Mann in Uniform mit zwei Frauen an seiner Seite
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Auf dem Weg an die Front: Wehrpflichtiger mit Angehörigen

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"Kein Sieg, kein Urlaub": Wehrpflichtige bereiten Putin Sorgen

Angehörige russischer Frontsoldaten machen massiv Druck, weil der Kreml Wehrpflichtige aus Angst vor einer weiteren Mobilisierung nicht austauschen will. Selbst Parlamentsabgeordnete sind alarmiert, der Unmut wächst: "Ein sehr schwieriges Thema."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

So deutlich hat das bisher noch kein prominenter Blogger geschrieben, deshalb bekam der russische TV-Propagandist Alexander Sladkow (fast eine Million Fans) für einen seiner jüngsten Blogeinträge besonders viel Aufmerksamkeit: "Es hat sich also herausgestellt, dass die Männer bis zum Ende der Spezialoperation mobilisiert wurden. Oder im Einzelfall, bis sie entweder schwer verletzt werden oder sterben, oder bis zur Geburt ihres vierten Kindes, oder bis zum Erreichen der Altersgrenze für den Dienst. Vielen Menschen fällt es schwer, sich mit dieser Realität anzufreunden. Dabei geht es weniger um die Mobilisierten selbst, als vielmehr um ihre Angehörigen."

"Jetzt sind alle gleich"

Das sei ein "sehr schwieriges Thema", so Sladkow, der den verbreiteten Unmut mit einem "eingezogenen Splitter" verglich, der Russland schmerze. Was er damit konkret meint, ist zahlreichen Leserkommentaren zu entnehmen: "Einige riskieren ihr Leben, verteidigen ihr Heimatland, sind bereits seit einem Jahr in den Schützengräben, sterben, und andere sitzen furzend auf den Sofas und trinken Bier, es ist widerlich." Putin persönlich habe ihm mitgeteilt, so Sladkow, dass die Wehrpflichtigen wie alle anderen Soldaten bis zum Ende des Krieges an der Front blieben: "Jetzt sind alle gleich." Der Staat könne es sich derzeit nicht leisten, neue Leute zu rekrutieren und auszubilden, um dafür die "erfahrenen" nach Hause zu schicken. Schließlich hätten sich auch viele Berufssoldaten in der Regel nur für zwei oder fünf Jahre verpflichtet und müssten jetzt bis Kriegsende dienen.

Einige wenige aufgebrachte Frauen hatten sich kürzlich auf dem Roten Platz zu einer Protestdemonstration eingefunden, um die Rückkehr ihrer Männer und Söhne zu fordern. Ein zufällig anwesender General sah sich mit ihren Vorwürfen konfrontiert und hatte in Aussicht gestellt, Verteidigungsminister Sergej Schoigu an die Versprechen des Kremls zu erinnern. Demnach hat jeder Frontsoldat zwei Mal im Jahr Anspruch auf je zwei Wochen Urlaub, An- und Abreise nicht mitgerechnet. "Kein Sieg, kein Urlaub", spotteten darüber russische Leser. Ein offenbar besonders patriotischer Zeitgenosse schrieb: "Die Angehörigen dachten wahrscheinlich, dass die Spezialoperation mit einem Bürojob vergleichbar sei, von 9 bis 18 Uhr? Kapieren sie nicht, dass wir die Nazis besiegen müssen und dabei nicht unter den Rock von Mama kriechen können?" Andere Putin-Bewunderer verlangten von den Frauen mit Hinweis auf den vergleichsweisen hohen Sold von umgerechnet 2.000 Euro, sie sollten sich entscheiden, ob ihnen der Mann oder das Geld wichtiger sei.

"Wenn sie sich der Front nähern, ändern sie ihre Meinung"

Solche Stimmen sind jedoch die Ausnahme. Viele zeigten sich solidarisch mit den protestierenden Frauen. "Es ist Zeit, die Lage der Wehrpflichtigen zu ändern!!! Es muss eine Berufsarmee geben. Wir haben drei Kinder, niemand lässt den Mann freiwillig ins Feld gehen, unsere Jüngste kennt nicht einmal ihren Vater. Wie sollten sich Ihrer Meinung nach die Familien der Mobilisierten fühlen??? Und es besteht kein Grund, das alles mit dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen, damals haben alle gekämpft und nicht nur 300.000, die aus ihren Familien gerissen wurden."

