Frau mit dunklen Locken und Mikrofon
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Maria Stepanova, Preisträgerin des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2023

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Eine Stimme der Verständigung: Maria Stepanova

Maria Stepanova ist die international erfolgreichste russische Dichterin der Gegenwart. Vor wenigen Wochen hat sie den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung bekommen. Zuletzt schrieb sie ein "Winterpoem".

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Als Maria Stepanova im Winter 20/21 ihr "Winterpoem" schrieb, konnte sie nicht ahnen, dass Russland im Winter 21/22 Krieg gegen die Ukraine führen wird. Und doch nehmen ihre Strophen hellsichtig Russlands politische Isolation auf, Krieg und Kälte, die Putinsche Eiszeit und Erstarrung, das Einfrieren und Verstummen, die Zeit – "ertaubt", wie die Dichterin schreibt: "Komm, es ist spät, lass uns schlafen/ Links von uns, rechts von uns sind/ Die Kerzen heruntergebrannt/ auf den Nachbargräbern."

Dichterische Prophetie

Vielstimmig und bildgewaltig geht Maria Stepanova in "Winterpoem" ihrer Zeit auf den Grund. Während sich die Poetessa im Covid-Winter auf ihrer Datscha in der Nähe von Moskau wie im Exil fühlt und ihr Schicksal mit der Verbannung des römischen Dichters Ovid parallelisiert, braut sich nicht weit von ihr ungeheuerliches Unheil zusammen. "Das ist das Quälende: Ich bin sicher, dass es ohne die Pandemie und die damit verbundene Isolation diesen Krieg nicht gegeben hätte. Putin hat einfach zwei Jahre im Bunker gelebt und sehr schlechte historische Literatur gelesen. Und in der Zeit hat er sich nicht nur eine Mikrokonzeption der Geschichte angeeignet, sondern auch vergessen, dass um ihn herum andere Leute existieren. Er glaubt tatsächlich nicht an die Existenz anderer Menschen. Nicht nur nicht an die von Ukrainern oder Syrern, auch an seine eigenen Leute glaubt er nicht. Er schickt sie zu Zehntausenden ohne Munition und ohne Verpflegung in Schützengräben, um der Welt seine historische Wahrheit vorzuführen."

Ins Exil getrieben

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat die 1972 in Moskau geborene Dichterin in die Emigration getrieben. Zusammen mit ihrem Mann lebt Maria Stepanova inzwischen in Berlin. Das von ihr begründete vielbeachtete Online-Kulturmagazin "Colta" – eine der wenigen russischen Plattformen, auf denen richtungsweisende gesellschaftliche, kulturelle und politische Debatten stattgefunden haben – wurde seit Kriegsbeginn eingestellt. "Die Frage nach der Zukunft für Russland und seiner Kultur ist vollkommen offen. Ich fühle mich wie im freien Fall." Es sei lügenhaft, sich in dieser Situation auf die Kultur zu stützen, als sei sie hoffnungsfrohes Fahrwasser, das jetzt weiterführen würde. In Stepanovas Augen machen das genau diejenigen, die Putin unterstützen. Nach dem Motto: Wir haben eine so herrliche Kultur, also sind alle unsere Erfindungen und Taten, eingeschlossen des Krieges, auch gut. Kultur sei aber, so die Dichterin, kein Persilschein, kein Ablasshandel, sondern Ausdruck der Gesellschaft, ihr Produkt. Und mit dieser Gesellschaft sei gerade deutlich etwas nicht in Ordnung.

Maria Stepanova mischt sich aber weiterhin ein. Im Sommer 2022 hat sie einen Gedichtzyklus zum Krieg geschrieben, einzelne Poeme hat sie auf Facebook mit Freunden geteilt: "Während wir schliefen, haben wir Charkow bombardiert. (…) Und die Klappen des Sommers öffneten sich. Und Charkow war schwarz vor Rauch. Während wir aßen, bombardierten wir Lemberg. Dann gingen wir hinein. (...) Die Libellen klirrten. Dann sangen wir im Chor, wie das Ufer mit Hunderten von erschossenen Menschen zugedeckt war…"

Die Ungeheuerlichkeit des Tötens

"Ich habe die Gedichte nicht veröffentlicht", sagt Maria Stepanova, "es ist ein lebendiger Zyklus, denn es geht um einen Text, der noch kein Ende hat. Wir werden sehen, wie es ausgeht. Unterdessen ist es unsere Pflicht, auszusprechen, was in der Ukraine hier und heute passiert. Wir müssen uns selbst und alle anderen daran erinnern. Die Menschen müssen hinschauen und bezeugen und die Texte müssen beschreiben."

Das ist auch ein poetisches Credo: Oft spürt Maria Stepanova die dunklen Verflechtungen von Kunst und Politik in der russischen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf. Für den Krieg und die ihm vorausgehende Eiszeit findet sie unvorhersehbar überwältigende Bilder.

Heute, Dienstagabend, liest Maria Stepanova im Münchner Lyrik-Kabinett, die Lesung findet auf Deutsch und auf Russisch statt.

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