Kompassnadel, die auf das Wort "Werte" zeigt.
Bildrechte: picture alliance / Zoonar | DesignIt

Kalibrieren, Justieren, oder Scharfstellen: Mit einem Wertekompass lässt sich offenbar so einiges anstellen.

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Wertekompass - woher kommt eigentlich dieser Begriff?

Derzeit verweisen Politiker unterschiedlichster Couleur wieder regelmäßig auf einen 'Wertekompass', der entweder der jeweiligen Konkurrenz fehlt, oder sie selbst in ihrem Handeln anleitet. Woher stammt dieses Wort und warum ist es so präsent?

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Ihr Wertekompass sei "total kaputt", beschied der Linken-Bundesvorsitzende Martin Schirdewan vor wenigen Tagen der CDU, nachdem sie unter anderem mit den Stimmen der AfD einen Steuersenkungsbeschluss im Thüringer Landtag durchgebracht hatte. Der thüringische CDU-Fraktionsvorsitzende Mario Voigt wiederum hatte zuvor im Interview mit den ARD-Tagesthemen für seine Partei reklamiert: "Unser Wertekompass ist klipp und klar."

Der Begriff "Wertekompass" hat in den vergangenen Jahren im politischen Geschäft eine steile Karriere gemacht: Katharina Schulze, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bayerischen Landtag, attestierte 2021 Annalena Baerbock, über einen "inneren Wertekompass" zu verfügen. Die deutsche Außenministerin ihrerseits gab 2022 bekannt, ihr Ziel sei es, Außenpolitik "mit einem klaren und festen Wertekompass in der Hand" zu gestalten. Im selben Jahr attackierte Marie-Agnes Strack-Zimmermann als Verteidigungspolitikerin der FDP jene Künstler, die sich kritisch zur deutschen Unterstützung der Ukraine im russischen Angriffskrieg äußerten, mit den Worten: "Wer sich durch einen Krieg 'belästigt' fühlt, sollte seinen Wertekompass ganz unkreativ mit dem Hammer geraderücken!“

Kein Navigationsinstrument scheint derzeit gefragter zu sein als der Wertekompass. Zeit also, historische Wurzeln und Werdegang dieses Wortes genauer zu ergründen.

Söder sprach schon 2005 vom "Wertekompass"

Seit dem Jahr 2000 ungefähr, so zeigt eine von Linguisten erstellte Verlaufskurve, erfreut sich der Begriff "Wertekompass" stark wachsender Beliebtheit. In der Tat findet man erstaunliche viele Beispiele im deutschsprachigen Raum – und hier gerade in der politischen Sphäre. 2005 bereits, da war er noch CSU-Generalsekretär, sagte Markus Söder der "Berliner Zeitung": "Wir brauchen einen Wertekompass, damit wir unser Land wieder nach vorne bringen."

2015 etwa dekretierte Thorsten Schäfer-Gümbel von der SPD: "Politik mit Haltung macht man mit klarem Wertekompass und nicht nach Umfragen." Anton Hofreiter von Bündnis 90/Die Grünen schrieb 2016 im Vorwort zu seinem Buch "Fleischfabrik Deutschland. Wie die Massentierhaltung unsere Lebensgrundlagen zerstört und was wir dagegen tun können": "Wir brauchen einen neuen Wertekompass für unsere Lebensmittelproduktion." Und 2020, als in Thüringen mit Thomas Kemmerich ein FDP-Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD gewählt und dann kurz darauf wieder zurückgetreten war, twitterte Christian Lindner, der FDP-Bundesvorstand habe "unseren Wertekompass bestätigt", um dann in der "Bild am Sonntag" festzustellen: "Unser Wertekompass ist intakt."

Auch AfD-Politiker nehmen für sich in Anspruch, einen Wertekompass zu haben. So fragte 2021 eine Online-Veranstaltung der AfD-Kreistagsfraktion Erding mit dem Breisgauer Kreis- und Gemeinderat Volker Kempf nicht nur nach einer "enkeltauglichen Wirtschaft", sondern auch nach einem "humanistischen Wertekompass".

