Passantin mit der britischen Mission im Hintergrund
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Regenbogen-Flagge in Moskau - aber nur an der britischen Botschaft

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Russland will Homosexuellen-Lobby als "extremistisch" einstufen

Russlands Justizministerium will den Einsatz für nicht-heterosexuelle Lebensweisen per Gerichtsbeschluss mit "Extremismus" gleichsetzen. Damit löste Putins Regierung einen Sturm aus Wut und Empörung aus: "Gibt es jetzt Säuberungen an der Spitze?"

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Am 30. November um 10.00 Uhr vormittags soll der Oberste Gerichtshof Russlands auf Antrag des Justizministeriums darüber entscheiden, ob die "LGBT-Bewegung" als "extremistisch" eingestuft wird, heißt es in einer Pressemitteilung der Behörde, die von der staatseigenen russischen Nachrichtenagentur TASS verbreitet wurde. Ziel der Klage: Sämtliche Aktivitäten von lesbischen, homosexuellen und anderen nicht-heterosexuellen Wortführern sollen in Russland unterbunden werden. Sie würden zu "sozialer und religiöser Zwietracht" aufstacheln. Erst vor einem Jahr hatte Präsident Putin ein Gesetzespaket durchgedrückt, wonach jegliche "Förderung nicht-traditioneller Lebensweisen" unter Strafe steht. Davon waren Buchverlage und Filmverleiher ebenso betroffen wie Clubs, Online-Portale, Streamingdienste und Werbeindustrie.

"Regenbogen-Socken führen ins Gefängnis"

Jetzt geht die russische Regierung offenbar noch weiter, was eine Welle von entrüsteten Kommentaren auslöste. Anwälte verwiesen darauf, dass LGBT-Aktivisten als "Extremisten" künftig mit mehrjährigen Haftstrafen rechnen müssten. Die Chefs von "extremistischen" Organisationen könnten für zehn Jahre inhaftiert werden, schon Netz-Kommentare, auch uralte, und die Verwendung von Symbolen der LGBT-Bewegung hätten vermutlich Strafen von zwei bis fünf Jahre zur Folge.

Politblogger Sergej Udalsow schrieb: "Es scheint, dass nach dieser Nachricht viele hochrangige Beamte und ihre Stellvertreter schlechte Laune und zunehmend Angst bekommen. Ist aufgrund der Zugehörigkeit zur LGBT-Gemeinschaft mit einer Säuberung in den Korridoren der Macht zu rechnen?" Ein weiterer Diskutant meinte: "Diese höllische Nachricht bedeutet im Wesentlichen, dass Schwule und Lesben in Russland zu Extremisten werden und jeder inhaftiert werden kann, der irgendwie und irgendwo sein Engagement für LGBT demonstriert. Wer zum Beispiel Regenbogensocken anzieht, geht ins Gefängnis. Ich sehe eine neue Auswanderungswelle aus Russland voraus. Alle LGBT-Vertreter werden ein konkretes Argument für die Beantragung des Flüchtlingsstatus haben."

"Welche geheimen Rituale führen sie durch?"

Selbst rechtsradikale Blogger forderten, erst mal "vor der eigenen Haustüre" zu kehren und zum Beispiel die "Homosexualität in russischen Gefängnissen" zu bekämpfen, bevor eine internationale Bewegung aufs Korn genommen werde. Allerdings lobte die rechte Scharfmacherin Ekaterina Misulina: "Das bedeutet, dass eine ernsthafte Barriere gegen die Werte errichtet wird, die Russland und unsere Identität zerstören. Ich möchte mich für den Mut und die Professionalität der Strafverfolgungsbeamten, Spezialisten des Justizministeriums und Experten der Sicheres-Internet-Liga bedanken, die an der Vorbereitung dieses historischen Ereignisses beteiligt waren."

Politologe Andrej Nikulin machte sich wie viele andere darüber lustig, dass das Justizministerium die LGBT-Bewegung offenbar für eine "Organisation" halte, die es aufzulösen gelte: "Wo sind diese heiligen schwulen Gesetztafeln, auf denen Neulinge, die der Organisation beitreten wollen, einen Eid schwören müssen? Welche geheimen und dunklen Rituale führen sie durch? Wie führt diese Bewegungen Wahlen durch und wie entscheidet sie über die dringendsten Fragen – beispielsweise die modische Haarfarbe in dieser Saison? Verfügt die Bewegung über eine Kampforganisation und aus wem besteht sie?"

"Sehr, sehr tolerantes Land"

Star-Bloggerin Xenija Sobtschak (1,22 Millionen Fans) spottete: "Wir werden bald wirklich auf Augenhöhe mit Nordkorea, den Taliban und der Hamas sein. Es ist beängstigend, sich vorzustellen, wie viele Abgeordnete und Regierungsmitglieder der Staatsduma vertrieben werden müssen."

