 2019 gibt es unter anderem mehr Personal dort, entsprechend können auch mehr Fälle aufgenommen werden.

Richtig ist auch Lufens Aussage, dass Kinder in 6,5 Prozent der Haushalte mit Gewalt bestraft werden. Die Zahlen stammen aus einer Umfrage der TU München zu häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie. Die Autoren der Studie merken allerdings auch an, dass ein Vergleich mit Daten aus der Zeit vor der Pandemie nicht aussagekräftig sei, da bisherige Studien nach Gewalterfahrungen innerhalb längerer Zeiträume gefragt haben. Die Daten zur Studie der TU zu Gewalt während Corona wurde zwischen dem 22. April und 8. Mai 2020 erhoben.

Es stimmt auch, dass das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" in den Wochen nach Beginn der Corona-Krise eine höhere Zahl an Beratungen verzeichnete. Laut dem Bundesfamilienministerium haben die Beratungen sich "gegenüber dem Vorjahr auf einem um etwa 20 Prozent erhöhten Niveau eingependelt". Lufen spricht in ihrem Video von 15 bis 20 Prozent.

Um diesen Anstieg einordnen zu können, ist ein Blick auf den Anstieg der Beratungen in den Vorjahren notwendig. Laut den Jahresberichten des Hilfetelefons waren das von 2017 auf 2018 circa zwölf Prozent. Von 2018 auf 2019 ist die Anzahl der Beratungen um circa sieben Prozent gestiegen. Im Vergleich ist ein Anstieg von 20 Prozent seit Beginn der Corona-Krise deshalb durchaus bemerkenswert. Eine Sprecherin des Bundesfamilienministeriums weist allerdings auch darauf hin, dass sich von einem Anstieg der Beratungszahlen zu häuslicher Gewalt nicht darauf schließen lasse, dass das Phänomen tatsächlich zugenommen habe.

Das könne unter anderem daran liegen, dass lokale Einrichtungen des Hilfesystems vor Ort nicht erreichbar waren oder das Hilfetelefon durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit häufiger in Anspruch genommen wurde. "Gesicherte bundesweite Daten zu einem möglichen Anstieg häuslicher Gewalt seit Beginn der Corona-Krise liegen nicht vor", so die Sprecherin des Bundesfamilienministeriums.

Psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen

Die Moderatorin führt außerdem die "Nummer gegen Kummer" an. Es stimmt, dass die Telefon- und Online-Beratung dort von mehr als 461.000 Kindern und Jugendlichen in Anspruch genommen wurde und die Online-Beratung einen Zuwachs von 31 Prozent hatte. Doch bereits 2019 - einem Jahr ohne Lockdown - gab es laut dem Jahresbericht der "Nummer gegen Kummer" allerdings auch schon 471.699 Anrufe. Kinder und Jugendliche nahmen also schon vor Corona die Angebote der "Nummer gegen Kummer" stark in Anspruch - geringfügig mehr sogar, als 2020 mit Lockdown.

In Deutschland leben - wie Lufen richtig anmerkt - 2,6 Millionen Kinder mit suchtkranken Eltern unter einem Dach. Diese Zahl, die Lufen zitiert, ist zwar die aktuellste Zahl dazu - aber sie stammt aus dem Jahr 2016.

Die 67 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24, die sich laut Lufen überdurchschnittlich belastet fühlten, konnte der #Faktenfuchs nicht verifizieren. Eine Mannheimer Studie geht aber von 57 Prozent der 16- bis 25-Jährigen aus - eine Belastung ist also gegeben. Das legt auch ein Bericht des RKI zu den psychischen Auswirkungen von Covid-19 nahe - das Problem ist den Behörden also bewusst. Dass die Maßnahmen eine Einschränkung und eine Belastung bedeuten, leugnet auch die Politik nicht - sondern sprach bereits wiederholt davon.

Lufen führt außerdem die Zahl von 800.000 Magersüchtigen in Deutschland an. Diese Zahl ist eine Annäherung - und bezieht sich nur auf Frauen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) geht davon aus, dass 20 von 1.000 Frauen im Laufe ihres Lebens an Magersucht leiden, also zwei Prozent. Geht man von den aktuellsten Bevölkerungszahlen des Statistischen Bundesamtes aus und rechnet die zwei Prozent auf die weibliche Bevölkerung in Deutschland, sind das sogar etwas mehr als 840.000 Frauen.

