Die Minuteman Missile National Historic Site in Wyoming, USA.
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Die USA haben eines der größten Arsenale an nuklearen Sprengköpfen. Hier zu sehen: die Minuteman Missile National Historic Site in Wyoming, USA.

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Sicherheitsexperte: "Es gibt keine taktischen Nuklearwaffen"

Atomwaffen – sichern sie den Frieden oder bergen sie unkontrollierbare Risiken? Der Nuklearexperte Dylan Spaulding verweist im BR24-Gespräch auf die Gefahren atomarer Rüstung. Jeder Einsatz habe weitreichende Folgen.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Robert Oppenheimer, US-amerikanischer Physiker, gilt als Vater der Atombombe. Regisseur Christopher Nolan erzählt die Geschichte des Mannes, "der die Zerstörung der Welt riskieren musste, um sie zu retten" in einem dreistündigen Hollywoodfilm. Die Frage, ob die Erfindung der Atombombe die Rettung oder der unausweichliche Untergang der Menschheit sein würde, hat auch wieder vor dem Hintergrund der nuklearen Drohungen Russlands im Krieg gegen die Ukraine neue Relevanz erhalten.

Für das neue "Possoch klärt" hat BR24 mit Dylan Spaulding gesprochen. Er ist leitender Wissenschaftler im Global Security Program der Union of Concerned Scientists in den USA.

BR24: Wie wichtig war die Erfindung der Atombombe wirklich?

Dylan Spaulding: Es wird oft gesagt, sie habe den Zweiten Weltkrieg beendet. Das ist fraglich. Es gibt neue Erkenntnisse, dass Japan kurz davorstand, zu kapitulieren. Es gibt auch viele Bedenken, ob die Atombombe gegen irgendein anderes Ziel außer Deutschland hätte eingesetzt werden sollen.

Viele der Wissenschaftler, die im Manhattan-Projekt die Atombomben entwickelten, taten das, weil sie Angst davor hatten, Deutschland würde dasselbe tun. Dass dann der Krieg in Europa endete, bevor die amerikanische Bombe fertig war, wirft schon die Frage auf: Was hat sie wirklich zum Ende des Zweiten Weltkriegs beigetragen?

"Moderne Nuklearwaffen viel gefährlicher"

BR24: Wie sehr haben sich moderne Nuklearwaffen im Vergleich zu den beiden Atombomben, die im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden, verändert?

Spaulding: Moderne Atomwaffen sind viel fortschrittlicher als die Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurden. Die waren ehrlicherweise recht primitiv, sie waren natürlich immer noch eine Meisterleistung der Ingenieurskunst für ihre Zeit. Aber moderne Nuklearwaffen haben eine Reihe von Features, um sie sicherer zu machen im Umgang, auch was Übergriffe durch Terroristen angeht oder falls mal ein Unfall passiert, dass sie nicht hochgehen, wenn sie das nicht sollen.

Die Trägersysteme im speziellen sind viel fortschrittlicher geworden und da liegt auch die wahre Bedrohung: Wir können jetzt Nuklearwaffen viel präziser abfeuern, mit einer Sprengkraft, die je nach Bedarf eingestellt werden kann. Das Militär kann entscheiden, wie groß die Detonation sein soll und kann so die Waffe einstellen. Das macht sie viel gefährlicher, weil sie jetzt in viel mehr Szenarien einsetzbar sind.

Im Video: Ist die Atombombe die Rettung oder der Untergang der Menschheit? Possoch klärt!

"Es gibt keine taktischen Atomwaffen"

BR24: Im Gefechtsfeld würden, wenn überhaupt, sogenannte taktische Nuklearwaffen eingesetzt. Was könnten diese heutzutage anrichten?

Spaulding: Es wird viel über taktische Nuklearwaffen gesprochen wegen des Kriegs gegen die Ukraine. Tatsache ist: Es gibt keine taktischen Nuklearwaffen. Man unterscheidet nach Trägersystemen, also: Womit werden sie abgefeuert? Wenn jemand von taktischen Nuklearwaffen spricht, meint er Waffen auf dem Schlachtfeld, die auf relativ kurzer Distanz eingesetzt werden und mit anderen Raketen als Interkontinentalraketen abgefeuert werden. Der Schaden, den sie anrichten können, ist aber auf jeden Fall vergleichbar.

