Israelische Soldaten fahren in einem Panzer an der Grenze zum Gazastreifen. Foto: Ariel Schalit/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Ariel Schalit

Israelischer Panzer an der Grenze zum Gaza-Streifen

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Zerschlagen? Kooperieren? Vom schwierigen Umgang mit der Hamas

Kann es mit der Hamas künftig eine Koexistenz geben? Das schließt nicht nur Israel aktuell völlig aus. Der Nahostexperte Joseph Croitoru hat sich die Hamas in seinem neuen Buch genauer angeschaut und hält es für möglich.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober führt Israel Krieg gegen die Hamas. Premier Netanjahu spricht immer wieder wörtlich vom totalen Sieg: Der Hamas soll so ein Schlag versetzt werden, dass sie sich davon nicht wieder erholt. Selbst scharfe Kritiker von Benjamin Netanjahu sagten nach dem Terror vom 7. Oktober: "Die Hamas muss weg", so etwa Eva Menasse am 3. November in der Zeit [externer Link].

Koexistenz mit der Hamas?

Doch schon früh meldeten sich Skeptiker mit Zweifeln, wie die Zerschlagung der Hamas durchgeführt werden kann: "Selbst wenn dies der schlimmste Angriff aller Zeiten auf die Hamas wird: Du kannst eine Idee nicht töten", sagte Benzi Sanders. Der ehemalige Soldat der israelischen Armee leitet heute in Jerusalem die Nichtregierungsorganisation Extend. Israels Armee könne und müsse die Hamas militärisch schwächen und ihrer Führung in Gaza vorerst ein Ende setzen, sagt Hamas-Experte Michael Barak in der Morgenpost. "Dass die Hamas vernichtet werden kann, ist aber Wunschdenken".

Angesichts der drohenden Hungersnot und der immensen Zahl von Opfern unter den Zivilisten in Gaza wird die Kritik an der israelischen Kriegsführung immer lauter. Der Historiker und Nahostexperte Joseph Croitoru hat jetzt in einem neuen Buch über die Hamas nahegelegt, dass die Hamas auch in Zukunft eine Rolle in Gaza spielen wird.

Im BR-Interview räumt Croitoru ein, dass der Gedanke einer Einbeziehung der Hamas in die künftige Gaza-Politik "für viele schwer erträglich sein mag, aber Israel hat all die Jahre eine Art Koexistenz mit der Hamas im Gazastreifen gehabt. Da wurde gar nicht infrage gestellt, dass man mit der Hamas über Vermittler auch verhandelt und Lösungen ad hoc, also für bestimmte Krisen oder kriegerische Auseinandersetzungen, findet". Insofern wäre das kein Novum, wenn die Hamas im Gazastreifen wieder zumindest an der Macht beteiligt wäre, sondern eine Fortsetzung einer Situation, die fast zwei Jahrzehnte gedauert habe.

Dabei hat er die gesamte Bewegung der Hamas im Auge. Die bestehe im Grunde aus drei Segmenten, so Croitoru : "Das ist einmal dieses soziale Netzwerk, mit Moscheen, mit angeschlossenen medizinischen Einrichtungen, mit Schulen. Dann komme die politische Ebene, und es gibt eine Führungsebene mit verschiedenen Gremien. Diese Gremien sitzen nicht nur in den Palästinensergebieten, sondern teilweise auch im Ausland. Und dann kommen noch hinzu die Milizen der Hamas".

Und, so betont er, die bestünden nicht nur aus den Kassam-Brigaden, also dem eigentlichen militärischen Arm, sondern aus weiteren Sicherheitsdiensten und der Polizei. Diese, auch das Soziale und Politische umfassende Macht habe die Hamas seit ihrer politischen Machtübernahme 2007 im Gazastreifen systematisch ausgebaut.

Eine feste Anhängerschaft

Israel hat Gaza 1967 im Sechstageskrieg erobert und bis 2005 besetzt. Doch bereits unter der Besatzung der Israelis agierten dort die islamischen Muslimbrüder, aus denen sich die Hamas 1987 als Organisation formierte. Israel habe die Aktivitäten dieser Vorläufer der Hamas geduldet, um sie gegen die PLO auszuspielen, sagt Croitoru im BR-Interview "Die Israelis wollten gerne eine Konkurrenz zur säkularen Widerstandsbewegung, zum Beispiel der Fatah", die schon damals die Hauptorganisation in der palästinensischen PLO war.

