Der russische Politologe am Mikrofon
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Sergej Markow

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Kremlfans entsetzt: "Putins Wachhund" wegen "Ironie" denunziert

Der Propagandist und "Politologe" Sergej Markow lässt keine Gelegenheit aus, Putin zu feiern. Trotzdem wurde er jetzt wegen "Diskreditierung der Armee" angezeigt. Beobachter fürchten, dass die gegenseitige Denunziation unkontrollierbar geworden ist.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Alle gebildeten Russen hielten ihn für einen der "klügsten Unterstützer des Präsidenten", so der denkbar unbescheidene Politologe Sergej Markow, und seine Gegner auf der ganzen Welt hätten ihn als "Putins Wachhund" bezeichnet. Trotzdem wurde der mediengewandte Kolumnist und Kreml-Lobredner jetzt von einem Einwohner aus der Großstadt Tscheljabinsk im Ural bei der Polizei angezeigt, und zwar wegen "Diskreditierung der Armee". Russische Journalisten erklären sich das damit, dass es Leute gebe, die Markows Texte für "ironisch" halten. Er verberge seine wahre politische Haltung hinter doppeldeutigen Bemerkungen. Vermutlich könnten Blogger demnächst überhaupt nur noch Katzenbilder posten, wenn sie keinen Ärger mit Putins Sicherheitsbehörden bekommen wollten, spottete daraufhin der Politikwissenschaftler Konstantin Kalaschew.

Humor werde anscheinend gefährlich, die Medien müssten sich damit abfinden, ausschließlich die "Weisheit der Mächtigen" zu bewundern. Es sei offenbar nicht länger möglich, wie einst der antike Fabeldichter Äsop in Gleichnissen zu sprechen. Ein Indiz dafür, dass die regimetreuen Wortführer allmählich an sich selbst irre werden: "Das Ausmaß der Verräterei im Land nähert sich stalinistischen Maßstäben, das Ausmaß der Unterdrückung ist noch nicht auf dem gleichen Niveau, aber das ist nur für den Moment so", heißt es im "Newsfeed" mit 140.000 Abonnenten sarkastisch.

"Grenze zwischen Freund und Feind verschwimmt"

Aufschlussreich ist, wie sich der redselige und eitle Markow selbst die kolportierte Anzeige erklärt. Entweder sei die Nachricht gefälscht, oder irgendjemand wolle sich wichtig machen, vielleicht stecke auch der ukrainische Geheimdienst dahinter. Er kann sich auch vorstellen, Opfer eines "kriminellen Clans" oder einer Intrige aus dem Westen geworden zu sein, weil sie dort die Politik Putins "ad absurdum" führen wollten. Die Polizei habe sich jedenfalls noch nicht bei ihm gemeldet. Allerdings sei ein "echter Verkehrspolizist" jederzeit in der Lage, bei jedem Autofahrer einen Verstoß gegen die Regeln festzustellen. Im Übrigen fühle sich einer der prominentesten und radikalsten russischen TV-Propagandisten, nämlich Wladimir Solowjow, aus irgendeinem Grund von ihm "beleidigt", so Markow in einem Interview. So oder so müsse jemand ein "fantastisches Hirn" haben, um bei ihm Kritik an der russischen Armee zu wittern.

Beobachter sprachen von einer undurchsichtigen "Tragikomödie": "Die Gesellschaft ist an einem Punkt angelangt, an dem die Grenze zwischen der Denunziation von Freunden und Feinden verschwimmt. Das war übrigens unvermeidlich – zuerst denunzieren sie ihre Feinde, dann fangen sie an, alle anzuprangern. Unser Land ist diesen Weg schon mal gegangen und hat leider keine Lehren daraus gezogen. Der Staat muss dem ein Ende setzen und alle Denunzianten öffentlich abwatschen. Andernfalls werden wir sehr bald in eine Situation geraten, in der die Denunziation des Nächsten der naheliegendste Weg zur Lösung von Problemen sein wird."

