Autor Tuvia Tenenbom mit roter Brille, schwarzem Hemd und roten Hosenträgern vor einem Mikrofon
Bildrechte: Kulturzentrum der. IKG München & Obb. Foto: A. Schmidhuber

Tuvia Tenenbom bei seiner Buchvorstellung im Jüdischen Gemeindezentrum München

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Von Ultraorthodoxen lernen? Das neue Buch von Tuvia Tenenbom

Tuvia Tenenbom ist in einem orthodoxen Viertel Jerusalems aufgewachsen. Man prophezeite ihm eine Zukunft als Rabbi – doch er wurde Journalist in New York. Jetzt ist er in die Welt der Orthodoxen zurückgekehrt und hat ein Buch darüber geschrieben.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Breite Hosenträger, rote Brille, die Statur eines freundlichen Bären: Tuvia Tenenbom ist nicht der Typ, den man leicht übersieht. Und trotzdem versteht er sich sehr gut aufs Beobachten. In seinem neuen Buch "Gott spricht Jiddisch" findet sich die Selbstauskunft: "Ja, ich bin ein leidenschaftlicher Leute-Beobachter. Ich bin der Sohn toter Juden, der Enkel verbrannter Juden und sehe sehr gerne lebendige Leute. Gibt es daran etwas auszusetzen?"

Ganz im Gegenteil. Die Menschen schätzen seine Art der Beobachtung. Seine Ausdauer und seinen Witz, mit denen er in ihm fremde Gesellschaften eintaucht. Aus seinen Selbstversuchen entstanden Bestseller wie "Allein unter Deutschen" (2012), "Allein unter Amerikanern" (2016) oder "Allein unter Flüchtlingen" (2017).

"Die Wahrheit ist, dass ich nicht viel über die Welt weiß"

Diesmal ist einiges anders. Tuvia Tenenbom kehrt zurück in die Welt seiner Kindheit, die Welt der ultraorthodoxen Juden in Israel. Mit einem Bekenntnis: "Die Wahrheit ist, dass ich nicht viel über die Welt weiß, die ich hinter mir gelassen habe." Der Satz ist erstaunlich für jemanden, der 14 Jahre in dieser Gemeinschaft gelebt hat.

Andererseits: Tuvia Tenenbom hat sie in voller Absicht hinter sich gelassen, hat ein anderes Leben gesucht und gefunden. Freier, mit weniger Regeln und mehr Möglichkeiten. Bis, so beschreibt Tenebom das, bis die Möglichkeiten weniger und die Regeln mehr geworden sind – selbst in einer so liberalen Stadt wie seiner Heimat New York. Und so hat er sich aufgemacht nach Jerusalem, ins Viertel Mea Schearim, in dem so viele ultraorthodoxe Juden leben wie nirgendwo sonst auf der Welt.

"Als würde Gott dort spazieren gehen"

"Es ist, als würde Gott dort spazieren gehen", sagt Tenenbom im Interview mit dem BR. "So fühlt es sich an. Und die Spiritualität ist an jeder Ecke sichtbar. Es ist verblüffend, großartig – und es ist ganz anders, als ich es erwartet habe."

Noch immer, so berichtet Tuvia Tenenbom, der sein Buch am Montag in der Israelitischen Kulturgemeinde in München vorstellte, gelten strenge Regeln für das Leben in der Gemeinschaft. Frauen dürfen kaum mehr als ihre Unterarme zeigen. Männer sollen keine andere Frau als ihre eigene ansehen. Die Lebensaufgabe der Männer: die heiligen Schriften studieren. Weshalb sie meistens nicht arbeiten – und nur selten in der israelischen Armee dienen. Eine fremde Welt. Tuvia Tenenbom hat einen Schlüssel zu ihr. Er spricht ihre Sprache: Jiddisch.

Der Schock des 7. Oktober

Und so durchstreift er viele Tage lang die Welt der Ultraorthodoxen. Und folgt dabei einer Hypothese: "Die Welt außerhalb Mea Schearims hat sich verändert und vielleicht ja auch Mea Schearim selbst." Immer neue Menschen laden ihn ein, stellen sich seinen Fragen, essen, feiern, trinken und trauern mit ihm. Und dann: der 7. Oktober, der Terrorangriff der Hamas. Ein Samstag und ein Feiertag in Mea Schearim. Ein Tag ohne Radio und Handy für die Ultraorthodoxen. Trotz Sirenen und Explosionen über Jerusalem. Tenenbom wird zum Boten aus der digitalen Welt: "Ich habe ihnen erzählt, was ich gesehen habe. Die erste Reaktion war: Was die Hamas uns antut, das haben die Nazis unseren Großeltern angetan. Sie haben sich sofort an den Holocaust erinnert. Und dann sagten sie: Wir sind alle Juden."

Wir sind alle Juden: Dieser Satz überwindet die Kluft zwischen den Ultraorthodoxen in Jerusalem und den Liberalen in Tel Aviv. An diesem Tag, so beobachtet es Tuvia Tenenbom, sind die Ultraorthodoxen die ersten, die ihn aussprechen. Mit ihrer Solidarität und ihrem Zusammenhalt haben sie ihn schon vorher beeindruckt: "Jede Familie in der Gemeinschaft hat am Freitagabend ein Festmahl auf dem Tisch: Gefillte Fisch, Huhn, Kugels, Kuchen, Süßigkeiten und mehr. Denn auch wenn Sie arm sind: irgendjemand wird Ihnen etwas zu Essen vor die Tür stellen."

Die Offenheit des Beobachters

Tuvia Tenenbom öffnet Türen. Mit viel Humor, in unzähligen Anekdoten erzählt er von einer Welt, die erst einmal nicht viel von sich preisgibt. Die harsch kritisiert und in Frage gestellt wird, gerade von Aussteigerinnen wie zuletzt Deborah Feldman.

Tenenbom sieht vor allem die guten Seiten der ultraorthodoxen Welt: "Hier ist der einzige Ort auf Erden, wo niemand mich hasst, weil ich ein Jude bin", schreibt er in seinem Buch. "Aber ich bin nicht bereit, das Judentum dafür so sehr zu missachten, dass ich mich Gottersatz-Rabbis beuge und unterwerfe."

Die Schwäche seiner Reportage ist gleichzeitig ihre Stärke. Es ist die Offenheit des Beobachters, der damit sein Gegenüber zur Offenheit bringt. Und uns so die Tür in die Gemeinschaft der ultraorthodoxen Juden ein Stück weit öffnet.

"Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen" von Tuvia Tenenbom ist in der Übersetzung von Michael Adrian bei Suhrkamp erschienen.

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