Und Walter Schnell, Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler im Bezirkstag Mittelfranken, bestand 2020 inmitten der Corona-Pandemie bei allen Unwägbarkeiten – "Das Gefüge wackelt." - darauf: "In unserem Wertekompass ist der Schutz des Lebens das höchste Gut." Festzuhalten bleibt: Mit dem Wertekompass wird parteienübergreifend hantiert.

Man kann ihn kalibrieren, justieren, scharf stellen

Auch Unternehmensberater haben derweil erkannt, dass das angenehm unscharfe, aber unerschütterliche ethische Normen und eiserne Prinzipientreue zum Ausdruck bringende Wort sich in jeder Firmenphilosophie gut macht. Und so wimmelt es im Netz von Anleitungen zum Neu-Justieren oder "Kalibrieren" des eigenen Wertekompasses. Die Bundeswehr entwarf 2022 in einem Video zur besseren "geistigen Führung" sogar einen Kompass mit den Werten "Mut", "Tapferkeit", "Vertrauen" und "Disziplin" anstelle der vier Himmelsrichtungen, mit dem es sich zu orientieren gelte im unübersichtlichen Gelände, in dem man den Anfechtungen von Populismus, Extremismus, Fake-News, Rassismus, Diskriminierung und der Missachtung des Grundgesetzes ausgesetzt ist.

Nachdem Angela Merkel Zeit ihres politischen Wirkens stets auf ihren "christlichen Wertekompass" verwiesen hatte, wenn sie danach gefragt wurde, was ihr Handeln leiten würde, forderte auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2017 der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen angesichts der Übermacht digitaler Plattformen und der darauf waltenden rauen Umgangsformen: "Es gibt keinen Algorithmus für Nächstenliebe. Der eigene Wertekompass muss scharfgestellt werden. Das geschieht durch Bildung." Andernorts hielt er den "präzise eingestellten Wertekompass" für "nötig in einer Zeit, wo alle zu Sendern geworden sind".

Wie der "Moral Compass" zu uns kam

Es ist alles andere als ein Zufall, dass die US-amerikanische Bestseller-Autorin Danielle Steel 2020 einen Bildungsroman des Titels "Moral Compass" vorlegte. Im angloamerikanischen Sprachraum ist der "Wertekompass" schließlich schon viel länger gebräuchlich als hierzulande. Die heute vollkommen vergessene britische Schriftstellerin Anna Maria Porter soll die erste gewesen sein, die 1822 in ihrem Roman "Roche-Blanche Or The Hunters of the Pyrenees" das Wort verwendete ("... while blowing opposite arguments from every point of the moral compass ...").

Wenige Jahre später hat es ein ungleich berühmterer Schriftsteller-Kollege von ihr ebenfalls benutzt: Charles Dickens in seinem Roman "Leben und Abenteuer des Martin Chuzzlewit" (1843). In einer frühen deutschen Übersetzung ist von den "hervorragenden Eigenschaften" einer Figur die Rede, die "sich dem schleichenden Viertel des moralischen Compasses zuzuneigen schienen". Es ist ein weiter Weg von da bis zum 2017 erschienenen Buch "Gerechte Freiheit" des irischen Philosophen und Politikwissenschaftlers Philip Pettit, aber dieses Werk versteht sich seinem Untertitel zufolge als "Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt".

Aus dem literarischen Feld ist das Wort in den allgemeinen Sprachschatz eingewandert. Besonders sprachsensible Zeitgenossen wie etwa der Schriftsteller Michael Kleeberg lassen es heute wieder in ihre Romane einfließen. In Kleebergs jüngstem, "Dämmerung", soeben erschienen, ist vom "ethischen Kompass" der Hauptfigur die Rede. Einmal gesteht sie sich selbst ein: "Ich fühle mich manchmal wie ein Seefahrer, der seinen Kompass verloren hat." So findet eine Metapher, die einst Romanen entsprungen ist, wieder in ihr angestammtes Terrain, die Fiktion, zurück.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!