Ein Wähler wirft seinen Stimmzettel in eine gläserne Urne
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Wählen in Nowosibirsk unter einem Mammut-Skelett

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"Singen und tanzen": So grotesk ist Putins "Wahl"-Inszenierung

Gratis-Pfannkuchen, Opernarien und Verlosungen: Die russischen Behörden mühen sich nach Kräften, die Wahlbeteiligung mit Propaganda und Zwangsmaßnahmen zu erhöhen. Putins Kritiker spotten: "Die Bauern werden vor den Zar getrieben und verbeugen sich."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Zu Stalins Zeiten strömten die Russen bereits um vier Uhr morgens in die Wahllokale, und zwar mit Blumen, singend und tanzend, so die russische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulman, denn je früher jemand abgestimmt habe, desto loyaler sei er eingestuft worden: "Seitdem haben sich die Sitten gemildert. Um vier Uhr früh kommt keiner mehr, aber die Tradition bleibt bestehen." Inzwischen werden die Wahllokale ab sechs geöffnet, und wer bei der "Präsidentschaftswahl" seine Regimetreue beweisen möchte, ist nach wie vor gut beraten, so zeitig wie möglich zu erscheinen. In St. Petersburg behaupteten Wähler, vor einigen Wahllokalen stünden Leute mit QR-Codes, mit denen erfasst werde, wann Mitarbeiter des öffentlichen Diensts ihre Stimme abgegeben haben: "Der Zirkus und seine Clowns sind voll beschäftigt", schrieb ein örtlicher Leser dazu ironisch.

"Es ist wie in Flugzeugen"

Beamte seien genötigt worden, zwischen acht und neun Uhr morgens zu erscheinen und Fotos aus dem Wahllokal zu posten, hieß es: "Ist ja alles mehr als verständlich." Von Lehrern wurde erwartet, dass sie vor zehn wählen. Etwa zehn Prozent der Abstimmenden fotografierten ihre Stimmzettel zur "Berichterstattung". In Woronesch lagen schon vor Öffnung eines Wahllokals stapelweise Stimmzettel in der gläsernen Urne, was ein Beobachter mit den launigen Worten kommentierte, vermutlich sei "Harry Potter mit seinem Zauberstab von der Hogwarts-Schule" vorbei gekommen.

In manchen Wahllokalen gibt es Gratis-Pfannkuchen und Haferbrei, in anderen treten Opernsänger und Folkloretruppen auf. Ekaterina Schulman beteuerte: "Viele von uns, darunter auch ich, haben vor der Wahl eine SMS erhalten, in der steht, dass 'Sie, liebe Mitbewohnerin, an einer Verlosung teilnehmen'. Es gibt Autos, Reisen, ganz allgemein Ausflüge, oder sonst etwas äußerst Kulturelles und Schönes zu gewinnen. In der Region Swerdlowsk wird beispielsweise ein Motorrad versprochen." Auch weiche Schals und Gratis-Zeitungen seien für Wähler im Angebot: "Jede Region ist nach eigenen Fähigkeiten kreativ."

In Murmansk zum Beispiel dient ein Foto aus dem Wahllokal als "Los" für die skurrile Tombola. Politologe Konstantin Kalaschew verwies darauf, dass die Behörden in Moskau den frühen Wählern vorsorglich mitgeteilt hätten, dass die Uhrzeit der Abstimmung keinen Einfluss auf die Gewinnchancen bei der Verlosung habe: "Es ist wie in Flugzeugen. Kaum ist die Maschine gelandet, springen alle auf und drängeln sich zu den Ausgängen. Obwohl sie alle annähernd gleichzeitig rauskommen."

"Jeder Drache hat immer mehr als einen Kopf"

Der Propaganda-Aufwand rund um die vermeintliche "Präsidentschafswahl" ist enorm und Exil-Politologe Wladimir Pastuchow nennt den naheliegenden Grund: "Bei totalitären Wahlen ohne Wahlmöglichkeit gibt es nur zwei Formen des Protests: passiven – nicht zur Wahl erscheinen, und aktiven – hingehen und den Stimmzettel ungültig machen. Alles andere kommt vom Bösen." Wer sein Kreuz bei einem der systemtreuen Kandidaten mache, so Pastuchow, stärke auch dadurch Putin: "Der Drache hat immer mehr als einen Kopf. Einer der Drachenköpfe ist niedlicher als der andere, auch wenn es nur zwei sind. Wenn Sie für den niedlichen Drachenkopf stimmen, stimmen Sie immer noch für den Drachen."