In beiden Fällen gibt es Strahlung. Die Sprengkraft, die wir heutzutage auf dem Schlachtfeld einsetzen würden, kann die Sprengkraft der Bombe, die in Hiroshima eingesetzt wurde, um ein Vielfaches übersteigen. Das ist also eine falsche Unterscheidung, manche Atomwaffen als taktisch zu bezeichnen und damit den Eindruck zu erwecken, sie seien weniger gefährlich oder leichtfertiger eingesetzt.

BR24: Wie schwierig ist das eigentlich, eine Atombombe zu bauen?

Spaulding: Es ist sicherlich eine technische Herausforderung, aber wie sie gebaut werden muss, ist durchaus bekannt. Das ist auch etwas, was den Wissenschaftlern vom Manhattan-Projekt bewusst war: Wenn die Bombe eingesetzt wird, dann wird ihre Anleitung auch veröffentlicht. Da ist also die Büchse der Pandora geöffnet worden.

Wir haben heute neun Nuklearmächte auf der Welt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs gab es nur eine. Im Kalten Krieg hauptsächlich zwei, Russland und die USA. Jetzt sehen wir Indien, Pakistan, Nordkorea Nuklearwaffen entwickeln. Vielleicht ein wenig einfacher im Design, aber natürlich genauso gefährlich.

Grafik: Anzahl der nuklearen Sprengköpfe (Top 3)

Bildrechte: SIPRI/Statista 2023; Grafik: BR24
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Russland hat das größte Arsenal an nuklearen Sprengköpfen - dicht gefolgt von den USA. China will bis 2035 auf 1.500 Sprengköpfe kommen.

Roter Knopf ist Hollywood, Realität ist "alleinige Autorität"

BR24: In Filmen sieht man häufig einen roten Knopf, den der US-Präsident drückt, um einen Atomschlag auszuführen. Wie ist es wirklich?

Spaulding: Es gibt verschiedene Ebenen der Authentifizierung, wenn der Präsident entscheidet, eine Nuklearwaffe einsetzen zu wollen. Aber in den USA haben wir etwas, das wir alleinige Autorität nennen. Das heißt: Der Präsident allein entscheidet, Nuklearwaffen einzusetzen, und es braucht keine zweite Autorisierung eines anderen Menschen. Der Präsident könnte alleine einen Abschuss befehlen.

In anderen Ländern gibt es keine alleinige Autorität. Da gibt es eine Befehlskette von mehreren Menschen in einer bestimmten Reihenfolge, die dem Angriff zustimmen müssen. In den USA haben wir immer noch alleinige Autorität. Was einen schon beunruhigen kann: Das Schicksal eines Dritten Weltkriegs, das in den Händen einer einzelnen Person liegt.

BR24: In den USA ist es so geregelt, weil es unter Umständen sehr zeitkritisch ist.

Spaulding: Das ist richtig, es bleibt sehr wenig Zeit, um zum Beispiel auf herannahende Raketen zu reagieren, abhängig davon, wann sie erkannt werden und wie schnell sie fliegen.

Es stand in der Vergangenheit schon häufig kurz davor: Es gab Fehlalarme und falsch verstandene Signale, bei denen man dachte, es seien herannahende Raketen. Gott sei Dank war man in diesen Fällen sowohl auf russischer als auch auf US-Seite so vorsichtig, dass man keinen vermeintlichen nuklearen Vergeltungsschlag ausgeführt hat. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht trotzdem eine Befehlskette haben könnte, dass zumindest zwei oder drei Menschen in diese Entscheidung eingebunden sind.

Neues atomares Wettrüsten ab 2026?

BR24: Russland hat im Zuge des Ukraine-Kriegs oft mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht. Wie viele der 5.889 russischen Sprengköpfe sind aber wirklich noch funktionsfähig?

