Zwei Mitwirkende auf der "Suche nach der verlorenen Zeit"
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Sternschnuppe und Rechenschieber

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Theater-Märchenwald: Burghausen sucht nach "verlorener Zeit"

Marcel Prousts siebenteiligen Roman hat kaum einer ganz gelesen, aber das dort thematisierte Ringen um Wahrhaftigkeit im Leben beschäftigt fast jeden. Orientierungshilfe gibt es jetzt bei einem poetischen Open-Air-Parcours mit "Zeit-Stationen".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Ganz ungefährlich ist dieser rund dreistündige Freilicht-Theaterabend in Burghausen nicht: Wer nicht aufpasst, dem kann schon mal ein reifer Apfel auf den Kopf fallen, denn eine der zehn Kleinstbühnen steht direkt neben einem Obstbaum. "Bräugartl" heißt das romantische Gelände direkt an einer der beiden Burghauser Grenzstationen zu Österreich. Ein Bach plätschert durch den Wiesengrund, der Blick geht mal hoch zur längsten Burganlage der Welt, mal runter zur eilig vorbeifließenden Salzach. Ein verwunschener Ort, vor allem, wenn am lauen Sommerabend Teelichter die Wege markieren und magische Gestalten die Neugier wecken. Das "Theater für die Jugend", das durchaus auch für Erwachsene spielt, hat sich auf die "Suche nach der verlorenen Zeit" gemacht. Doch wer glaubt, hier werde der berühmte gleichnamige Roman von Marcel Proust dramatisiert, täuscht sich.

Für jeden Zuschauer ein Vanille-Plätzchen

Ja, am Anfang liest eine zauberhafte Muse tatsächlich aus dem Buch vor, und zwar die bekannteste Stelle, wo der Ich-Erzähler zuhause bei seiner Mutter ein Madeleine-Gebäck in die Teetasse stippt und beim Kosten des Mini-Sandkuchens von einem "unerhörten Glücksgefühl" berichtet, das ihm die Erinnerung an sein ganzes Leben wachruft. Für jeden Zuschauer liegt ein Vanille-Plätzchen bereit, auch eine Schale Tee, dann geht's durch eine schmale Tür hinein in den Märchenwald. Doch damit hat es sich auch schon mit Proust, denn Intendant Mario Eick und seinem Team geht es nicht um eine Literatur-Bebilderung, sondern um die Zeit als solche - um unsere Vergänglichkeit, unsere Sehnsüchte, unser stetiges Pendeln zwischen romantischer Zeitverschwendung und kapitalistischer Zeitinvestition.

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Auftakt zur Erinnerung: Eingang zum Bräugartl

Jeder Zuschauer entscheidet selbst, in welcher Reihenfolge er die zehn angebotenen Mini-Dramen anschaut: Wer will, kann eines mehrmals betrachten, auf andere verzichten oder das gesamte Angebot auf sich wirken lassen, was dann von 20.00 bis 23.00 Uhr dauert. Immer, wenn sich ein paar Neugierige an einer Station versammelt haben, egal ob fünf oder fünfundzwanzig, fangen die jeweiligen Schauspieler an mit ihren Anmerkungen zum Thema Zeit. Da gibt es den "Glückshafen", wo streng physikalisch nach dem Verhältnis von Zeit und Raum gefragt wird und wo ein Mathematiker seine Zahlen beisteuert, ergänzt um Zitate des Naturforschers Isaac Newton. Doch diese Algebra hilft Verliebten rein gar nichts, denn für alle, die sich nach dem Liebsten sehnen, schreitet die Zeit bekanntlich lähmend langsam voran.

