Herr mit kurzen weißen Haaren, in blauem Hemd und Pullover
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Der Schriftsteller Arnold Stadler. Im Jahre 1999 erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Gerade ist von ihm erschienen: "Irgendwo. Aber am Meer"

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Monolog in Griechenland: "Irgendwo. Aber am Meer"

"Irgendwo. Aber am Meer" heißt der neue Roman des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler. Vordergründig geht es um einen Schriftsteller, der sich die öffentliche Bezeichnung als "alter weißer Mann" zu Herzen nimmt. Ein bisschen jedenfalls.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Ein Schriftsteller reist zu einer Lesung auf ein Schloss in der Provinz. Doch die anschließende Gesprächsrunde läuft aus dem Ruder. Anders als das Publikum will er lieber über Literatur als über Klimakatastrophe und Flüchtlingskrise sprechen. Eine Dame aus dem Publikum nennt seinen Redebeitrag schließlich "das reinste weiße Altmännergeschwätz". Im Anschluss fährt der Autor – er bleibt namenlos – in den Urlaub nach Griechenland, zu Infinity-Pool mit Ithaka-Blick.

Von Odysseus zu Rex Gildo

Das ist der Plot des neuen Romans "Irgendwo. Aber am Meer" des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler. Aber wie immer bei Stadler geht es nicht um die Handlung. Stadlers Texte sind ganz Abschweifung, das war schon so bei seinen früheren Romanen "Mein Hund, meine Sau, mein Leben", "Der Tod und ich, wir zwei" oder "Rauschzeit".

In einem gewaltigen Stream of Consciousness, einem großen inneren Monolog, begleiten wir den Protagonisten beim Denken und Nichtstun. Es geht um Heimat, Heimatlosigkeit und Sehnsucht im Allgemeinen, um Waffen, Liebe, das Schreiben, die Klimakrise und den Tod im Besondern, aber auch um Superyachten, Medizintechnik, das Nichtstun, Gastarbeiter, Gott, das Hähnchen-Schreddern und den Nahverkehr rund um Tuttlingen. Der innere Monolog des Protagonisten hat teils essayhafte Züge und ist gewürzt mit historischen Anekdoten und Wartezimmerzeitschriftenwissen. Nahtlos geht es von Odysseus zu Rex Gildo und von Rilke zu Lady Gaga über, vom Walk of Fame zum ökologischen Fußabdruck und von Helene Fischer zum europäischen Ranking der Bordell-Nutzungszahlen.

Lieber Greta Thunberg auf der Bühne?

Die Sache mit dem "alten Weißen Mann" wurmt den Protagonisten. Weist ihn doch auch sein Email-Eingang regelmäßig in Form von Werbung aus dem "Treppenlift-Hörgeräte-Sterbegeldversicherungs-Einzelbettzimmer-Segment" auf das immer klarer sichtbar werdende Ende hin. Doch er berappelt sich, schließlich "gab es schlimmeres auf der Welt, als von einer weißen Alten als weißer Alter beschimpft zu werden, bitte schön!".

Die Enttäuschung über seine Person erklärt er sich damit, dass das Publikum viel lieber Greta Thunberg auf der Bühne gesehen hätte. Dass er also nicht Greta Thunberg ist. Mit diesem Vorwurf lässt sich leben. Trotzdem mündet die Sache in eine wochenlange Nabelschau und Selbsterkundung, eine Rückschau auf sein Leben.: "Ich war der Erste, der in seinem Rückspiegel einen Rückspiegelschmerz über sein Leben empfand, und dass es nicht so geworden war, wie ich mir vorgenommen oder auch nur erträumt hatte. Ja, wenn es um mein Leben ging, war ich der Erste von jenen, die von mir enttäuscht waren."

Grandioser Spracherfinder

Don Quichotte-artig stolpert der Protagonist auf seiner Fahrt von Tuttlingen nach Griechenland durch eine Welt, die sich im Lauf seines Lebens nicht immer zum Besseren verändert hat – das fängt schon bei den Wörtern an: Menschen nennen sich jetzt Verbraucher, aus Multimillionären sind Oligarchen geworden, aus Christi Himmelfahrt ein Vatertag und Sklaven heißen jetzt Leiharbeiter. Stadler ist ein grandioser Sprachbeobachter und -erfinder zu seinen seine eigenen wunderbaren Wortneuschöpfungen gehören "finanzfrisch", "Psychotechniker", "Irrwischgedanken", "unbeschämbar", "Friedwaldflucht" oder "Administrationsfurie".

Eine politische Einmischung

Was den Text zusammenhält, sind einzelne Kernsätze, die immer wieder auftauchen. "Liebe ist das schönste aller Tuwörter" ist so ein Satz oder: "Das Warten auf die Liebe ist die Liebe". Aber auch "Waffen gegen den Krieg sind wie Schnaps gegen den Alkoholismus".

Stadler mischt sich mit seinem Text durchaus auch politisch ein. Er entlarvt Politiker, die die Lieferung schwerer Waffen "glücklich" macht, genauso wie die Scheinheiligkeit einiger Medien, die über den Krieg berichten wie über ein Fußballspiel. Immer wieder sinniert sein Protagonist zum Beispiel über die Rolle Deutschlands als Waffenexporteur. Nicht nur, dass man allerorten mit deutschen Waffen aufeinander schießt, nach öffentlichen Hinrichtungen in Saudi-Arabien spülen deutsche Hochdruck-Kärcher das Blut weg, andernorts stammt das Gift für die Todesstrafe aus Deutschland. Und so ist dieser ebenso kluge wie hochkomische Text im Kern auch tieftraurig.

Übersetzen von Schmerz in Sprache

"Ich hatte nicht vor, das traurigste Buch des Jahres zu verfassen", lässt Stadler seinen Schriftsteller-Protagonisten sagen, er sinniert: "War Schreiben eine Bluterkrankung? Fehlte das Gerinnungselement des Vergessens? War Schreiben nicht das Übersetzen von Schmerz in Sprache?"

Wer Bücher mit klassischer, gar spannungsgeladene Handlung braucht, den wird "Irgendwo. Aber am Meer" vielleicht enttäuschen. Aber wer Lust auf Denken hat, auf Ironie und einen spielerischen Zugang zu Text und Sprache, der wird den neuen Stadler ziemlich sicher lieben.

Arnold Stadler: "Irgendwo. Aber am Meer", S. Fischer Verlag, 224 Seiten

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