Das alles sei eine "schlimme Geschichte", die beweise, dass niemand mehr sicher sei, so ein Kommentator: "In unserer gegenwärtigen Lage ist alles möglich nach dem Motto, wenn es nur einen einzigen vertrauenswürdigen Menschen gäbe, machten sie auch dafür einen Paragrafen." Es müsse etwas gegen die Welle von Denunziationen unternommen werden, forderte ein weiterer Netzaktivist völlig ironiefrei, denn die Anzeige gegen Markow diskreditiere als solche den Paragrafen über "Diskreditierung der Armee". Ein Zirkelschluss, der den einen lächerlich, den anderen furchteinflößend vorkommen dürfte.

"Gott hat es so befohlen"

Politikwissenschaftler Albert Bibkow schwang sich zu einem absurden "philosophischen" Höhenflug auf, um sich und anderen den Vorgang um Markow zu erklären. Die Politologie sei eine spekulative Wissenschaft, also keineswegs so bodenständig und nachprüfbar wie die Naturwissenschaften: "Alles, was darin gesagt wird, ist nur eine Möglichkeit, was für die Polizei bedeutet, dass es nicht wahr ist. Das heißt automatisch, es ist falsch. Alles. Und wenn das stimmt, dann ist alles darin eine Diskreditierung, jede Aussage. Sagten Sie, Sie sind 'dagegen'? Diskreditierung! Haben Sie etwa zugestimmt? Wenn das übermäßig enthusiastisch war, dann war Ironie im Spiel und folglich schwang Diskreditierung mit. Haben Sie sich gegen jede Form von Diskreditierung ausgesprochen? Diskreditierung, Diskreditierung!"

Da helfe es nicht mal, den deutschen Klassiker Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770 - 1831) gelesen zu haben, dem Meister der "Negation der Negation": "Denn Hegel war ein Idealist, das heißt, er dachte spekulativ, das bedeutet, er liegt falsch und diskreditiert. Alles Politische wird diskreditiert. Das ist die Denkweise der russischen Polizei und das sind sehr tiefe Gedanken." Dazu passe der jüngste Vorstoß im russischen Parlament, die Esoterik zu verbieten, die in Russland viele Fans hat: "Wenn das für Politologen gilt, muss es natürlich auch Magier, Fakire und Schamanen treffen - Gott hat es so befohlen!"

"System fällt ins Koma"

Politologe Anatoli Nesmijan verwies darauf, dass sich in normalen Zeiten niemand in den Sicherheitsbehörden mit der Denunziation gegen Markow groß aufgehalten hätte. Sie wäre innerhalb von zwei Tagen stillschweigend zu den Akten gelegt worden. Inzwischen sei das innenpolitische Klima aber dermaßen vergiftet, dass selbst absurde Anschuldigungen umfassend bearbeitet würden - weil niemand in der Bürokratie Verantwortung übernehmen wolle: "Ein klassisches Problem einer Verwaltung, die in einem ungesunden und instabilen Umfeld arbeitet." Wenn das System sich derart "sinnlosen Aktivitäten" widme, sei sein Zusammenbruch absehbar: "Es fällt ins Koma."

Unterhaltsam ist ein Aufsatz des Politologen, in dem er sich fragt, warum die Russen so duldsam jede weitere Verschärfung der Zensur und Unterdrückung ertragen. Eine "Sklavenmentalität" hätten sie keineswegs. Das Land sei vielmehr mit einem Schnellkochtopf vergleichbar, aus dem kein Druck entweichen könne: "Je höher der Druck ist (auch soziale Spannungen genannt), desto dicker sollten die Wände des Topfs sein – sie sind gleichbedeutend mit dem Terror als Regierungsmethode."

"Je höher der Druck, desto dicker die Wände"

Allerdings sei so ein Zustand "endlich", wie die Gesetze der Thermodynamik zeigten: "Wenn wir das auf die Gesellschaft übertragen, können wir sagen, dass jeder Terror im Hinblick auf das Ausmaß und den Grad seines Einflusses auf die Gesellschaft beschränkt ist: Es wird eine Grenze erreicht, ab der er aufhört, weitere Angst und Schrecken zu erzeugen. Dann ist keine Führung, keine Einschränkung der Freiheit, keine Gewalt mehr in der Lage, den Zugriff auf die Gesellschaft zu erhöhen. Sie 'friert' in einem Ungleichgewichtszustand ein, ist jederzeit bereit zu 'explodieren' und wartet eigentlich nur auf eines – einen Stoß, der die Wände des Topfs zerreißt."