Diese lange zurückreichende Einflussnahme auf die Bevölkerung habe die Hamas durch die gewaltsame Machtübernahme des Gazastreifens von 2007 ausbauen können. Durch die Vernetzung der Moscheen, der Schulen, Behörden und eigenen Medien mit der politischen Bewegung habe die Hamas in Gaza "eine feste Anhängerschaft aufbauen" können und in Gaza "eine Art Semistaat" nach ihrer Vorstellung errichtet.

Aufruf zur Vernichtung

Damit führt Croitoru zu dem Gedanken, dass in Zukunft auch irgendwann mit der Hamas eine Zweistaaten-Lösung zu erreichen sei. Das allerdings scheint aktuell nach diesem traumatischen Terror vom 7. Oktober und den Verheerungen und über 30.000 Opfern im Gazastreifen nicht nur unter den Israelis ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Das steht auch deutlich im Widerspruch zur Gründungs-Charta der Organisation. In dem Grundsatzpapier der 1987 gegründeten Hamas ist die Vernichtung des Staates Israel festgeschrieben: Es postuliert, "dass das Land Palästinas ein islamisches Waqf-Land für die Generation der Muslime bis zum Tag der Auferstehung ist". Selbst Teile dieses Landes dürfen danach nicht aufgegeben werden, sonst verstoße man "gegen Gottes Willen".

In aller Konsequenz hatte die Hamas die Friedensverhandlungen, die die PLO unter Arafat mit Israel anstrebte, bekämpft; westliche Länder wie USA und Deutschland stuften die Hamas als Terrororganisation ein. Konsens war dabei, dass diese Charta nicht nur antizionistisch ist, also gegen den Staat Israel gerichtet, sondern auch antisemitisch: Weil sie offen zur Tötung von Juden als Mittel zur Erreichung eines islamischen Palästinenserstaates aufruft.

Spielräume in der Erweiterungs-Charta?

Auch Croitoru teilt diesen allgemeinen Konsens: Die Gründungs-Charta sei ein "radikal islamistisches Pamphlet", gespickt mit dem Willen der Vernichtung Israels als Staat, zum Teil auch mit antisemitischen Komponenten. Aber, so ergänzt er, "davon hat sich die Hamas im Grunde mit der Zeit, wenn auch inoffiziell, verabschiedet und hat 2017 ein völlig neues Programm veröffentlicht, in dem sie auch nicht mehr direkt gegen die Juden kämpft wie 1988, sondern gegen die Zionisten, gegen die Besatzung. Und sie hat angedeutet, dass sie bereit wäre, einen israelischen Staat, den sie nach wie vor nicht anerkennen will, zu dulden neben einem palästinensischen Staat. Auf dem Gebiet des historischen Palästina. Das heißt, im Grunde hat die Hamas signalisiert, dass sie durchaus für die Zweistaaten-Lösung ist."

Die Hamas nicht gegen Juden, sondern "nur" gegen die Besatzung des Westjordanlands und durchaus bereit zu Friedensverhandlungen? Dieses Verständnis der erweiterten Charta von 2017 wurde schon damals, als sie publiziert wurde, unmittelbar von Benjamin Netanjahu zurückgewiesen, er sah darin nur ein Täuschungsmanöver der Terrororganisation. Und seit dem Massaker an mehr als 1.000 Juden und der Entführung von 250 Israelis in den Gazastreifen teilen – anders als Croitoru – auch viele Nahostexperten Netanjahus Meinung.

Täuschungsmanöver der Hamas?

Seit 2017 und der Übernahme der Führung durch Yahya Sinwar habe sich die Hamas absichtlich zurückgehalten, um dann "umso brutaler zuschlagen zu können", sagte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Deutschlandfunk. Auch der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber kommt bei seinem Verglich zwischen erster und erweiterter Charta zu dem Schluss, dass es der späteren allein um politische Anerkennung und öffentliche Wirkung gehe: "Die formale Mäßigung im Text hatte somit ein klares Ziel: Es ging nicht um eine ideologische Änderung, sondern um strategische Täuschung. Spätestens die Hamas-Massaker im Oktober 2023 veranschaulichten dies der ganzen Welt."

Joseph Croitoru: "Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel" ist bei C-H-Beck erschienen.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!