Alexej Schurawlew, stellvertretender Vorsitzender im Verteidigungsausschuss, zeigte sich alarmiert von den "Frauenunruhen" und befeuerte die aufgeregte Debatte: "Ich glaube, dass es höchste Zeit ist, dass das Verteidigungsministerium diese Situation erklärt. Schließlich ist völlig unklar, wie lange die Menschen mobilisiert werden: zwei Jahre, fünfundzwanzig Jahre, bis zum Ende der Spezialoperation. Auf dieser Grundlage sollen sie Pläne für ihr künftiges Nachkriegsleben schmieden, da möchte ich natürlich genauere Daten haben. Wer länger als ein Jahr im Dienst ist, hat jedes Recht auf Demobilisierung." Schurawlew forderte eine Freiwilligen-Truppe, bestand allerdings darauf, dass Interessenten kein Kündigungsrecht mehr haben sollten: "Bisher unterschreiben sie oft Dokumente, aber wenn sie sich der Front nähern, ändern sie ihre Meinung."

"600.000 sind mit Sicherheit entkommen"

Viktor Sobolew, ebenfalls im Verteidigungsausschuss, bestätigte, dass er "viele Anfragen, hauptsächlich von Ehefrauen" erhalte. Allerdings zeigte er sich wenig kompromissbereit: "Um 300.000 Männer zu ersetzen, müssen Sie eine weitere Teilmobilisierung durchführen, oder? Als wir das letzte Mal mobilisierten, beriefen wir 300.000 Menschen ein, 600.000 türmten. Manche sagen sogar mehr, aber 600.000 sind mit Sicherheit entkommen. Was geschah im darauffolgenden Jahr? Haben wir die militärisch-patriotische Erziehung junger Menschen deutlich intensiviert, damit sie bereit sein werden, ihr Heimatland zu verteidigen, und wenn eine Teilmobilisierung angekündigt wird, zu den Einberufungsämtern zu kommen und Schlange zu stehen? Ich denke nein."

Es sei beschämend, dass Russland immer noch in der "Defensive" sei. Möglicherweise könne die "Kommunikation" zwischen Frontsoldaten und ihren Familien verbessert werden, auch die Organisation bei Sonderzahlungen für Verwundungen oder im Todesfall: "Jetzt läuft nicht alles so glatt, wie wir es gerne hätten."

"Irgendwie beruhigen sich die Eltern schon"

Verteidigungspolitiker Andrej Kolesnik wollte von seinen Wählern noch keinerlei Beschwerden gehört haben und sagte: "Ich kenne viele Eltern, deren Kinder an die Front gingen und nie zurückkamen. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, niemand wurde hysterisch. Sie nahmen es mit den Worten 'Nun, so ist es geschehen, also hat der Herr es so angeordnet, dass er uns irgendwann wie ein Held verlassen würde.' Irgendwie beruhigen sich die Eltern schon." Im Übrigen seien die Wehrpflichtigen so ausgewählt worden, dass sie den Belastungen psychisch standhielten. Betroffene schreiben dagegen, dass sie sogar "Nierensteine, Kurzsichtigkeit und Bluthochdruck" nicht vor der Einberufung bewahrt hätten.

"Natürlich werden die Frauen nervös", meinte der bekannte Kriegsblogger Alexej Schiwow, der die Entscheidung von Putin aber natürlich nicht anzweifelte. Vielmehr fragte er sich, ob es möglich sei, innerhalb des vom Kreml vorgegebenen Rahmens Erleichterungen für Wehrpflichtige durchzusetzen, etwa mehr Urlaubstage. Vor der Präsidentschaftswahl werde es keinesfalls eine weitere Mobilisierung geben. Bis dahin könnten Frontkämpfer womöglich auf einen Monat zu ihren Familien geschickt werden, um sich dort körperlich und geistig zu erholen: "Das wäre wohl das Einfachste, was jetzt vorstellbar ist."

