Eine Kirche in Paraguay (Symbolbild)
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Fluchtroute Südamerika: Wie Priester der Justiz entzogen wurden

Priester, die im Verdacht des sexuellen Missbrauchs von Kindern standen, sollen nach Recherchen von "report München" und der spanischen Zeitung "El País" ins Ausland versetzt worden sein. Staatsanwaltschaften ihrer Heimatländer tappten im Dunkeln.

Über dieses Thema berichtet: report MÜNCHEN am .

Ans Licht kam alles durch einen Zufallsfund im Bistum Hildesheim: In einem alten Umzugskarton fand sich eine brisante Akte, die nie im offiziellen Bistumsarchiv gestanden hat. Antje Niewisch-Lennartz, die Obfrau der Aufarbeitungskommission des Bistums Hildesheim, entdeckte die Dokumente. Die ehemalige Richterin und Ex-Justizministerin Niedersachsens wertete die Akte eines geistlichen Missbrauchstäters aus und machte den Fall öffentlich.

Priester in den 60er-Jahren per Haftbefehl gesucht

Anfang der 60er-Jahre suchte die Staatsanwaltschaft einen Priester aus Süpplingen in Niedersachsen per Haftbefehl. Der Verdacht: Der Mann habe sich wiederholt an Jungen seiner Jugendgruppe vergangen. Doch die Ermittler tappten über Jahre im Dunklen, der Priester war nicht auffindbar. Er war in Südamerika untergetaucht. Hochrangige Kirchenpersönlichkeiten deckten ihn.

Einer der Köpfe dieser Aktion war Emil Stehle (1926-2017), ein renommierter Theologe. Dies belegen bisher geheime Kirchenakten. Stehle, der später als Bischof nach Santo Domingo de los Colorados in Ecuador entsandt wurde, war damals Leiter der "Fidei Donum"-Koordinationsstelle der Deutschen Bischofskonferenz und zuständig für die Missionierung in Lateinamerika.

  • Zum Artikel: Sexueller Missbrauch: Priester aus dem Klerikerstand entlassen

Involviert: Eine Stelle der Deutschen Bischofskonferenz

Antje Niewisch-Lennartz brachte den Fall ins Rollen: Durch Zufall stieß sie auf die Akte eines straffälligen Priesters aus Süpplingen. Die Unterlagen befanden sich in einem noch ungeöffneten Umzugskarton im Bistumsarchiv Hildesheim. Darin enthalten war auch ein Brief Stehles aus dem Jahr 1976, der sich konspirativ liest und skizziert, wie im Fall des Priesters weiter vorgegangen werden solle.

Unter anderem schlägt Stehle in dem Schreiben an den damaligen Bischof von Hildesheim, Heinrich Maria Janssen vor, "den hier nicht genannten Herrn anderenorts, und zwar nicht nur in einer anderen Diözese, sondern auch in einem Land einzusetzen. Ich darf im Sinn Ihres Briefes annehmen, dass Sie einverstanden sind, wenn ich Ihnen diesen neuen Einsatzort nicht bekannt mache und Sie Dritten gegenüber folglich auch keine Auskunft geben können.

Wissentlicher Entzug vor Strafermittlung?

Der Süpplinger Priester, dessen Klarname – laut Akten – aus offiziellen Kirchendokumenten getilgt wurde, lebte unbehelligt in Paraguay und wurde für seine Taten offenbar nie belangt. Die Finanzierung des Aufenthalts übernahm Adveniat, das bischöfliche Hilfswerk für Lateinamerika. Niewisch-Lennartz geht davon aus, dass die Verschickung kirchlicher Missbrauchstäter System hatte. "Aus der Weise, wie dieser Brief geschrieben ist, ergibt sich, dass das aller Wahrscheinlichkeit nach kein Einzelfall gewesen ist. Sondern dass da ein Verfahren beschrieben wird, wie man das eben macht, wenn man jemanden verschwinden lassen möchte", so Niewisch-Lennartz im "report München"-Interview.

Internationale Verbindungen

Recherchen von "report München" und der spanischen Zeitung "El País" zeigen, dass Stehle auch Priestern aus anderen Ländern dabei geholfen hat, der Strafverfolgung zu entkommen. So fand 1990 ein spanischer Priester aus Barcelona, gegen den ein Ministrant schwere Missbrauchsvorwürfe erhoben hatte, Unterschlupf in Stehles Bistum in Ecuador – er machte diesen sogar zu seinem Privatsekretär.

Briefe im geheimen Bistumsarchiv von Santo Domingo in Ecuador dokumentieren, dass es zuvor Absprachen auf höchster Ebene gegeben haben muss – zwischen dem entsendenden Bischof aus Barcelona, Ricardo Maria Carles, und Emil Stehle, damals Bischof von Santo Domingo de los Colorados. Ein weiterer Fall liegt aus Kolumbien vor. Nach Aussage des Bistums Cali in Kolumbien wurde ein Priester, gegen den mehrere Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen vorlagen, ebenfalls zu Stehle in sein Bistum nach Santo Domingo de los Colorados geschickt.

Aufarbeitung in Ecuador

Unter der Ägide des heutigen Bischofs von Santo Domingo de los Colorados, Bertram Wick, arbeitet das Bistum in Ecuador derzeit zehn Altfälle sexuellen Missbrauchs in der Diözese auf, die aus der Zeit Stehles und seines Nachfolgers stammen. Seit 2016 laufe die Aufarbeitung, so der juristische Vikar des Bistums, Padre Jorge Apolo: "Ein Priester floh aus Santo Domingo, wir wissen nicht, wo er sich befindet. Der andere Priester war zwar hier in Santo Domingo, aber er stammt aus Kolumbien. Dort sitzt er jetzt im Gefängnis."

  • Zum Artikel: "Münchner Missbrauchsgutachten: Kanzlei fordert weitere Schritte"

Bischof Emil Stehle – Vertuscher und Täter?

Bischof Emil Stehle selbst wird inzwischen ebenfalls des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Nach Recherchen von "report München" haben sich mehr als zehn Frauen bei kirchlichen Stellen gemeldet – das jüngste Opfer soll zum Tatzeitpunkt elf Jahre alt gewesen sein. Zwei von ihnen haben mit "report München" gesprochen.

Auf Anfrage von "report München" und "El País" teilte die Deutsche Bischofskonferenz mit: "Das von Emil Stehle gezeigte Verhalten ist in jeder Hinsicht verwerflich." Aktuell lasse man alle Dokumente der Koordinationsstelle "Fidei Donum" untersuchen – auf "Hinweise auf Fälle sexuellen Missbrauchs oder die Vertuschung sexuellen Missbrauchs". Die Ergebnisse könnten noch in diesem Monat vorliegen.

Die Sendung von "report München" läuft am 14. Juni um 21.45 Uhr im Ersten.

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