Dazu kommen noch magersüchtige Männer, die deutlich seltener betroffen sind (0,2 Prozent der Bevölkerung), aber auch 80.000 Magersüchtige ausmachen. Repräsentative Zahlen für ganz Deutschland gibt es laut der BZgA nicht. Die Zahl die Lufen nennt, bezieht sich also nicht speziell auf den Lockdown oder das Jahr 2020 und ist außerdem nur ein Näherungswert.

Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Depressive

Durch den Lockdown soll es laut Lufen außerdem zehn bis 20 Prozent mehr Anfragen nach Therapieplätzen geben. Weder die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) noch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie können diese Zahlen bestätigen. Der Vorsitzende der DPtV, Gebhard Hentschel, beobachtet allerdings durchaus einen Anstieg. "Wir gehen davon aus, dass die Anfragen nach ambulanter Psychotherapie im Zuge der Pandemie gestiegen sind, insbesondere Kinder und Jugendliche sind zunehmend belastet", sagte Hentschel dem #Faktenfuchs. Konkrete Zahlen will die DPtV dazu in der nächsten Woche vorlegen, wenn die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung ausgewertet wurden.

Die Corona-Maßnahmen hatten zeitweise starke Auswirkungen auf Menschen mit einer Depression; auch das stellt Lufen in ihrem Video korrekt dar. Sie bezieht sich auf eine Studie der Stiftung Deutsche Depressionshilfe aus dem ersten Lockdown, in der deutlich wird: Jeder zweite Depressionskranke berichtete vom Ausfall wichtiger Behandlungstermine.

Daraus geht aber auch hervor, dass digitale Behandlungsangebote von deutlich mehr Leuten genutzt wurden als vor der Pandemie. Ulrich Hegerl, der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, geht allerdings nicht von einer deutlichen Zunahme von Neuerkrankungen aus. "Depressionen sind eigenständige Erkrankungen, weniger eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände, wie viele denken." Die Corona-Pandemie habe die medizinische Versorgung der Erkrankten zwar verschlechtert, sei aber eher selten Hauptursache für neue Depressionen. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie der Uni Mannheim.

Aus dem "Deutschland-Barometer Depression" geht außerdem hervor, dass Depressive nicht unbedingt mehr Angst haben, sich mit dem Coronavirus anzustecken als die übrige Bevölkerung (43 Prozent im Vergleich zu 42 Prozent), sie den Lockdown aber häufiger als belastend wahrnehmen (74 Prozent versus 59 Prozent).

Was ist an dem Video trotzdem problematisch?

Lufen führt also grundsätzlich richtige Zahlen an. Doch ihre Interpretation der Fakten ist problematisch - und anschlussfähig für Corona-Verharmloser. Im Video behauptet sie zum Beispiel: "es gibt Verbände, die haben Pressemitteilungen rausgegeben und es wurde gar nicht weiter publiziert." Das wird von Anhängern der "Querdenken"-Bewegung oft behauptet, für jeden der von ihr angesprochenen Aspekte gibt es jedoch eine Reihe an Berichten von großen Medien.

Lufen distanzierte sich in einem Gespräch mit der Journalistin Dunya Hayali nach der Veröffentlichung ihres Videos von den selbsternannten Querdenkern und der AfD, die ihr Video geteilt hatten. Sie stellte auch klar, dass sie mit ihrem Video kein "Entweder-oder-Denken" habe unterstützen wollen.

Trotzdem entspricht ihr Video einem unter Corona-Verharmlosern weitverbreiteten Narrativ: Die Argumentation, dass der Lockdown zu viele Opfer fordere, ist dort schon lange in vielen Facetten präsent. Zuletzt beschäftigte sich der #Faktenfuchs mit einer umstrittenen Stanford-Studie, die zu dem Ergebnis kam, Länder mit härterem Lockdown hätten keinen Vorteil im Vergleich zu Ländern mit leichteren Maßnahmen. Diese Aussagen sind pauschal so nicht haltbar. Mehr dazu hier.