Spaulding: Russland hat das größte Arsenal an nuklearen Sprengköpfen, fast gleichauf mit den USA. Es gibt jeden Grund, zu glauben, dass sie auch funktionieren. Im Zuge des Vertrags über die Reduzierung von Nuklearwaffen zwischen den Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation, genannt "New START", haben sich beide Seiten dazu verpflichtet, die Anzahl ihrer Sprengköpfe auf 1.550 zu begrenzen.

Dieser Vertrag wird – auch wegen der Situation in der Ukraine – 2026 auslaufen. Und es sieht nicht danach aus, dass er erneuert wird. Es kann also sehr gut sein, dass wir ab 2026 wieder ein Wettrüsten haben, eine steigende Anzahl an nuklearen Sprengköpfen auf beiden Seiten. Eine Vielzahl von Organisationen arbeitet daran, das zu verhindern, meine eingeschlossen, die "Union of Concerned Scientists".

Im Audio: Dylan Spaulding über den Einsatz der Atombombe

Dylan Spaulding, leitender Wissenschaftler im Global Security Program der Union of Concerned Scientists.
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Dylan Spaulding, leitender Wissenschaftler im Global Security Program der Union of Concerned Scientists.

"Nuklearwaffen sind schlecht, egal, in wessen Händen sie sind"

BR24: Sollte uns eine Nuklearmacht besonders Sorge bereiten? Unwillkürlich würde man wohl schnell an Nordkorea denken?

Spaulding: Nun, Indien und Pakistan haben beide Nuklearwaffen. Auseinandersetzungen um Kaschmir zum Beispiel könnten bis zur Androhung eines Atomkriegs eskalieren. Das kann beunruhigend sein. Aber das ist auch so eine Art imperialistische Sicht auf die Frage: Wer sollte Nuklearwaffen haben und wer sollte keine haben. Wir sagen: Der gute Nachbar sollte sie haben, der böse nicht. Tatsache ist: Sie sind schlecht, egal, in wessen Händen sie sind.

Ich denke, es ist unfair, zu sagen: Wir sollten vor diesem Land mehr Angst haben als vor einem anderen. Die Nuklearwaffen der USA zum Beispiel stellen auch eine globale Gefahr dar.

Das einzig sichere Szenario: eine Welt ohne Atomwaffen?

BR24: Einen Atomkrieg kann man nicht gewinnen. Fallen wir auf die Atomdrohung herein, weil niemand einen solchen Krieg anfangen würde?

Spaulding: Das ist paradox, oder? Das ist das Wesen der Abschreckung, dieser Glaube: Wenn wir Nuklearwaffen haben, dann sind wir unbesiegbar oder können nicht bedroht werden. Aber natürlich in einer Gemengelage, wo es mehrere Nuklearmächte gibt, dann wird die Sache viel komplizierter.

Ich denke nicht, dass wir da den Atommächten auf den Leim gehen. Diese Waffen stellen eine Bedrohung dar, egal, wo sie sind. Ich denke, dass die Menschen, die für sie verantwortlich sind, eine Bedrohung darstellen, egal ob sie rational handeln oder nicht. Man könnte sich sicher ein Szenario vorstellen, in dem ein Einsatz von Nuklearwaffen nicht direkt in einen globalen Krieg führt, wo eine eingesetzt wird und mehr nicht. Aber das würde enorme Zurückhaltung verlangen und der Schaden wäre trotzdem angerichtet.

Das nukleare Tabu wäre gebrochen und das würde einen weiteren Einsatz in der Zukunft viel wahrscheinlicher machen, dass ab dann taktische Nuklearwaffen mit geringerer Sprengkraft in Kriegsszenarien eingesetzt werden. Ich glaube also wirklich, das einzig sichere Szenario ist eine Welt, in der Nuklearwaffen überhaupt nicht existieren.

BR24: Danke für das Gespräch.

Hinweis: Das Interview wurde auf Englisch geführt.

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