Politologe Andrej Nikulin sprach sarkastisch von einem "mittelalterlichen Ritual": "Als die Bauern zur Krönung des nächsten Zaren getrieben wurden, hatten sie nur eine Möglichkeit – das Geschehen mit freudigem Geschrei und Verbeugungen zu begleiten. Ganz einfach, weil die kaiserliche Truppe unauffällig hinter ihnen aufmarschierte." Der Publizist spottete über "Warteschlangen im Zirkuszelt": "Wenn Sie trotzdem hingehen müssen und ein Nachweis von Ihnen verlangt wird, stimmen Sie so ab, dass Sie sich am wenigsten schämen, wenn Sie Ihre Stimme abgeben. Dies ist eine der wenigen Möglichkeiten, die uns noch offen stehen."

"Das verursacht ein Problem"

Exil-Politologe Anatoli Nesmijan behauptete, Putin und dessen Weggefährten seien am Ergebnis der Wahl "überhaupt nicht interessiert", da sie darüber die völlige Kontrolle hätten. Entscheidend sei für den Kreml vielmehr die Wahlbeteiligung: "Es ist nicht klar, was sie mit den Gleichgültigen machen. Es gibt noch kein Gesetz zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei Nichtteilnahme an Wahlen, daher ist der Besuch des Wahllokals freiwillig." Jede Art von "Neutralität", also Wahlenthaltung, werde aber inzwischen mit Protest gleichgesetzt: "Das ist es, was ein Problem verursacht." Den Gouverneuren seien diesbezüglich Vorgaben gemacht worden, die sie wohl notfalls mit Fälschungen einhalten würden.

"Es gibt eine kleine Anzahl von Regionen, in denen man das Gefühl hat, dass die Stimmzettel überhaupt nicht gezählt werden, sondern dass sie einfach das Ergebnis-Protokoll so schreiben, wie sie es wollen", sagte der russische Anwalt und Wahlrechtsexperte Arkadi Ljubarew der im Ausland erscheinenden "Novaya Gazeta Europe". Proteststimmen würden bei Manipulationen jedoch in der Regel nicht in den Papierkorb geworfen, sondern eher zusätzliche Wahlzettel für Putin fabriziert: "Die Wahlbeteiligung ist für die Behörden natürlich wichtig, aber sie kann nicht wichtiger sein als das Ergebnis des Anführers."

"Verschleierte Protest-Form um 9 Uhr"

Russische Wahlen seien kein "Wettbewerb" wie im Westen, so Polit-Blogger Dmitri Sewrjukow, sondern dienten der "Konsolidierung" des Landes und des Systems. Er macht sich über die Ankündigung von Regimegegnern lustig, die ihren Protest am Sonntag, dem dritten und letzten Wahltag, punkt 12 Uhr mittags in den Wahllokalen äußern wollen: "Es bleibt abzuwarten, ob der Besuch des Wahllokals um 11.30 Uhr oder umgekehrt eine halbe Stunde nach dem Mittagsläuten des Spasski-Turms Risiken birgt. Darüber hinaus wurde nicht offiziell geklärt, ob beispielsweise ein Besuch im Wahllokal um 9 Uhr eine verschleierte Form des Protests darstellt, da diese frühe Stunde in Moskau dem Mittag in Omsk entspricht."

Kremltreue Berichterstatter ereiferten sich über mehrere Farbbeutel-Anschläge auf Wahlurnen und demonstrativ verbrannte Wahlzettel, vor allem aber darüber, dass der "Gouverneur" der selbst ernannten "Volksrepublik Luhansk" im russisch besetzten Osten der Ukraine vor einer verkehrt herum hängenden russischen Tisch-Flagge abstimmte, übrigens offen: "Wie konnte man das übersehen? Nun, es scheint normal, ganz Russland vor der Welt zu beschämen, die die Wahl in unseren neuen Regionen überwacht. Dafür sollte der zuständige Mitarbeiter gefeuert werden. Solche Leute sind nutzlos."

"Keine Frage der Politik, sondern der Gesundheit"

Politologe Sergej Starowoitow nannte zehn Punkte, auf die bei der "Präsidentschaftswahl" zu achten sei. So müssten die Gouverneure im Auge behalten, dass Putin in ihrer jeweiligen Region nicht "versehentlich" weniger Zustimmung erhalte als sie selbst. Der letzte Punkt lautet: "Glückwunschschreiben von Staatsoberhäuptern: Wer wagt als Erster den Sprung? Das wird die ehrlichste Liste von Russlands Freunden im Ausland sein." Ganz stimmt das nicht: EU-Ratspräsident Charles Michel "gratulierte" Putin tatsächlich als erster, unmittelbar nach Öffnung der Wahllokale, ironisch natürlich: "Keine Opposition. Keine Freiheit. Keine Wahl."

Wie die Wahl insgesamt einzuschätzen ist, machte ein "hochrangiger" Kreml-Insider gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters deutlich: Die Dauer von Putins Amtszeit sei "keine Frage der Politik, sondern seiner Gesundheit".

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