"Auf den Bildern sind sie glücklich"

An einer anderen Station wartet eine Bankfiliale mit "Zeit-Spardosen". Emsig versucht der Angestellte, seinen Kunden Zeit abzuluchsen: Für jede Minute, die sie bei ihm anlegen, verspricht er ein paar Cent. Aber ist das wirklich ein "gutes Geschäft"? Eine junge Kundin jedenfalls möchte ihre Zeit lieber für Spiel, Spaß und Tollerei ausgeben und bringt den Bankmitarbeiter damit in Nöte, denn der stellt plötzlich fest, dass er selbst seine Zeit ganz falsch investiert hat. Die eigene Mutter sitzt im Seniorenheim, besucht hat er sie schon lange nicht mehr: "Aber auf den Bildern im Prospekt sind sie da alle total glücklich." Nur: Seine Mutter findet sich nicht zwischen den freudestrahlenden Fotomodellen.

Der "Kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry hat einen Auftritt, als er einen Geschäftsmann trifft, der peinlich genau die Sterne zählt und sich fragt, was er von deren Besitz wohl hat. Eine Sternschnuppe rät ihm, einfach ihre Gesamtzahl auf einen Zettel zu schreiben und den in einen Tresor zu verschließen, was allerdings keine wirklich aufregende Perspektive eröffnet. Einem Mann ist die Frau weggelaufen, seitdem hockt er unbewegt auf einem Sofa, schon ganz vom Efeu überwuchert. Er lässt die Zeit träge an sich vorbeiziehen und ernährt sich von den Milben, die ihn besiedelt haben. Dazu gibt es allerlei Sinnsprüche zur Vergänglichkeit, meist sarkastische.

Wer will, kann Lose ziehen, die Gewinne machen "unsterblich". Anwesende Kinder, die die Ironie noch nicht verstehen, stürmen prompt auf die Lose zu und sind beglückt, "unsterblich" zu sein. Zwei Musen führen allerdings die Vor- und Nachteile des immerwährenden Lebens vor: Ewiger Stress, nicht enden wollende Mühsal. Zur Beruhigung gibt es Schlager-Takte.

Von wem sind Beethovens Werke?

Der Meister der Zeit schlägt den Takt für drei zerstrittene und aufeinander eifersüchtige Untertanen: Die Harfe spielende Sekunde, die Minute und die Stunde. Sie alle regen sich darüber auf, dass sie keinen Moment zur Ruhe kommen dürfen. An einer Station betreten die Zuschauer buchstäblich den Kopf eines ganz schlauen Professors, der über die Zeit forscht. Wie sich herausstellt, führt er quälende Selbstgespräche, denn als Kind hatte er es nicht einfach, wurde gehänselt und von den Eltern ignoriert. Ihnen war nur der Professorentitel wichtig. Ist das Glück genug?

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Mit Newton und Algebra

Wunderbar, wie viele nachdenkliche Aspekte zum Thema Zeit Mario Eicks Team zusammengetragen hat. Auch eine Zeitmaschine darf benutzt werden, sie führt die Besucher in das Burghausen des frühen 19. Jahrhunderts und klärt satirisch die Frage, von wem eigentlich die Werke Ludwig van Beethovens stammen: So wie es aussieht, hielt er sich selbst für einen bescheidenen Künstler und wurde von einer flüchtigen Muse geküsst. Beeindruckend, dass das Theater für die Jugend inklusiv arbeitet, also Profis und Laien, auch Menschen mit Handicap integriert. Das mag rein sprachlich gelegentlich holprig rüberkommen, doch die Poesie in der Sommernacht ist dadurch umso magischer, treten doch authentische Menschen auf, die von Idealen zeugen.

Drei Musen ziehen eine Handkarre durchs Gelände, fragen Zuschauer nach ihren persönlichen Vorstellungen von Frieden und Glück, stellen auch Rätsel. Und am Ende bekommt jeder einen kleinen, glattgeschliffenen Stein für zuhause, um weiter über sein Leben nachzudenken. Darauf steht in bunten Buchstaben: ZEIT.

Wieder am 25. und 26. August jeweils um 20.00 Uhr im Bräugartl Burghausen (an der Neuen Grenze, Parkplatz gegenüber dem Burghauser Finanzamt)

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