"Mein Mann ging einfach nicht hin"

Frauen plädierten für eine Alternative: "Mein Mann ignorierte die Vorladung einfach, er ging nicht hin und es wurde nichts dagegen unternommen." So wollten es nach eigener Angabe auch junge Männer halten, unbeeindruckt davon, dass die Ämter angeblich an einer "Digitalisierung" ihrer Personaldaten arbeiteten. Journalist Dmitri Kolesew würdigte die Frauen vom Roten Platz mit dem Hinweis, sie hätten sich klugerweise nicht gegen den Krieg als solchen gewandt, sie wüssten offenbar sehr genau, "was sie laut sagen" könnten: "Die russischen Behörden stehen hier vor einer schwierigen Entscheidung. Wird dem Ansinnen dieser Frauen stattgegeben, können auch andere die Rückkehr der Wehrpflichtigen verlangen. Wenn Sie nicht darauf reagieren, wird der Protest möglicherweise verzweifelter und politischer. Um der Forderung nach einer groß angelegten Personalrotation nachzukommen, müsste eine neue Mobilisierung durchgeführt werden, was vor der Präsidentschaftswahl äußerst unerwünscht ist."

Frauenproteste für den Kreml sogar "hilfreich"?

Im "Newsfeed" mit 140.000 Abonnenten heißt es mit etwas verwinkelter Argumentation, dem Kreml komme der Frauenprotest womöglich sogar gelegen, denn wenn der Druck zunehme, die Wehrpflichtigen auszutauschen, könne Putin "zum Schein" darauf eingehen und eine weitere Mobilisierung leichter durchsetzen: "Die Ehefrauen der Mobilisierten sollten nicht mit der Bitte, ihnen ihre Männer zurückzugeben, auf die Plätze strömen, sondern mit der Forderung, die Spezialoperation zu beenden. Nur eine solche Forderung kann von der Mehrheit der Bevölkerung, einschließlich der Ehefrauen und Mütter der noch nicht einberufenen oder mobilisierten Männer, unterstützt werden. Andernfalls werden die Ehefrauen dieser Männer, die im Falle einer neuen Mobilisierungswelle möglicherweise an die Front müssen, der Polizei sogar dabei helfen, die Proteste aufzulösen!"

Nur Rechtsextreme wie Igor Skurlatow verlangen in aller Deutlichkeit eine weitere Mobilisierung, um Russland wieder offensivfähig zu machen. Grund für Putins diesbezügliche Zurückhaltung sei vermutlich, dass der Kreml nicht riskieren wolle, aus der "Spezialoperation" ganz offiziell einen "Krieg" zu machen. Dabei würden in diesem Fall die "wahren Ziele Russlands" dem "einfachen Soldaten" viel verständlicher, so Skurlatow, nämlich die Annexion der gesamten Ukraine: "Unsere Truppen sind um ein Vielfaches kleiner als die des Feindes. Wie lässt sich dieses Problem lösen, damit wir unter den Bedingungen der ständigen allgemeinen Mobilisierung des Gegners zumindest in der Defensive überleben können, ganz zu schweigen von der Offensive? Die Antwort liegt auf der Hand."

"Jedes Ergebnis kann als Sieg ausgegeben werden"

Publizist Anatoli Nesmijan schrieb, der Protest sei ein "Einzelfall und noch kein Trend". Die Risiken für eine weitere Mobilisierung seien einfach zu groß für das Regime: "Wer übernimmt dafür die Verantwortung? Wer braucht das jetzt?" Allerdings verblüffte der Autor (110.000 Abonnenten) mit der Erkenntnis: "Wenn es kein gemeinsames Einverständnis mehr darüber gibt, was als Sieg gewertet werden kann, kann fast jedes Ergebnis jederzeit als Sieg ausgegeben werden." Nach einer Phase der ultrapatriotischen Erregung sei inzwischen Ernüchterung eingekehrt: "Die einzige Möglichkeit, die den Behörden bleibt, die Spezialoperation von der Tagesordnung zu nehmen und schnell zu verkünden, dass die Ziele erreicht wurden (wonach nur noch Kleinigkeiten erledigt werden müssen), besteht darin, eine neue Krise zu schaffen, die die vorherige in den Schatten stellt."

Grotesk, dass populäre Blogger sich damit trösten, Russlands Wirtschaft sei von jeher "auf Krieg eingestellt", weshalb das Land einen "langen Krieg" bestehen werde: "Wir stellen keine iPhones her, weil uns die entsprechenden Technologien und Komponenten fehlen, aber wir können Panzer und Raketen unabhängig von Sanktionen produzieren." Bis zum nächsten Sommer könne Russland 500.000 Soldaten mit allem Nötigen ausstatten: "Die einzige Bedrohung für Russland sind derzeit innere Unruhen."

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