Im Video sagt sie: "Dieser Lockdown war das falscheste, was wir hätten machen können, zumindest über einen so langen Zeitraum." Die Zahlen, die sie nennt, sind allein dafür allerdings keine Belege, weil sie sich erstens an vielen Stellen nicht einmal auf die Zeit des Lockdowns beziehen (zum Beispiel bei der Zahl der Magersüchtigen) und bei den Zahlen in ihrem Video nicht klar ist, wie stark sie von den Jahren davor abweichen.

Zudem lässt Lufen bei ihrer These außer Acht, welche Folgen in Deutschland diverse Alternativen zu den Lockdown-Varianten gehabt hätten. Es ist nicht möglich zu sagen, was genau ohne die Eindämmung und Prävention geschehen wäre; eine Studie der Goldman School of Public Policy an der Universität Berkeley in Kalifornien zum ersten Lockdown legt aber nahe, dass es zum Beispiel in Italien ohne Gegenmaßnahmen 49 Millionen zusätzliche Corona-Erkrankungen gegeben hätte.

Selbst mit eindämmenden Maßnahmen meldete das RKI wochenlang täglich rund 1.000 Corona-Tote in Deutschland. Eindämmende Maßnahmen wie der Lockdown sollen dazu dienen, Infektionsketten möglichst effektiv nachvollziehen zu können und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu gewährleisten.

Später im Video sagt Lufen außerdem: "Jedes Mal, wenn jetzt in den Nachrichten oder sonst wo wieder jemand sagt: Wir müssen nochmal ein bisschen die Zähne zusammenbeißen, dann ist es auch durchgestanden mit der Pandemie, hat irgendein Kind zuhause von seinem Vater die Faust im Gesicht, wird irgendeine Frau geschlagen, überlegt irgendein Jugendlicher in psychischer Not, ob er sich von der Brücke stürzt." Mit diesem Satz bringt sie ihre eigentlich korrekten Zahlen in einen direkten Zusammenhang mit dem Lockdown. Das ist aber zu kurz gegriffen. Denn es ist nicht so, als würden alle Probleme, die sie anspricht, durch ein Ende des Lockdowns gelöst. Dafür gibt es keine belastbaren Daten.

Auch im Netz sorgt dieser Fehlschluss für Kritik. Einige Betroffene beklagen in Reaktion auf Lufens Video, dass ihr Leid für Kritik an den Corona-Maßnahmen instrumentalisiert wird.

Fazit

Die Zahlen die Moderatorin Marlene Lufen in ihrem Video nennt, stimmen. Es fehlen aber Vergleichszahlen aus den Jahren ohne Lockdown - so dass ein direkter Zusammenhang, zwischen vielen der genannten Zahlen und dem Lockdown, wie Lufen ihn herstellt, nicht belegt ist.

Die Tatsache, dass sie den Lockdown letzten Endes für all diese Dinge direkt verantwortlich macht, ist allerdings zu kurz gegriffen und bedient das Narrativ von Corona-Verharmlosern. Für ihre Ausführungen zu psychischen Erkrankungen, Gewalt und Existenzangst während der Corona-Pandemie erhielt sie im Netz viel Applaus. Kritik kam unter anderem von Kranken, die sich instrumentalisiert fühlen.

17.02.2021, 11.25 Uhr: Nach dem Hinweis eines Lesers haben wir Überschrift und Teaser des Artikels geändert. Statt "#Faktenfuchs: Lufens Kritik am Lockdown ist zu kurz gedacht" und der Formulierung im Teaser "Warum ihr Appell zwar viele Fakten enthält, aber trotzdem kritisch zu sehen ist" heißt es nun: "#Faktenfuchs: Lufens Zahlen belegen ihre Schlussfolgerung nicht" und im Teaser "Warum ihr Appell zwar viele Zahlen enthält, sie diese aber irreführend einsetzt." Damit wollen wir deutlich machen, dass wir nicht kommentieren, sondern Fakten prüfen und diese bewerten.

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