Der Ultra-Patriot im Moskauer Meschanski-Gericht
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Igor Strelkow auf der Anklagebank

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"Wut der Enttäuschten": Werden "Patrioten" für Putin gefährlich?

Nach der Festnahme des russischen Rechtsextremisten Igor Strelkow tobt eine Debatte um die aggressivsten Kriegsbefürworter. Ihr Potential wird auf bis zu 15 Prozent geschätzt - und könnte dem Kreml noch viele Probleme bereiten, auch an der Wahlurne.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die "zornigen Patrioten" Russlands empfehlen ihren Mitgliedern derzeit unerschrocken, ein Video mit dem Ruf "Freiheit für Strelkow!" ins Netz zu stellen, Plakate zu drucken und in den sozialen Netzwerken zu verbreiten: "Wenn wir uns nicht wehren, kann jeder russische Patriot der Nächste sein." Doch der Aufschrei der Massen blieb bisher aus. Igor Strelkow, langjähriger Ultra-Nationalist, Veteran, mutmaßlicher Kriegsverbrecher und in den letzten Monaten einer der aggressivsten Putin-Gegner, wird bis mindestens 18. September in Untersuchungshaft sitzen, hieß es von den Behörden. Offenbar hatte der Kreml mit ihm die Geduld verloren, nachdem er sich immer unverhohlener an Putin abgearbeitet und sogar dessen Rücktritt gefordert hatte: "23 Jahre lang stand an der Spitze des Landes ein Nichts, dem es gelang, einem bedeutenden Teil der Bevölkerung Staub in die Augen zu streuen." Der Präsident zeichne sich durch "feige Mittelmäßigkeit" aus, so Strelkow.

Mittelalter-Roman als Trostlektüre

Jetzt sitzt der lautstarke Fanatiker hinter Gittern, weigert sich, Menschenrechts-Aktivisten zu empfangen und liest nach eigenen Angaben Jewgeni Wodolaskins groß angelegten Roman "Rechtfertigung einer Insel", in dem es mystisch und übersinnlich zugeht. Thema ist unter anderem der Aufstieg und Fall von Imperien, während die unvergängliche Liebe gefeiert wird. Im Übrigen spielt eine geheimnisvolle "Prophezeiung" eine wichtige Rolle, auch Erzengel Gabriel hat einen Auftritt. In russischen Rezensionen wird das Buch mit Umberto Ecos Mittelalter-Krimi "Der Name der Rose" verglichen. Strelkow gefällt sich also in der Rolle des geistreichen Eremiten, der sich von der Welt abwendet und von der aktuellen russischen Politik angewidert ist.

Sein Schicksal hat eine erbitterte Auseinandersetzung um die Bedeutung der russischen "Ultra-Patrioten" ausgelöst, also derjenigen, die auf einen "totalen Krieg" setzen, um die Ukraine doch noch als Ganzes zu annektieren. Sie waren durch die Rebellion von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin ohnehin schon gespalten: Strelkow lehnte den Aufstandsversuch ab und schmähte Prigoschin nach Kräften. Nun, wo er selbst inhaftiert ist, rätseln die Experten über die politischen Folgen für das Regime.

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow veröffentlichte eine Statistik, wonach der Kreml die Zahl der aufrührerischen Patrioten derzeit auf vier Prozent der Gesamtbevölkerung beziffert, ihnen allerdings ein Potential bis zu 15 Prozent zubilligt. Die "Wut der Enttäuschten" gelte in der Regierungszentrale als erhebliches Risiko. Gleichzeitig werde die liberale Opposition auf zehn Prozent geschätzt, mit Luft nach oben bis zu 20 Prozent. Nach dieser Lesart müsste Putin also bei der Präsidentschaftswahl im kommenden März mit stürmischem Gegenwind eines großen Teils der russischen Wähler rechnen.