Kirill Kabanow vom russischen Menschenrechtsrat gab sich völlig unbeeindruckt vom Verhalten des Justizministeriums. Es gelte, "recht militante Positionen" zu bekämpfen. Solange ein Homosexueller auf seine Veranlagung nur neutral hinweise, ohne etwa anzumerken, er habe damit kein Problem oder fühle sich damit wohl, sei alles in Ordnung: "Wenn Menschen provozieren wollen, dann provozieren sie auch. Eine Provokation führt zu einer Vergeltungsprovokation und es besteht die Möglichkeit der Gewaltanwendung. Sie kommen zum Beispiel auf eine Fantribüne und schwenken eine Flagge mit einem Regenbogen. Es spielt keine Rolle, ob es ein normaler Regenbogen oder ein schwuler Regenbogen ist, Sie werden eins auf die Nase bekommen und das war’s. Wenn die Leute nicht provozieren, haben wir im Allgemeinen ein sehr, sehr tolerantes Land."

"Behördliche Klarstellung" in Sachen Regenbogen

Offenbar ziehe der Kreml die "Stellschrauben" noch weiter an, vermutete ein Kommentator, ein weiterer meinte, am Beispiel der grotesken Klage die "fundamentalistische" Richtung von Putins beginnendem Wahlkampf ausmachen zu können, und Polit-Blogger Jegor Jeschow gab zu bedenken: "Nein, rein juristisch verstehe ich absolut nicht, was das soll??? Eine Organisation, sagen sie? Können wir einen Blick auf ihre Führungs-, Satzungs- und Mitgliedschaftskriterien werfen? Sag mal, zählen Berührungen oder Küsse unter angetrunkenen Mädchen dazu?" So oder so werde der Regenbogen als solcher jetzt wohl auch bald für "extremistisch" erklärt, hieß es, und das scheint nicht soweit hergeholt, wie es klingt: Im russischen Parlament gilt alles, was mit schillernden Farben zu tun hat, als feindliche Propaganda. Sogar neue Uniformen für russische Sportler mit mehrfarbigen Streifen galten Kritikern als verdächtig.

Der stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma, Wladislaw Dawankow von der Partei "Neue Menschen" hatte sich kürzlich sogar an die russische Zensurbehörde gewandt, sie möge offiziell mitteilen, dass der Regenbogen als Wetterphänomen nichts mit LGBT zu tun habe. Grund für die Wortmeldung: Immer mehr russische Bürger empörten sich, aufgehetzt durch die Propaganda, über jedwede Abbildungen von Regenbogen, auch in gänzlich "unverdächtigen" Zusammenhängen. Regenbogen-Fotos stünden in Russland jedoch bisher nicht unter Strafe, so Dawankow. Eine "behördliche Klarstellung" werde dazu beitragen, die Zahl "absurder Strafanträge" zu verringern und den bürokratischen Aufwand für die Behörden in Grenzen zu halten, die gezwungen seien, jeder Anzeige nachzugehen.

Weniger verständnisvoll gab sich Blogger Anton Nut: "In einem schwarz-weißen Land mit fünfzig Grautönen musste der Regenbogen natürlich früher oder später verboten werden." Die vom Kreml herbeifantasierten LGBT-Organisationen gebe es in Russland gar nicht: "Das heißt, etwas, das nicht existiert, ist gesetzlich verboten. Eine Person wird für die Beteiligung an etwas bestraft, das nicht existiert. Nach diesem Prinzip können sie alles bestrafen – oder einfach so. Nicht vorhandene Beweise für nicht vorhandene Schuld – das ist logisch!"

Putin: "Russische Kultur basiert auf echter Freiheit"

Der Vorstoß des russischen Justizministeriums kam an dem Tag, an dem Putin in einer Propaganda-Rede behauptet hatte, die russische Kultur basiere auf "echter Freiheit und Barmherzigkeit, Liebe zum Menschen und Spiritualität". Nebenbei hatte er auf das große internationale Interesse am Tschaikowski-Wettbewerb hingewiesen, der in Moskau und St. Petersburg ausgetragen wird und vor allem im Fach Klavier weltweites Renommee hat. Die durch Briefe belegte Homosexualität von Tschaikowski ist in Russland kein Thema und wird offiziell verdrängt. Der Begriff "Spiritualität" habe in letzter Zeit eine merkwürdige Umformung erfahren, war in Blogs zu lesen: Er sei inzwischen gleichbedeutend mit dem Kampf gegen Homosexualität in allen Ausdrucksformen.

Putin bedauerte, dass es bei kulturellen Wettbewerben im Westen, also etwa Filmfestspielen oder Literaturauszeichnungen, angeblich unabdingbar sei, "etwas aus dem Leben sexueller Minderheiten, Transgender-Personen und Transsexueller" einzureichen: "Was ich sagen möchte: Auch sie – diese Themen und Menschen – haben das Recht, sich zu zeigen und von sich zu erzählen. Denn auch sie sind Teil der Gesellschaft." Es sei "schlimm", wenn deren Dasein nur dazu diene, Jurys zu überzeugen, so Putin. Daraus folgerte die oben erwähnte Xenija Sobtschak, einst mit dem Segen systemtreue Präsidentschaftskandidatin, dann müsse das Justizministerium seinen Antrag beim Obersten Gerichtshof eigentlich sofort zurückziehen.

Ein humorvoller Leser zitierte aus einem angeblichen, unfreiwillig komischen Schulaufsatz über den großen russischen Satiriker Nikolai Gogol: "Gogols Werk war von einem Dreisatz geprägt. Er stand mit einem Bein in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Zukunft, und zwischen seinen Beinen lauerte die schreckliche Realität."

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