Nesmijan kommt zum Fazit, der Austausch von Personen werde Russland nicht weiterhelfen, nur die Gewaltenteilung: "Das Problem in Russland sind nicht die Menschen, sondern die widerlichen Verantwortlichen. Zu keiner anderen Art von Regierungsführung fähig, außer dem Terror." An der bevorstehenden "Explosion" des Schnellkochtopfs könne so oder so nichts mehr geändert werden, die russische Gesellschaft sei längst gleichbedeutend mit einer "überkritischen" Flüssigkeit, etwa Wasser jenseits von 374 Grad und einem Druck von mindestens 221 bar, wo nicht mehr unterscheidbar sei, ob es flüssig oder gasförmig ist.

Nonsens-Satire: "Patrioten müssen Feinde von Themen sein"

Der oben erwähnte Politologe Kalaschew zitierte aus Anlass der Denunziation von Sergej Markow den fiktiven russischen Satiriker Kosma Prutkow, hinter dem sich vier systemkritische prominente Autoren des 19. Jahrhunderts verbargen, etwa Alexej Tolstoi (nicht zu verwechseln mit seinem berühmteren Onkel Leo). Von Prutkow gibt es ein ironisches Nonsens-Werk "Über die "Einführung des einheitlichen Denkens in Russland" (1863). Darin ist zu lesen, dass Russland so groß sei, dass nur eine "einheitliche Sichtweise" in Frage komme. Prutkow schlug zur "verlässlichen Orientierung bei der Meinungsbildung" ein Journal vor, in dem die Mächtigen ihre Ansichten zu jedem Thema darlegen sollten: "Dieses Regierungsorgan wäre, wenn es von den Behörden ausreichend polizeilich und verwaltungstechnisch unterstützt würde, ein notwendiger und verlässlicher Leitstern, ein Leuchtturm, ein Meilenstein für die öffentliche Meinung. Die schädliche Neigung des menschlichen Geistes, alles zu diskutieren, was auf dem Erdkreis geschieht, würde eingedämmt und auf den ausschließlichen Dienst an den angegebenen Zielen und Charakteren ausgerichtet. Es gäbe eine vorherrschende Meinung zu allen Ereignissen und Themen."

Damit könne der Tendenz entgegengewirkt werden, überhaupt Fragen zu "Angelegenheiten des öffentlichen und staatlichen Lebens" zu stellen: "Denn wohin führen sie? Ein wahrer Patriot muss der Feind aller sogenannten 'Themen' sein!"

"Russland wird keine Bauernfamilie mehr"

Derweil werden die gesellschaftlichen Debatten in Russland immer grotesker. Jüngst verlangte eine bisher völlig unbekannte russische Senatorin aus dem Föderationsrat, der zweiten Parlamentskammer, Frauen sollten nicht länger studieren dürfen, damit sie mehr Kinder zur Welt brächten. Damit wollte die Politikerin den dramatischen Bevölkerungsrückgang in den Griff bekommen. Selbstverständlich bekam sie für diese absurde Forderung mächtig Gegenwind, aber allein die Tatsache, dass solche Ansichten überhaupt breiten Widerhall finden, spricht für sich: "Russland wird nicht zu einem bäuerlichen Gemeinwesen, einer großen Bauernfamilie oder einem ländlichen Modell der Bevölkerungsreproduktion zurückkehren. Das ist eine Utopie", schrieb etwa Blogger Andrej Medwedew mit 170.000 Fans. Er verwies darauf, dass die Senatorin Margarita Pawlowa selbst Soziologin sei.

Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, wollte Abtreibungen verbieten, um die Geburtenrate anzuheben. Bei den Ultrapatrioten im Parlament erhielt er dafür Beifall. Politikerinnen gaben dagegen zu bedenken, dass Abtreibungen dann wieder eine Frage des Geldes würden. Reiche Russinnen könnten jederzeit ins Ausland gehen.

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