"Für viele wird es zu spät sein"

"Vor dem Hintergrund eines verfallenden Regierungssystems und in einer Situation, in der sich die Kräfteverhältnisse im Ukraine-Konflikt sehr langsam, aber unwiderruflich in eine ungünstige Richtung verschieben, klingen Strelkows Aufrufe, den Konflikt durch Sofortmaßnahmen noch zu wenden, ohne die bestehende Ordnung zu ändern, nicht nur für die breite Öffentlichkeit, sondern auch für diejenigen, die ihn unterstützen, immer weniger überzeugend", meint der als "ausländischer Agent" gebrandmarkte Blogger Boris Kagarlitzky. Er ist überzeugt, dass das patriotische Lager ohne Führungspersönlichkeit und Perspektive demoralisiert und desorientiert zurückbleiben wird: "Das Bewusstsein für die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft wird zweifellos diejenigen einholen, die versuchen, durch Wort und Tat die Situation im Land zu ändern, aber ich vermute, dass es für viele zu spät sein wird."

Journalist Gleb Tscherkassow schreibt in der russischen Ausgabe von "Forbes": "Die Macht demonstriert deutlich ihre Alleinstellung, wenn es um politische Initiativen geht. Wenn einige Anregungen und Parolen [der Patrioten] in die Praxis umgesetzt wurden, ist es für diejenigen, die sie ursprünglich vorgeschlagen haben, besser, nicht an ihre Urheberschaft zu erinnern." Putin halte sich an die Logik, dass jeder, der ihm reinreden wolle, wissentlich oder unwillkürlich zum "Kontrollverlust" und damit zu einer Schwächung der Macht beitrage, was "völlig inakzeptabel" sei. Ernsthafte Akteure im Kreml stünden wohl nicht hinter Strelkow, er sei allerdings deutlich mehr als ein "gewöhnlicher Blogger" gewesen.

"Sie führen Krieg wie Drogensüchtige"

Politologe Wladimir Pastuchow vom University College in London mutmaßt, dass sich Putin mit der "Säuberungsaktion" in den Kreisen der Patrioten politische Freiräume schaffen will für einen möglichen Waffenstillstand: "Wenn der Kreml wirklich über eine vorübergehende Atempause auf Kosten der Interessen dieser Kriegsfanatiker nachdenkt, dann würde Strelkow wirklich zu einer äußerst unbequemen Figur, die besser vorübergehend vom Schachbrett entfernt werden sollte." Die Nationalisten seien mit Abhängigen vergleichbar: "Sie brauchen ein Gefühl der eigenen Größe, das für sie zu einer historischen Droge geworden ist. Sie führen diesen Krieg wie Drogensüchtige: Je höher die Dosis, desto stärker die Sucht. Dieser Patriotismus ist wie eine echte Drogensucht: Man kann ihn nicht loswerden, aber man kann ihn unter Kontrolle halten und aktiv eine Substitutionstherapie anwenden."

Zu den solchermaßen "Süchtigen" gehört zweifellos der "Kreml-Hausphilosoph" Alexander Dugin, der behauptet, "unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre jeder Frieden für Russland eine Schande und eine Kapitulation". Jedes Einlenken sei "selbstmörderisch", so Dugin, der klingt wie NS-Propagandisten in der Endphase des Hitler-Regimes: "Auf der Uhr der Geschichte hat jetzt die Stunde der Patrioten geschlagen. Es kann nicht anders sein. Und Putins Wiederwahl – als Symbol seiner landesweiten Unterstützung (obwohl es sie auch ohne Wahlen gäbe) – kann nur auf der Welle des hohen, entschlossenen und klar definierten Patriotismus, der russischen Idee, erfolgen. Pragmatismus funktioniert nicht, wenn der Atem der Geschichte selbst spürbar wird. Das ist heute der Fall. Russland erwacht. Und niemand kann es aufhalten."

"Patrioten sollten sich auf die Zunge beißen"

Für den Politologen Sergej Wolkow gehören die "glühenden Patrioten" zu den gefährlichsten Bürgern Russlands, jedenfalls aus Sicht des Kremls. Putin sei in erster Linie an der "Selbsterhaltung des Systems" interessiert, auch um den Preis möglicher außenpolitischer "Demütigungen", die Nationalisten dagegen träumten von der Wiederherstellung des Zarenreichs: "Patrioten jeglicher Couleur – nationalistische, imperiale und sogar nationalbolschewistische – sollten sich also darauf vorbereiten, sich auf die Zunge zu beißen und zu schweigen, wenn die Ergebnisse des Waffenstillstands bekannt gegeben werden, der, wenn er zustande kommt, sicherlich keinem von ihnen gefallen wird."

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