Bootsbauer in Stone Town auf Sansibar in Tanzania bei der Arbeit: Die traditionellen Boote Ostafrikas werden immer noch in Handarbeit gebaut. Sie sind das wichtigste Transportmittel an der Küste, schnell und wendig.
Bildrechte: picture alliance / Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/ZB | Britta Pedersen

Bootsbauer in Stone Town auf Sansibar in Tanzania bei der Arbeit

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Spuren der Kolonialzeit: "Die Abtrünnigen" von Abdulrazak Gurnah

Unterdrückung und Ausbeutung, aber auch Bildung und Befreiung von gesellschaftlichen Normen: Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah zeichnet in "Die Abtrünnigen" ein zwiespältiges Bild davon, wie der Kolonialismus Gesellschaften bis heute prägt.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Der bereits 2005 auf Englisch erschienene Roman "Die Abtrünnigen" des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah spielt im Sultanat Sansibar der 50er-Jahre. Sansibar ist eine Insel in Ostafrika, die heute zu Tansania gehört. Damals wurde die Insel regiert vom Sultan von Oman, sie spielte eine wichtige Rolle im Sklavenhandel und wurde als britisches Protektorat beherrscht von den Kolonialherren. Ein kultureller Melting-Pot, in dem streng muslimische Einflüsse auf indische, afrikanische und koloniale Traditionen treffen. Das ist der Rahmen für das Schicksal der beiden Brüder Amir und Rashid.

Zwiespältiger Blick auf koloniale Vergangenheit

Rashid, eine Art Alter Ego Gurnahs, brennt für englische Literatur und schwärmt für Italien. Das englische Schulsystem im kolonialen Sansibar ermöglicht ihm Zugang zu einer Karriere in Europa. Rashid studiert in London und wird – trotz übler Diskriminierungserfahrungen – Teil der englischen Bildungselite. Amir bleibt mit der Familie im Land. Westliche Bildung wird als Rettungsanker gefeiert.

Auf der anderen Seite beschreibt Gurnah die englischen Kolonialherren als extrem arrogante, brutale Ausbeuter, die die Einheimischen verachten und misshandeln. Auch die sozialistische Revolution und die Unabhängigkeit Sansibars nach 1964 bringt für seine Heimat keine Verbesserung. Willkür, Krieg und Grausamkeit prägen den Alltag von Amirs und Rashids Familie. Gurnah übt eine zwiespältige Kolonialismuskritik, denn der Autor beschreibt einerseits die Chancen, die sich durch die Teilhabe an der europäischen Kultur bieten und andererseits die Verantwortung der britischen Kolonisatoren für Leid und Elend im postkolonialen Tansania.

Ausbruch aus gesellschaftlichen Normen

Gurnah zeichnet das Bild einer religiösen, patriarchalischen, reglementierten Gesellschaft auf der Insel – die meisten Inselbewohner sind strenge Muslime: Kinder werden von ihren Eltern zwangsverheiratet. Mädchen haben kaum Möglichkeiten, weiterführende Schulen zu besuchen. Anders als ihren beiden Brüdern Amir und Rashid – beide kluge und fleißige Schüler mit Aufstiegschancen – bleibt ihrer Schwester Farida nur die Schneiderlehre. Und das, obwohl Bildung im Elternhaus eine herausragende Rolle spielt. Mehrere Protagonisten, vor allem Frauen, brechen aus den starren gesellschaftlichen Normen aus – werden zu "Abtrünnigen" wie im Titel des Romans.

Die Schwester von Amir und Rashid schafft es, als Dichterin zu reüssieren. Amir erlebt als junger Mann die Liebe seines Lebens mit einer geschiedenen, emanzipierten, älteren Frau, Jamila. Diese Beziehung wird von den Eltern brutal unterbunden, denn die Frau gilt als gesellschaftlich geächtet. Ähnlich unkonventionell beschreibt Gurnah das Leben von Jamilas Großmutter. Entgegen aller Konventionen und über die Religionsgrenzen hinweg unterhält sie eine uneheliche Liebesbeziehung zu einem englischen Orientalisten. Diese "Abtrünnigen" sind die eigentlichen Helden und Heldinnen in Gurnahs Roman.

Koloniale Vergangenheit prägt Schicksal der Menschen

Abdelrazak Gurnah erzählt diese Familiengeschichten in einem liebevollen, seinen Protagonisten zugewandten Ton. Die fremde Welt auf Sansibar in den 50er-Jahren rückt beim Lesen ganz nah – man wird während des Lesens gewissermaßen Teil der Familie von Amir und Rashid. Besonders anrührend: die große Verbundenheit der beiden Brüder. Von Kindheit an bis ins Erwachsenenalter bleibt Amir der große Bruder von Rashid – und Rashid der Träumer, den Amir unter seine Fittiche nimmt. Und der am Ende die traurige Liebesgeschichte von Amir erzählt.

Es ist eine Geschichte mit orientalischen Einflüssen, in die sich der historische, politische und kulturelle Hintergrund dezent hineinwebt. Postkoloniale Literatur – nicht im Sinne eines Pamphlets, sondern als großartige Erzählung, die ausleuchtet, welche Einflüsse die Geschichte seines Landes auf die menschlichen Schicksale seiner Protagonisten hat. Und welche Verantwortung die englischen Kolonialherren dafür tragen.

Bildrechte: Penguin
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Die Abtrünnigen" von Abdulrazak Gurnah

"Die Abtrünnigen" von Abdulrazak Gurnah (im Original 2005 veröffentlicht) ist am 26. April 2023 in der Übersetzung von Stefanie Schaffer-de Vries bei Penguin erschienen, 400 Seiten, 26 Euro.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!